ERC-Präsidentin Maria Leptin
ERC-Präsidentin Maria Leptin setzt sich für unabhängige Spitzenforschung in Europa ein. © EU

Frau Leptin, was beschäftigt Sie aktuell am meisten als Leiterin des Europäischen Forschungsrats?

Es gibt zwei große Bereiche, mit denen ich mich laufend beschäftige. Erstens geht es darum, gemeinsam mit dem Wissenschaftlichen Rat die Förderprozesse und -mechanismen laufend zu optimieren, um die besten Wissenschaftler:innen zu fördern und so letztendlich unsere Ziele zu erreichen. Die zweite große Aufgabe besteht darin, den ERC in eine gute Zukunft zu führen, dafür zu sorgen, dass er stabil bleibt. Besonders jetzt ist das wichtig, wo die Kommission am nächsten Rahmenprogramm und EU-Budget für 2028 bis 2035 arbeitet.

Vorerst gibt es positive Signale. Die Europäische Kommission will das Budget für Forschung von rund 96 Milliarden Euro auf 175 Milliarden Euro ab 2028 verdoppeln. Sehen Sie den ERC als Säule der exzellenten Wissenschaft damit gut aufgestellt?

Dass die Kommission auf den Rat von Draghi und Letta, den sie ja aktiv eingeholt hat, so klar reagierte, ist Grund zum Feiern. Gleichzeitig ist es bisher nur ein Vorschlag und es kann noch vieles passieren, denn die Mitgliedstaaten und das Parlament müssen sich damit einverstanden erklären. Es gibt natürlich auch andere Bedarfe in Europa, die bedient werden müssen. Daher ist ausruhen nicht angesagt. Es muss weiterhin klargemacht werden, dass das Geld wirklich kommen muss.

Haben Sie diesbezüglich Bedenken?

Wie alle Programme der EU-Kommission stirbt der ERC erst mal am Ende jeder Legislaturperiode und muss neu beschlossen werden. Es gibt derzeit keine echte Sorge, dass es den ERC nicht mehr geben soll, aber die Frage nach dem Fortbestehen in seiner jetzigen Funktion hängt in der Luft. Wir sehen in anderen Ländern, wie schnell sich das ändern kann. Wir sind daher der Meinung, der ERC sollte eine permanente Struktur erhalten, um den Erfolg weiterzuführen.

Wir sehen schon seit einigen Jahren Veränderungen, indem Prozesse stärker zentralisiert und mehr Vorgaben gemacht werden, die die Eigenständigkeit des Forschungsrats einschränken. Das erfordert stärkere Verhandlungen im Vergleich zu früher. Obwohl die Auswahlstrategie des ERC nicht infrage gestellt wird – eine Strategie kann nur dann funktionieren, wenn auch die Regeln für die Implementation in der Hand des Wissenschaftlichen Rats liegen.

Die renommierte deutsche Biologin und Immunologin Maria Leptin ist seit 2021 Präsidentin des Europäischen Forschungsrates ERC. Davor leitete sie als erste Frau die European Molecular Biology Organization (EMBO).

Sie sprechen die Diskussionen rund um den neuen Wettbewerbsfonds der EU-Kommission an, in denen Bedenken über Umstrukturierungen und mehr Top-down-Förderungen geäußert wurden. Was würde das konkret bedeuten?

Es ist eben noch nicht klar, was genau kommen wird, das gibt schon Anlass zur Sorge. Wir müssen klarmachen, dass die Unabhängigkeit des ERC und seine Tätigkeit im Dienst der Wissenschaft und Forschenden ein Teil des Erfolgs der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist.

Angenommen, die EU-Mitglieder stimmen dem Budgetvorschlag zu. Was möchten Sie verbessern und umsetzen?

