Zwei Mädchen, eines mit Down-Syndrom, umarmen und freuen sich am Sportplatz
Menschen mit Beeinträchtigungen sind nicht automatisch krank. Sie benötigen ein unterstützendes Umfeld, um ihre Fähigkeiten zu entfalten. © unsplash+

Psychische Gesundheit ist ein entscheidender Baustein für das Wohlbefinden aller Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert den – im Englischen etwas breiter gefassten – Begriff Mental Health als einen „Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann“.

Doch was ist mit Menschen, die Schwierigkeiten mit den „normalen Lebensbelastungen“ haben oder die wegen starker intellektueller Einschränkungen nicht im herkömmlichen Sinne „produktiv arbeiten“ können? Ist eine Person, die Schwierigkeiten mit unserem Konzept von Zeit hat oder die nicht alleine für sich selbst sorgen kann, automatisch psychisch krank?

Ein Versäumnis in Theorie und Praxis

„Die WHO- und andere gängige Mental-Health-Definitionen sind so formuliert, dass Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (IB) von Haus aus nicht als psychisch gesund gelten können“, kritisiert die Wiener Psychologin Elisabeth Zeilinger.

Diese Schlussfolgerung ist nicht nur falsch – denn wie alle Menschen können auch Personen mit IB psychisch gesund oder psychisch krank sein. Die Konzeptlosigkeit führt auch zu einer systematischen Benachteiligung. „Wie sollen wir hochwertige und angemessene Strategien zur Förderung der psychischen Gesundheit oder zur Prävention von psychischen Erkrankungen für diese Zielgruppe entwickeln, wenn wir nicht einmal wissen, was psychische Gesundheit für sie bedeutet?“

Die fehlenden Konzepte waren der Ansporn für das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Forschungsprojekt „Psychische Gesundheit von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen“, in dem Zeilinger die Grundlagen einer Neudefinition für die genannte Zielgruppe erarbeiten will.

Was bedeutet IB?

Als „intellektuell beeinträchtigt“ gelten Personen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) unter 70 meist von Geburt an, beziehungsweise vor dem Erwachsenenalter. Der IQ ist aber nur ein Kriterium. Hinzu kommen starke Einschränkungen bei Alltagsfähigkeiten: Die Betroffenen tun sich zum Beispiel schwerer beim Kommunizieren oder können nicht ausreichend für sich selbst sorgen, zum Beispiel Haushaltsaufgaben wie Waschen, Putzen oder Einkäufe selbst erledigen.

Oft werde das bekannte Down-Syndrom als Beispiel für intellektuelle Beeinträchtigung genannt – doch im Gegensatz zum Down-Syndrom, einer Chromosomenstörung, sind die Gründe für die Entstehung der IB in den meisten Fällen nicht bekannt.

Ein inklusives Multi-Methoden-Projekt

Die Neudefinition soll nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch inklusiv sein: passgenau für Menschen mit IB. Deshalb war der Forscherin wichtig, von Anfang an Betroffene in das Grundlagenprojekt einzubinden. Vier Personen mit intellektuellen Einschränkungen waren und sind als Co-Forschende an jedem Schritt beteiligt, vom Erarbeiten der Fragebögen und Materialien für die Fokusgruppen über die Diskussionsrunden bis hin zur Datenauswertung oder Einschätzung der abschließenden Ergebnisse. 

„Für uns ist akademisches Wissen gleichbedeutend mit der Lebenserfahrung der Betroffenen“, betont Zeilinger. „Nur wenn wir ihre Sicht der Dinge kennen, können wir sicherstellen, dass unsere Definition auch wirklich ihre Bedürfnisse und Perspektiven widerspiegelt.“

Workshop mit mehreren Teilnehmenden, darunter Menschen mit Beeinträchtigung
Was braucht es, damit sich Menschen, die sich im Alltag nicht leicht zurechtfinden, integriert und psychisch gesund fühlen? Die Antworten erarbeiten Betroffene gemeinsam mit Wissenschaftler:innen in einem inklusiven Projekt. © Zeilinger Lab/Uni Wien

Partizipation als methodische Herausforderung

Methodisch war das durchaus eine Herausforderung. „Um für alle verständlich zu sein, mussten wir gemeinsam mit unseren Berater:innen kreativ werden – und erst einmal das passende Material entwickeln“, erklärt Zeilinger. Zum Einsatz kamen ein universelles Design, Texte in Einfacher Sprache und gut verständliche Bilder.

