Der Zeithistoriker Dirk Rupnow beschĂ€ftigte sich viele Jahre mit Erinnerungskulturen, Holocaust-Studien und Museologie. Er macht die Erfahrung, dass junge Menschen mit Mahnmalen wie dem „Denkmal fĂŒr die ermordeten Juden Europas“ in Berlin heute oft nichts mehr verbinden können. © Shutterstock.com

Anfang 2017 sorgte eine Kunstaktion des deutsch-israelischen Satirikers Shahak Shapira fĂŒr heftige Kontroversen in den sozialen Medien: Im Web kursierende Selfies von Besucherinnen und Besuchern, die das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Kulisse fĂŒr ihre Profilfotos verwendet hatten, kombinierte der KĂŒnstler mit historischem Bildmaterial aus Vernichtungslagern. In den Fotocollagen auf „Yolocaust“ jonglieren Touristen vor Skeletten oder hĂŒpfen auf Leichenbergen. Mit dieser Aktion wollte Shapira „die Menschen zum Nachdenken bringen, worum es bei dem Mahnmal geht“. Auch wenn Peter Eisenman, der Architekt der GedenkstĂ€tte, sein Werk als keinen heiligen Ort bezeichnet hat, wo „Menschen im Feld picknicken und Kinder fangen spielen werden“, so ist der Umgang mit dem Denkmal fĂŒr die ermordeten Juden Europas doch irritierend. „Das Projekt fand ich gut“, sagt der Zeithistoriker Dirk Rupnow, „die Leute verbinden mit Mahnmalen oft nichts mehr. FĂŒr Studierende in den Proseminaren heute ist der Holocaust so weit weg wie das Mittelalter. Sie haben wenig konkretes Wissen, aber gleichzeitig ein ÜbersĂ€ttigungsgefĂŒhl und glauben, schon alles zu wissen. Das ist ein Problem“, analysiert der Dekan der Philosophisch-Historischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Innsbruck.

Politische Irritationen

Der Historiker war 2017 gerade als Gastprofessor an der US-amerikanischen Stanford University, als PrĂ€sident Donald Trump inauguriert wurde und kurz danach mit zahlreichen Aussagen fĂŒr politische Irritationen sorgte – auch ĂŒber das Gedenken an die Opfer des Holocaust. So kĂŒndigte Trump am 27. JĂ€nner, genau jenem Tag, an dem weltweit der Opfer des Holocaust gedacht wird, seine restriktive Einreise- und FlĂŒchtlingspolitik an. Über die sechs Millionen ermordeten JĂŒdinnen und Juden verlor das Weiße Haus am gleichen Tag im Statement zum Holocaust Remembrance Day kein Wort. Wenige Monate spĂ€ter erregte er Aufsehen mit einem sehr kurzen Besuch der bedeutenden israelischen GedenkstĂ€tte Yad Vashem und einem unpassenden Eintrag in das Gedenkbuch. Er schrieb: It is a great honor to be here with all of my friends – so amazing + will never forget. „Das schreibt man, wenn man oben auf der Zugspitze steht und die Landschaft bewundert“, kommentierte Moshe Zimmermann, emeritierter Professor der HebrĂ€ischen UniversitĂ€t in Jerusalem, diesen Eintrag.

Erinnerungskultur zwischen Vergessen 


FĂŒr Dirk Rupnow sind diese Beispiele Anlass, sich mit aktuellen Entwicklungen in der Erinnerungskultur auseinander zu setzen. „Der Holocaust ist das einzige historische Ereignis, dessen Erinnerung nicht nur in einzelnen LĂ€ndern, sondern auf europĂ€ischer und globaler Ebene institutionell abgesichert ist“, sagt er. In den vergangenen zwanzig Jahren seien Standards definiert worden, wie dieses Gedenken aussehen muss und wie es jĂŒngeren Generationen vermittelt werden sollte. Damit verbunden sei auch der Versuch, diese Erinnerung inhaltlich einheitlich auszugestalten. Das Spannungsfeld, in dem sich die Erinnerungskultur befindet, sieht Rupnow darin, dass der Holocaust immer mehr in die Vergangenheit rĂŒcke, vom Heute isoliert und gleichzeitig politisch instrumentalisiert werde.