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren viel im Bereich der Förderabwicklung weitergebracht. Da sind wir gut aufgestellt. Was seit fast 20 Jahren nicht gemacht wurde, ist, die Fördersummen an die Inflation anzupassen. Das alleine würde die Hälfte des zusätzlichen Budgets verschlingen. Darüber hinaus gibt es das alte Problem, dass wir zu viele gute Anträge nicht fördern können. Auch das sollte sich ändern, die Frage ist wie.

Wir müssen für neue Ideen offen sein, wie zum Beispiel jene von Draghi, die Institutionen stärker zu fördern. Wir sind da zwar etwas vorsichtig, aber Förderprogramme, wie sie Frankreich, Dänemark oder Deutschland haben, um „Focal Points of Excellence“ zu bilden, darüber kann man nachdenken. Doch dafür braucht es extra Geld, das kann nicht aus der Einzelförderung genommen werden. Denn es soll ja einen Impact für Europa haben.

In den USA werden öffentliche Budgets für Forschung massiv gekürzt, die Freiheit der Wissenschaft wird untergraben und Forschende werden als elitär bezeichnet. Die Europäische Union hat nun Geld bereitgestellt, um Anreize für Wissenschaftler:innen zu setzen. Für wie realistisch halten Sie es, dass US-Topforschende nach Europa kommen?

Wir haben in Absprache mit der Kommission Ideen entwickelt, wie wir Europa im Wettbewerb um Talente noch attraktiver machen können. Dazu zählt die ERC-Plus-Förderrunde, für die die Kommission im Rahmen ihrer „Choose Europe“-Initiative extra Gelder zur Verfügung stellt. Im Frühjahr 2026 startet die Ausschreibung für Fördersummen von bis zu 7 Millionen Euro für bis zu 7 Jahre pro Projekt. Die Fördermittel stehen Forschenden aller Karrierestufen und Fachrichtungen offen. Wir sind uns einig, Europa muss attraktiv sein für alle, die hierherkommen, und alle, die hier bleiben wollen. Dennoch muss man auch sagen, dass die ERC Plus Grants im Vergleich zum gesamten Förderprogramm einen kleinen Anteil ausmachen.

Wie wird sich international die Scientific Community verändern, wenn Spitzenleute in den USA ihre Jobs verlieren?

In der Top-US-Wissenschaftsszene gab es bis heute gute Gehälter und hervorragende private Investoren. Sein Labor mit bester Infrastruktur hinter sich zu lassen, macht man nur, wenn man weiß, das gibt es woanders auch oder es wird aufgebaut. Das müssen allerdings die Länder und Institutionen selbst leisten, wenn sie Forscher:innen anwerben wollen. Wien ist ein hervorragendes Beispiel für erfolgreiche nationale und lokale Forschungsförderung. Als ich noch meine Doktorarbeit (Anm.: in Biologie) gemacht habe, da gab es dort gute Kolleg:innen, aber jetzt ist Wien ein Leuchtturm auf meinem Gebiet der Life-Sciences. Ich war gerade auch im Baltikum, wo die Politik die Etablierung moderner Grundlagenforschung massiv unterstützt. Wir sehen, dass dort nun viele ERC Grants eingeworben werden. Da horchen auch ausgewanderte Wissenschaftler:innen auf und überlegen sich, zurückzukommen.

Gibt es den Willen in Europa, jetzt die Weichen zu stellen und die Chancen zu ergreifen?

In dem Zusammenhang muss man sich fragen, warum wir erst diese besorgniserregende Situation in den USA brauchen, um bei uns darüber nachzudenken, wie wir als Europa attraktiv sein können. Warum haben wir uns das nicht schon viel früher überlegt? Ich würde sagen, weil es an dem Willen fehlt, Exzellenz zu fördern, und die entsprechenden Strukturen dafür nicht aufgebaut wurden. Es gibt hervorragende Gruppenleiter:innen mit ERC Grants, die nach Europa zurückkehren, die aber nicht wissen, was passiert, wenn ihr Grant ausläuft.

