Junge an Krebs erkrankte Frau sitzt auf einem Bett und erhÀlt eine Infusion
Rund die HĂ€lfte aller Krebserkrankten ist von starkem Gewichtsverlust betroffen. Eine zufĂ€llige Beobachtung einer österreichischen Forschungsgruppe fĂŒhrte zu einem EntzĂŒndungsmarker im Immunsystem als möglichem Auslöser fĂŒr das bisher ungelöste Problem. © unsplash+

Der extreme Verlust von Körpergewicht ist bei vielen Krebspatient:innen weit mehr als eine Begleiterscheinung der Therapie. In rund der HĂ€lfte aller KrebsfĂ€lle liegt eine eigenstĂ€ndige Erkrankung vor: die Kachexie. Dabei baut der Körper Fett-, Muskel- und Funktionsgewebe ab – und zwar so massiv, dass jede:r fĂŒnfte Betroffene daran verstirbt. Eine gezielte Therapie gegen Kachexie gibt es bislang nicht. Prominente Beispiele, bei denen der drastische Gewichtsverlust im Zuge ihrer Krebserkrankungen sichtbar wurde, sind Patrick Swayze oder Steve Jobs.

„Kachexie wurde lange Zeit als Bystander der Krebserkrankung betrachtet, dabei ist sie eine eigenstĂ€ndige Erkrankung“, erklĂ€rt Martina Schweiger, Professorin fĂŒr Biochemie und Molekularbiologie an der UniversitĂ€t Graz. „Man kann Kachexie nicht mit Kalorienzufuhr entgegenwirken. Selbst wenn man solche Patient:innen mit einer Infusion zwangsernĂ€hrt, sendet der Tumor Signale aus, die dem Körper vermitteln, er wĂŒrde nicht genug zu essen bekommen und mĂŒsse seine Reserven abbauen.“

Schweiger untersucht die molekularen Trigger der sogenannten kachexigenen Tumoren in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt. „Wir haben uns auf die Suche nach den ursĂ€chlichen Signalen gemacht“, sagt Schweiger. „Wir wollten wissen: Was unterscheidet Tumoren, die Kachexie auslösen, von jenen, die das nicht tun?“ Die gewonnenen Erkenntnisse trugen zur Entwicklung eines Wirkstoffs bei, der in Tierversuchen den Gewichtsverlust erfolgreich stoppen konnte. Aktuell laufen grĂ¶ĂŸere klinische Studien in den USA.

Kachexie bei Tumorerkrankungen

Kachexie ist eine eigenstĂ€ndige Erkrankung, bei der sowohl Fettgewebe als auch Muskelmasse trotz Kalorienzufuhr stark abgebaut wird. Der starke Gewichtsverlust kommt hĂ€ufig bei fortgeschrittenen Krebsarten vor. Wobei vor allem BauchspeicheldrĂŒsen- und Magentumore zu besonders ausgeprĂ€gter Kachexie fĂŒhren.

Die Spur fĂŒhrt zu IL-6

Welche Tumoren auf welche Weise Kachexie auslösen, ist bislang nicht geklĂ€rt. „Tumoren, die die Signale fĂŒr Kachexie aussenden, wachsen in der Regel nicht schneller. Das heißt, sie haben keinen Vorteil davon, sondern es geschieht eher zufĂ€llig“, erklĂ€rt Schweiger. HĂ€ufig handelt es sich um kleine Tumoren aus sekretorischen Geweben wie der BauchspeicheldrĂŒse.

Im Verlauf des Forschungsprojekts machte Schweigers Team zufĂ€llig eine entscheidende Beobachtung: Eine Krebszelllinie, die ursprĂŒnglich keine Kachexie bei MĂ€usen auslöste, hatte sich durch normale MutationsvorgĂ€nge zu einer Zellart entwickelt, die plötzlich den krankhaften Gewichtsverlust verursachte.

Serendipity – der glĂŒckliche Zufall

„Das war fĂŒr uns ein GlĂŒcksfall“, sagt Schweiger. „Denn so konnten wir zwei Zelllinien vergleichen, die sich in ihrer FĂ€higkeit, Kachexie auszulösen, unterscheiden.“ Beim Vergleich dieser Zelllinien entdeckten die Forschenden SignalmolekĂŒle, die ausschließlich von jenen Zellen produziert werden, die Kachexie verursachen. Darunter befand sich das Zytokin Interleukin-6 (IL-6), ein Signalstoff des Immunsystems. IL-6 bildet zusammen mit einem Rezeptor im Blut einen Komplex, der an verschiedenen Körperzellen andockt und den Abbau von beispielsweise Muskelgewebe auslöst. „Nach der Entfernung von IL-6 aus den Krebszellen und auch aus dem Blutkreislauf induzierten die zuvor kachexigenen Tumoren keine Kachexie mehr“, berichtet Schweiger.

Diese Ergebnisse veröffentlichte die Gruppe in der Fachzeitschrift Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle und stellte ihr Zellmodell der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur VerfĂŒgung. Welche molekularen VorgĂ€nge genau verantwortlich sind, will Schweiger in Folgeprojekten im Detail untersuchen – doch schon jetzt sind die Ergebnisse wegweisend fĂŒr therapeutische AnsĂ€tze.