„Die Holocaust-Erinnerung dient aktuell dazu, erneut Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen.“ Dirk Rupnow


 und politischer Instrumentalisierung

„Die einen benutzen die Erinnerung an den Holocaust dazu, einen menschlicheren Umgang mit FlĂŒchtlingen einzuklagen, indem sie FlĂŒchtlingslager mit KZs vergleichen. Andere argumentieren – und das ist fatal –, dass es sich beim Großteil der FlĂŒchtlinge um Antisemiten handle, die man als Lehre aus dem Holocaust nicht nach Europa lassen dĂŒrfe – grad so, als ob es keinen einheimischen Antisemitismus mehr gĂ€be. Damit dient die Holocaust-Erinnerung dazu, erneut Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen. Das ist besorgniserregend“, sagt der Zeithistoriker.

Erinnern, um rechtzeitig Entwicklungen zu erkennen

Laut Rupnow hat das Erinnern die wichtige Aufgabe, bestimmte Strukturen, die es bereits in der Geschichte gab, rechtzeitig zu erkennen – das bedinge eine Verbindung zum Heute aber ohne direkte Vergleiche. „Historiker vergleichen nie in dem Sinne, dass etwas ident ist, sondern um ein VerstĂ€ndnis fĂŒr bestimmte Situationen zu bekommen, etwa in denen sich – wie heute – plötzlich Stimmungen drehen und AusschlĂŒsse aus der Gesellschaft begrĂŒndet werden“, erlĂ€utert der Wissenschaftler und nennt als aktuelles Beispiel den Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und weltweit.

Von Berlin 


Aufgewachsen in Berlin (West) studierte er zunĂ€chst in seiner Heimatstadt Geschichte, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Dass er sein Studium ein Jahr spĂ€ter begann als ursprĂŒnglich geplant, hatte einen historisch bedeutenden Hintergrund: 1989 fiel die Berliner Mauer. „Das Leben mit der Mauer war fĂŒr meine Generation NormalitĂ€t, wir wussten, dass wir nicht einfach schnell rausfahren konnten“, erinnert sich der heute 46-JĂ€hrige an das Leben davor. West-Berliner mussten auch keinen PrĂ€senzdienst leisten. Mit dem Mauerfall Ă€nderte sich das. So machte Rupnow plötzlich und unerwartet Zivildienst in einem Berliner Krankenhaus. „Ich war der Erste dort. Die wussten gar nicht, wie sie mich einsetzen sollten“, erzĂ€hlt er. Dass sich fĂŒr ihn damals auch die rege Ost-Berliner Theater- und Musikszene öffnete, schĂ€tzte er sehr.

An der UniversitĂ€t Innsbruck verlagerte sich der Forschungsfokus des Historikers Dirk Rupnow stĂ€rker in Richtung DiversitĂ€t und Migrationsforschung. 2015 grĂŒndete er das „Forschungszentrum Migration & Globalisierung“. © Privat


 nach Wien

Die Begeisterung fĂŒr Theater und Oper war ein wichtiger Grund, weshalb sich der junge Student bei der Wahl seines Erasmus-Jahres 1996 fĂŒr Wien entschied. „Am Abend traf man mich entweder im Burgtheater, im Musikverein oder in der Staatsoper“, lĂ€chelt er. Geplant war ein Jahr, geblieben ist er viele. Nach seiner Sponsion in Wien war Dirk Rupnow 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich. Auf die Promotion 2002 an der UniversitĂ€t Klagenfurt folgten unter anderem Gastaufenthalte an der Duke University in North Carolina, dem Simon-Dubnow-Institut fĂŒr jĂŒdische Geschichte und Kultur an der UniversitĂ€t Leipzig sowie dem Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museums in Washington, DC. 2009 habilitierte sich Rupnow in Wien und ging im selben Jahr an das Institut fĂŒr Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Innsbruck. „Letztlich waren es viele ZufĂ€lle, die meine Karriere ergeben haben“, resĂŒmiert er.