Laut einer aktuellen Umfrage des FWF unter österreichischen Forschenden empfinden 82 Prozent der Postdocs ihre Karriereperspektiven als zu unsicher. Wie beurteilen Sie die Bedingungen für Forschende in Europa?

Ich kenne diese Klagen und sie sind sicherlich berechtigt. Doch wenn wir in Europa kompetitiver sein wollen, dann müssen wir viel mehr Engagement zeigen. Was oft vergessen wird, wenn man etwa die USA als Vorbild im Wettbewerb sieht, sind die Arbeitsbedingungen dort: 60-Stunden-Wochen, wesentlich weniger Urlaub und keine Sicherheiten.

„Wir müssen uns fragen, warum wir diese besorgniserregende Situation in den USA brauchen, um darüber nachzudenken, wie wir als Europa attraktiv sein können.“ Maria Leptin

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Menschen, auch angesichts der vielen Krisenherde auf der Welt, sagen, Milliardenbeträge für Weltraumforschung oder Quantenphysik wären woanders besser eingesetzt?

Die Methoden für die Krisen, die wir heute zu bewältigen haben, beruhen auf Erkenntnissen, die vor 20 bis 30 Jahren mit solchen Fördermitteln gefördert wurden. Wenn heute jemand an etwas forscht, wo offen ist, was dabei rauskommt, kann es gut sein, dass die Ergebnisse für andere, spätere Krisen wichtig sein werden. Wir können also nicht warten. In die Entwicklung der Covid-Impfstoffe zum Beispiel sind Erkenntnisse der vergangenen 30 Jahre geflossen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Fördergelder Arbeitsplätze finanzieren für die Ausbildung von jungen Talenten, die uns helfen werden, zukünftige Krisen zu bewältigen.

Sie selbst forschen seit vielen Jahren erfolgreich in der Biomedizin – viel belegtes Wissen, zum Beispiel aus der Klimaforschung, wird dennoch von der Politik ausgeblendet oder kontrovers diskutiert. Sollten Wissenschaftler:innen deutlicher Stellung beziehen?

Gerade in den beiden Bereichen Gesundheits- und Klimapolitik können Wissenschaftler:innen nicht sehr viel mehr machen, als sie sowieso schon tun. Wir sehen es jetzt in den USA, wo es heißt, mRNA-Impfstoffe seien gefährlich und es solle wieder „whole- cell vaccination“ eingeführt werden, weil es effektiver sei. Doch es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass Impfstoffe aus ganzen Zellen viel mehr Nebeneffekte haben.

Aufklärung muss daher auf einer anderen Ebene erfolgen, mit Erklären alleine ist es nicht getan. Da gibt es viele gute Initiativen für Public Engagement. Auch der ERC hat einen Preis dafür. Wenn Bürger:innen sehen, wie Wissenschaft gemacht wird, oder sie in die Projekte eingebunden werden, dann schafft das Vertrauen und Verständnis. Das muss auf einer persönlichen Ebene geschehen, ohne elitären Anspruch.

Europäischer Forschungsrat

Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) wurde 2007 von der Europäischen Kommission gegründet, um Pionierforschung in Europa zu fördern. Er ist Teil des EU-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation „Horizon Europe“.

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Technology Talks Austria, 11.–12. September 2025

Bei Österreichs wichtigster Technologiekonferenz diskutieren international renommierte Expert:innen in Wien über die zentrale Bedeutung von Forschung, Technologie und Innovation für die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs und Europas. Der Wissenschaftsfonds FWF rückt im Workshop „Wie wir Exzellenz in die Forschung holen“ den weltweiten Wettbewerb um exzellente Köpfe in den Vordergrund. ERC-Präsidentin Maria Leptin und weitere Expert:innen erörtern, was es braucht, um für Spitzenforschende attraktiv zu bleiben. In dem Workshop werden auch die wichtigsten Ergebnisse einer aktuellen FWF-Umfrage unter österreichischen Forschenden diskutiert.