Um jene Themenfelder herauszufiltern, die als besonders wichtig für die psychische Gesundheit der Zielgruppe eingestuft werden – zum Beispiel Wohnen, Arbeit, eine angemessene Unterstützung oder Mobilität –, gestaltete das Team große, bebilderte Puzzleteile, die in den Diskussionsrunden physisch bewegt und gruppiert werden konnten. Für die Bewertung entstand eine einfache Bewertungsskala mit grünen Häkchen, roten Kreuzen und einer Skala mit Sternen. Da das Interesse an partizipativen Ansätzen international groß ist, wird diese methodische Arbeit in einer eigenen Publikation detailliert dargestellt.

Konsensfindung mit Delphi-Studie

Delphi-Studien sind ein effektives Werkzeug, um über ein Thema, zu dem die Forschungslage noch beschränkt ist, zu einem gemeinsamen Verständnis und Konsens unter Expert:innen zu gelangen. Der Prozess umfasst mehrere Stufen. Im ersten Schritt wird das individuelle Wissen der Expert:innen gesammelt, wobei alle Perspektiven gleichberechtigt aufgenommen werden. Die gesammelten Punkte werden danach in mehreren Runden von den Teilnehmenden gewichtet.

In Zeilingers Projekt wirkten an der ersten Runde 37 Expert:innen für psychische Gesundheit mit – Mental-Health-Professionals und professionelle Betreuer:innen – sowie 23 „Expert:innen in eigener Sache“, also Personen mit IB. „Soweit mir bekannt ist, war das die erste Delphi-Studie, bei der für Expert:innen mit und ohne IB derselbe Fragebogen verwendet wurde“, freut sich die Expertin.

Was den Betroffenen wichtig ist 

Die Delphi-Studie zeigte graduelle Unterschiede bei der Einschätzung der Expert:innengruppen: Fachleute ohne IB würden eher dazu neigen, sich auf Defizite und die verschiedenen Unterstützungsbedarfe zu fokussieren. Für Menschen mit IB hingegen sind – „sehr differenziert in ihrer Wahrnehmung“ – vor allem die Entwicklung eigener Fähigkeiten und Kompetenzen in einem unterstützenden Umfeld besonders wichtig für ihre psychische Gesundheit. Dazu gehören grundlegende Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen, soziale Kompetenzen („gutes Reagieren in sozialen Situationen“) oder auch Mobilität („allein Bus fahren können“).

„Menschen mit IB wünschen sich durchaus Unterstützung – aber ohne Bevormundung“, betont die Forscherin. Ebenfalls wichtig sind: eine gute Wohnumgebung, in der es möglich ist, „auch einmal alleine zu sein“, oder körperliche Gesundheit: „Wenn mein Körper nicht gut ist, geht es mir auch nicht gut.“

In vielen Punkten, so Zeilinger, sei die WHO-Definition anwendbar. Von den Expert:innen mit IB wurden Punkte wie „produktiv arbeiten“ oder „einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten“ allerdings kaum genannt. Vermutlich ist das sozial geprägt: Da viele Menschen mit IB ohne Lohn in geschützten Werkstätten arbeiten, hätten sie gar nicht verankert, dass sie das überhaupt könnten.

Ein Beitrag zu Gesundheitsgerechtigkeit

Die bisherigen Ergebnisse sind die konzeptionellen Vorarbeiten für eine Definition, die, so wünscht sich Zeilinger, international gültig sein und zu mehr Gesundheitsgerechtigkeit beitragen soll. „Health-Equity bedeutet, die Gesundheitsförderung und -versorgung an die Bedürfnisse von Menschen mit IB anzupassen.“ Das wäre übrigens auch im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die gleiche Gesundheitsstandards für alle fordert. Und die Österreich erst sehr mangelhaft umsetzt. 

Das Projekt

Die gängigen Definitionen von psychischer Gesundheit sind so formuliert, dass Menschen mit einem IQ unter 70 und Einschränkungen in Alltagsfähigkeiten nicht als psychisch gesund gelten können. Diesen gravierenden Mangel in der Theoriebildung will die Psychologin und Wissenschaftlerin Elisabeth Zeilinger beheben. Gemeinsam mit Betroffenen arbeitet sie an den Grundlagen für eine passgenaue, inklusive Definition von Mental Health für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.