„Migration kam in der österreichischen Zeitgeschichte nicht vor.“ Dirk Rupnow

Migrationsforschung neu im Fokus

In Innsbruck verlagerte sich der Forschungsfokus des Historikers stĂ€rker in Richtung DiversitĂ€t und Migration. Er etablierte Migrationsgeschichte als neuen Forschungsschwerpunkt am dortigen Institut fĂŒr Zeitgeschichte und grĂŒndete 2015 das „Forschungszentrum Migration & Globalisierung“, das eine fĂ€cher- und FakultĂ€ten ĂŒbergreifende Arbeitsgruppe von Kolleginnen und Kollegen bĂŒndelt, die sich an der UniversitĂ€t Innsbruck aus verschiedenen Blickwinkeln wie der EuropĂ€ischen Ethnologie, der Politologie, der Architektur, der Philosophie und der PĂ€dagogik mit dem Thema Migration beschĂ€ftigen.

„Sichtbarkeit in der Geschichte ist die Grundlage fĂŒr gesellschaftliche Akzeptanz.“ Dirk Rupnow

Migrationsgesellschaft Österreich

Vor einem Jahr schloss Dirk Rupnow das vom FWF finanzierte Projekt „Deprovincializing Contemporary Austrian History. Migration and the transnational challenges to national historiographies” ab. „Migration kam als Bestandteil der österreichischen Republikgeschichte praktisch nicht vor”, nennt der Historiker den Ausgangspunkt dieses Projektes, aber „Sichtbarkeit in der Geschichte ist eine wichtige Grundlage fĂŒr gesellschaftliche Akzeptanz“. Diese Arbeit fokussierte auf die sogenannte Gastarbeitermigration der 1960er und 1970er Jahre, eine Zeit, die Rupnow als „Turning-Point“ der österreichischen Geschichte bezeichnet – wurde Österreich damals statistisch doch zu einem Einwanderungsland.

MĂŒhsame Suche nach Quellen

Wichtig war Dirk Rupnow dabei ein transnationaler Blick, der ĂŒber Österreich hinausgeht. In mĂŒhsamer Kleinarbeit ging er mit seinem sechsköpfigen Team auf die Suche nach Quellen. Eine Suche, die sich auch in Österreich als sehr schwierig herausstellte. Wenig Material war erhalten: „Man ist davon ausgegangen, dass die Gastarbeiter das Land wieder verlassen werden und sah oft gar keine Notwendigkeit, Akten aufzuheben“, erklĂ€rt sich Rupnow diesen Befund. In den HerkunftslĂ€ndern – vor allem Ex-Jugoslawien und der TĂŒrkei – haben die Forscherinnen und Forscher versucht, Akten zu finden, die die Interessen und Perspektiven der EntsendelĂ€nder im Rahmen der Anwerbeabkommen und der Anwerbung sichtbar machen. Auch dort war vieles verschwunden oder wurde zerstört. „Die Suche nach Quellen ist hoch kompliziert. Manchmal hat man GlĂŒck, manchmal nicht“, erzĂ€hlt er.

Im Fokus der Ausstellung „Hier Zuhause“, stehen ErzĂ€hlungen jener Menschen, die als „Gastarbeiter“ in den 1960er- und 1970er- Jahren nach Tirol gekommen sind. © Screenshot: ZeMiT

Migrationsarchiv als kollektives GedÀchtnis

Aus diesem FWF-Projekt entwickelte sich fĂŒr die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Forderung nach einem „Archiv der Migration“ als Grundlage fĂŒr ein verĂ€ndertes kollektives GedĂ€chtnis. Mittlerweile gibt es in vielen BundeslĂ€ndern Einrichtungen, die Materialien und Dokumente zur Migrationsgeschichte archivieren. Ein gutes Beispiel ist Tirol, wo die UniversitĂ€t Innsbruck gemeinsam mit regionalen Partnern wie dem „Zentrum fĂŒr MigrantInnen in Tirol“ und dem Landesmuseum ein Dokumentationsarchiv aufbaut, dessen Sammlungen öffentlich zugĂ€nglich sind. „Das FWF-Projekt hat eine gute Plattform geboten, Bewusstsein fĂŒr die Notwendigkeit eines solchen Archives zu schaffen“, resĂŒmiert Rupnow. Die Ergebnisse flossen auch in unterschiedlichste Vermittlungsprojekte ein, etwa in eine Ausstellung im Volkskunstmuseum Tirol („Hier zuhause“ 2017) oder in die Ausstellung „Geteilte Geschichte. Viyana – Beč – Wien“, die bis Februar 2018 im Wien Museum gelaufen ist.

