Warum Social Distancing schmerzt
Sie hatten genau zum Ausbruch der Corona-Pandemie Ergebnisse einer Untersuchung vorliegen, die sich mit der Frage beschäftigte, wie sich soziale Isolation im Gehirn des Menschen zeigt. Was haben Sie herausgefunden?
Livia Tomova: Wir haben uns speziell eine Gehirnregion angesehen: die Substantia nigra, das ist der Kern unseres Motivationssystems im Gehirn. Wir fanden heraus, dass dieser Hirnbereich nach dem Fasten und nach Isolierung auf ähnliche Weise reagierte: Wenn Menschen isoliert wurden, zeigte die Hirnregion eine höhere Aktivität als Reaktion auf Bilder anderer Menschen (und nicht auf Bilder von Essen). Wenn die Menschen umgekehrt fasteten und dann Bilder von Essen gezeigt bekamen, zeigte die Substantia nigra eine höhere Aktivität als Reaktion auf diese Bilder (und nicht auf soziale Bilder).
Das Ausmaß der Aktivität, das wir in der Substantia nigra fanden, stimmt damit überein, wie sehr die Testpersonen angaben, Essen oder sozialen Kontakt zu wollen. In einem nächsten Schritt haben wir Machine Learning verwendet, indem wir einem Computer-Algorithmus beibrachten, wie neuronale Signale einer hungrigen Person, die Bilder von Essen betrachtet, aussehen, damit er diese identifizieren kann. Anschließend haben wir dem Algorithmus Gehirnsignale einer einsamen Person „gezeigt“, die Bilder von anderen Menschen betrachtet, und gefragt, ob er diese von Kontrollsignalen unterscheiden könne, ohne diese Gehirnsignale zuvor „gesehen“ zu haben. Und er konnte! Dies deutet darauf hin, dass es eine gemeinsame neuronale Signatur zwischen dem Bedürfnis nach Essen und dem Bedürfnis nach sozialem Kontakt gibt.
Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Tomova: Die Ergebnisse entsprachen unseren Hypothesen. Die Theorie, dass Einsamkeit ein Signal ist, um uns dazu zu bewegen, etwas gegen den Mangel an sozialem Kontakt zu unternehmen, wurde bereits früher von Kollegen aufgestellt – besonders von der Forschergruppe um den Psychologen John Cacioppo, den Mitbegründer der sozialen Neurowissenschaften an der Universität Chicago. Einsamkeit ist somit ähnlich wie Hunger zu verstehen. Sie ist eine Emotion, die uns antreiben soll, etwas gegen einen Mangel von etwas zu unternehmen. Unsere Daten liefern nun empirische Unterstützung für diese Hypothese.
„Einsamkeit ist ähnlich wie Hunger. Sie ist eine Emotion, die uns antreiben soll, etwas gegen den Mangel zu unternehmen. “
Wir befinden uns nun seit einem Jahr in einer Art Reallabor. Wie genau wirkt sich Isolation auf die mentale und körperliche Gesundheit aus?
Tomova: In unserer Studie haben wir herausgefunden, dass bereits zehn Stunden an Isolation bei den Testpersonen bewirkte, dass diese mehr negative Emotionen empfinden. Das stimmt überein mit Studien zu Einsamkeit, die belegen, dass einsame Menschen häufiger Depressionen und andere psychische Probleme haben. Ich denke, unsere Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass Menschen sehr sensibel darauf reagieren, wenn sie nicht genug soziale Interaktion haben.
Lässt sich der Hunger nach Begegnung, Berührung und persönlichem Austausch durch die sozialen Medien oder durch anderes kompensieren?
Tomova: Das ist eine gute Frage, doch wir haben die Antwort darauf derzeit leider nicht. In meiner Forschung ist dieser Aspekt ein zentraler Fokus, den ich in meinen nächsten Studien untersuchen möchte. Unser derzeitiges Wissen darüber, wie sich soziale Medien auf unser Sozialleben auswirken, ist sehr limitiert. Was bisher gezeigt wurde, deutet darauf hin, dass soziale Medien zum Teil positive Effekte auf Austausch mit anderen haben – wenn wir sie aktiv nutzen. Das heißt, wenn wir aktiv mit Leuten reden und uns austauschen. Eine passive Nutzung von sozialen Medien, also wenn wir Inhalte wie Fotos oder Posts anderer Leute nur ansehen, hat einen eher negativen Effekt auf unser Wohlbefinden.
Kann man sich an Einsamkeit auch gewöhnen?