Ein HoffnungstrÀger?

„Im Rahmen des Projekts und in Zusammenarbeit mit einem Partner aus China haben wir R-Ketorolac als potenzielle Behandlungsoption fĂŒr Kachexie identifiziert“, sagt Schweiger. Dabei handelt es sich um das R-Enantiomer, also die chemisch gespiegelte Variante, von S-Ketorolac. S-Ketorolac ist ein Schmerzmittel, das normalerweise nach Operationen eingesetzt wird, in dieser Form jedoch nicht gegen Kachexie hilft.

In Experimenten erhöhte das Medikament die Zahl der T-Lymphozyten und senkte den IL-6-Spiegel im Blut. Der Effekt: Der Gewichtsverlust verlangsamte sich und die Überlebensrate der MĂ€use stieg selbst unter Chemotherapiebedingungen, wie Schweigers Team in einer Publikation veröffentlichte. Nach den vielversprechenden prĂ€klinischen Ergebnissen wird das Medikament derzeit in einer ersten klinischen Studie am Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles bei Patient:innen mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom getestet.

„Die Zusammenarbeit zwischen Mediziner:innen und uns Grundlagenwissenschaftler:innen ist essenziell“, betont Schweiger. „Wir leisten die Vorarbeit mit Zellkulturen und Mausstudien, bevor groß angelegte klinische Studien beginnen können.“

Kooperationen in Graz und Szeged

Um den Stoffwechsel kachexigener Tumoren besser zu verstehen, arbeitet Schweigers Gruppe eng mit Partnern in Graz und Szeged (Ungarn) zusammen. Clemens Diwoky von der UniversitĂ€t Graz untersuchte die Tumoren mithilfe von Magnetresonanz-Spektroskopie auf ihren Lipidgehalt, ihren Energiezustand und die Durchblutung. „Ihm ist es gelungen, eine Methode zu entwickeln, um den Energiestatus eines Tumors im lebenden Organismus – in diesem Fall in der Maus – zu messen“, so Schweiger ĂŒber die Ergebnisse einer dritten Publikation, die aus dem Projekt hervorgegangenen ist.

Gemeinsam mit den ungarischen Partnern wurde außerdem der Lipidstoffwechsel kachexigener und nicht-kachexigener Tumoren analysiert. Dabei zeigte sich, dass der Lipidhaushalt das Tumorwachstum deutlich beeinflusst, die Kachexie davon jedoch unbeeintrĂ€chtigt bleibt. „Unser Projekt hat sich im Verlauf zunehmend auf IL-6 statt auf Lipide fokussiert, denn das war der vielversprechendere Weg“, sagt Schweiger.

Mikroskopische Aufnahmen von Tumorzellen
Aufnahmen einer 3D-Zellkultur zur Untersuchung der Kommunikation zwischen Zellen im Tumor. Zu sehen sind Tumorzellen (Magenta), die von Immunzellen (Cyan) durchdrungen sind. © Martina Schweiger

Blick auf das Immunsystem

In Zukunft möchte sich Schweiger vermehrt der Tumormikroumgebung widmen. Um neuartige TherapieansĂ€tze zu entwickeln, will die Forscherin die Immunzellen in kachexigenen Tumoren genauer charakterisieren und diese Zellen gezielt stimulieren. „Das Problem bei der Krebstherapie ist, dass eine Chemotherapie fĂŒr Patient:innen, die bereits stark an Gewicht verlieren, praktisch einem Todesurteil gleichkommt“, sagt Schweiger. „Die Immuntherapie könnte eine Alternative darstellen, aber dafĂŒr muss man die Immunzellen im Tumor genau verstehen.“

Letztlich sei das Ziel jeder Kachexie-Therapie, den Gewichtsverlust zu bremsen, um den Krebs lĂ€nger behandeln zu können, so Schweiger. „Denn eines ist klar: Wenn der Tumor verschwindet, ist auch die Kachexie weg.“

Zur Person

Martina Schweiger ist Professorin fĂŒr Biochemie und Molekularbiologie, Co-Direktorin der interuniversitĂ€ren Forschungsgemeinschaft BioTechMed-Graz und Leiterin einer Arbeitsgruppe am Institut fĂŒr Molekulare Biowissenschaften an der UniversitĂ€t Graz. In ihrer Forschung beschĂ€ftigt sie sich vorwiegend mit dem Stoffwechsel des Fettgewebes in Gesundheit und Krankheit. Dabei fokussiert sie sich auf zwei extreme pathophysiologische ZustĂ€nde: Adipositas und Kachexie.

Publikationen

R-ketorolac ameliorates cancer-associated cachexia and prolongs survival of tumour-bearing mice, in: Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle 2024

Robust dual-angle T1 measurement in magnetization transfer spectroscopy by time-optimal control, in: NMR in Biomedicine 2024

Interleukin-6 initiates muscle- and adipose tissue wasting in a novel C57BL/6 model of cancer-associated cachexia, in: Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle 2023