Migration und DiversitĂ€t bleiben große Themen

Das abgeschlossene Grundlagenprojekt mit dem Fokus auf die Gastarbeitermigration sieht Rupnow nur als Anfang: „Wie sich die österreichische Gesellschaft durch Migration verĂ€ndert, bleibt fĂŒr die Zeitgeschichte in den nĂ€chsten Jahren ein riesiges Thema: Wie prĂ€gt und verĂ€ndert Migration die Gesellschaft? Wie Ă€ndert sich der Blick auf die Vergangenheit, die weiter zurĂŒckliegt, wie zum Beispiel NS-Zeit und Holocaust, durch DiversitĂ€t in der Gesellschaft? Und wie interpretieren wir diese Geschichten vor dem Hintergrund unserer heutigen Erfahrungen? Das sind die großen Themen der nĂ€chsten Jahre.“

„Wir lassen uns von der Politik nicht vereinnahmen.“ Dirk Rupnow

Positionierung gegen den Mainstream

Sieht er sich als Wissenschaftler in beratender Funktion der Politik gegenĂŒber? „Wir sind froh, wenn unsere Expertise nachgefragt wird. Aber fĂŒr uns ist immer ganz zentral, dass wir uns nicht vereinnahmen lassen. Im Sinne einer kritischen Migrationsforschung sehen wir es als unsere Aufgabe, auch unbequemen Positionen eine Öffentlichkeit zu verschaffen und uns gegen den Mainstream zu positionieren“, erlĂ€utert Rupnow. Gleichzeitig sieht er sich auch der Erwartungshaltung gegenĂŒber, als Wissenschaftler gesellschaftliche Probleme zu lösen. Dieses komplexe und schwer zu navigierende Feld hat den Forscher schon immer beschĂ€ftigt, gerade auch weil er an Themen arbeitet, die öffentlich hoch relevant sind. „Wir fĂŒhren am Institut in Innsbruck zum Beispiel auch viele regionale Projekte zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch, gerade etwa zu Zwangssterilisationen in der NS-Zeit, oder aber auch zu kritischen Aspekten der Nachkriegsgeschichte, etwa der Heimerziehung, die teilweise politisch gewollt und kommissionell abgewickelt werden.“ Die Frage, wie man sich in diesen Kontexten positioniere – auch im Zusammenhang mit Fördergeldern – sei fĂŒr ihn als Wissenschaftler immer prĂ€sent.

Abwertung von Wissenschaft

Was die Rolle der Wissenschaft anbelangt, verfolgt Rupnow aktuelle Entwicklungen mit großer Besorgnis. „Die Abwertung von Wissenschaft und das Aufwerten von GerĂŒchten als „stichhaltig“, die gleichzeitige Etablierung von „alternativen Wahrheiten“ sowie das Eliten- und Wissenschaftsbashing von Trump –  das kennen wir auch aus Europa. Da ist im Moment einiges in Bewegung, und wir alle im Wissenschaftsbetrieb sollten wachsam sein“, warnt der Forscher.

Zur Person

Der Historiker Dirk Rupnow ist seit MĂ€rz 2018 Dekan der Philosophisch-Historischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Innsbruck. Davor war er ab 2010 Leiter des Instituts fĂŒr Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Innsbruck sowie GrĂŒnder und Leiter des Forschungszentrums „Migration & Globalisierung“ und des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die europĂ€ische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Holocaust- und JĂŒdische Studien, Wissenschafts- und Migrationsgeschichte, Erinnerungskulturen, Museologie und Geschichtspolitik. Der gebĂŒrtige Berliner studierte Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und Wien. Er arbeitete fĂŒr die Historikerkommission der Republik Österreich und absolvierte zahlreiche Forschungsaufenthalte unter anderem an der Duke University in North Carolina, dem Simon-Dubnow-Institut fĂŒr jĂŒdische Geschichte und Kultur an der UniversitĂ€t Leipzig sowie dem Center for Advanced Holocaust Studies in Washington. 2017 war Rupnow "Distinguished Visiting Austrian Chair Professor" an der Stanford University.