Tomova: Bisherige Studien deuten eher auf das Gegenteil hin. Menschen, die unter chronischer Einsamkeit leiden, haben auch mehr gesundheitliche Probleme. Diese betreffen die psychische Gesundheit, aber auch die körperliche, da Einsamkeit ein Stresszustand ist. Wichtig ist aber hier, zwischen Einsamkeit und gewolltem Alleinsein zu unterscheiden. Im Englischen gibt es dafür auch verschiedene Begriffe: „loneliness“ und „solitude“. Letzterer bezeichnet einen Zustand des Alleinseins, der nicht zwingend negativ sein muss, sondern – ganz im Gegenteil – auch positive Effekte haben kann. Vielen Menschen tut es sehr gut, Zeit alleine zu verbringen, das bezeichnen wir dann nicht als Einsamkeit. Einsamkeit hingegen kann verstanden werden als ein subjektiver Zustand, in dem wir weniger soziale Interaktionen haben, als wir gerne hätten – das bedeutet, er ist per Definition negativ, da uns subjektiv etwas fehlt.
„Viele junge Erwachsene durchlaufen noch wichtige Schritte in der Entwicklung des Gehirns.“
Sie untersuchen aktuell, wie sich Isolation auf Jugendliche auswirkt. Können Sie bestätigen, dass Social Distancing junge Generationen besonders hart trifft, und wenn ja, warum?
Tomova: Jugendliche zeichnen sich dadurch aus, dass sie besonders gezielt Zeit mit Gleichaltrigen verbringen wollen. Das kann man über Kulturen – und sogar über Spezies! – hinweg beobachten. Studien aus der Gehirnforschung haben gezeigt, dass dieses Verhalten wichtig ist, da sich die Gehirne von Jugendlichen noch in der Entwicklung befinden. Das betrifft besonders Gehirnregionen, die für höhere und soziale Kognition verantwortlich sind.
Übrigens haben neuere Studien gezeigt, dass diese Entwicklung erst um das Alter von 25 Jahren abgeschlossen ist. Das heißt, viele junge Erwachsene durchlaufen noch wichtige Schritte in der Gehirnentwicklung. Ich habe zu diesem Thema vergangenes Jahr mit Kolleginnen von mir einen Kommentar in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht, in welchem wir die Meinung vertreten, dass Social Distancing besonders auf Jugendliche tatsächlich negative Auswirkungen hat. Denn um diese wichtigen Entwicklungsschritte machen zu können, ist für die junge Generation rege Interaktion mit Gleichaltrigen essenziell.
Livia Tomova hat 2016 ihr Doktorat in Psychologie an der Universität Wien abgeschlossen. Danach absolvierte sie, unter anderem gefördert durch ein Schrödinger-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF, ein mehrjähriges Postdoc-Training in Kognitiver Neurowissenschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Sie untersuchte, wie sich der Entzug sozialer Kontakte auf das menschliche Gehirn auswirkt. Ihre Forschungsergebnisse wurden im November 2020 in Nature Neuroscience veröffentlicht. Im selben Jahr erhielt Tomova ein Henslow-Forschungsstipendium an der University of Cambridge, wo sie die Auswirkungen von Einsamkeit bei Jugendlichen erforscht und untersucht, ob und wie neue Medien soziale Bedürfnisse stillen können.
Effekte sozialer Isolation – biologische Alarmglocken?
Einsamkeit ist psychisch wie körperlich eine große Belastung und sie erhöht die Wahrscheinlichkeit eines früheren Todes. Doch das belastende Gefühl, einsam zu sein, könnte einen Zweck erfüllen. Psychologinnen und Psychologen vermuten, dass Einsamkeit schmerzt, um als biologische Alarmglocke zu dienen. Neue Erkenntnisse bestätigen diese Theorie.
Als die Psychologinnen Livia Tomova und Rebecca Saxe vom Massachusetts Institute of Technology gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen vor rund vier Jahren mit ihrer Arbeit begannen, wollten sie zeigen, wie Einsamkeit im Gehirn funktioniert. Ihre Ergebnisse lagen genau zu dem Zeitpunkt vor, als sich die Corona-Pandemie im März 2020 weltweit ausbreitete. Es gab bereits ähnliche Forschungen an Tieren, doch dies war die erste Studie am Menschen, die zeigte, dass sich Einsamkeit ähnlich wie Hunger äußert. Einsamkeit und Hunger teilen Signale in einer Region tief im Gehirn, die grundlegende Impulse für Belohnung und Motivation steuert. Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass unser Bedürfnis, uns zu verbinden, genauso grundlegend ist wie unser Bedürfnis zu essen.