Das wundersame Zellgedächtnis des Axolotls

Vor Kurzem konnten Sie mit Ihrem Team im Fachjournal Nature einen wissenschaftlichen Durchbruch vermelden. Sie beschrieben einen Mechanismus, durch den Zellen im Axolotl „wissen“, wo sie bei der Regeneration hingehören. Welche Bedeutung hat diese Entdeckung eines Positionsgedächtnisses für Sie und Ihr Team sowie für Ihr Forschungsfeld?
Elly Tanaka: In der Regenerationsforschung war das Konzept des Positionsgedächtnisses lange Zeit ein Mysterium. Man wusste, dass Zellen in den verschiedenen Teilen von Gliedmaßen eine Art Gedächtnis haben müssen – etwas, das ihnen signalisiert, ob sie zu einem Oberarm, einem Daumen oder einem kleinen Finger gehören. In der Forschung mit dem Axolotl konnten wir ein Protein mit der Bezeichnung „Hand2“ identifizieren, das als sogenannter Transkriptionsfaktor für die Organisation des Positionsgedächtnisses verantwortlich ist. „Hand2“ kontrolliert eine Vielzahl von Genen, die bei der Regeneration eingeschaltet werden und Zellen miteinander kommunizieren lassen.
Ohne diesen Faktor könnte keine Gliedmaße richtig regeneriert werden. Viele Jahre Forschungsarbeit und eine Reihe aufbauender Publikationen führten zu dieser Erkenntnis, die wohl auch Teil künftiger Lehrbücher sein wird. Wir haben also das Gefühl, dass wir ein lange bestehendes Rätsel gelöst haben. Forschende, die künftig über die Regeneration eines Körperteils nachdenken, müssen diesen neu entdeckten Mechanismus berücksichtigen.
Wie können Sie die molekularen Vorgänge bei der Regeneration im Axolotl beobachten?
Tanaka: Leo Otsuki – der Wissenschaftler, der die Experimente im Labor umgesetzt hat – konnte genau beobachten, wo der Expressionsfaktor „Hand2“ im Arm oder Finger aktiv ist und welche Rolle er bei der Regeneration spielt. Dafür entwickelten wir transgene Axolotl, die ein leuchtendes Protein dort aktivieren und für uns sichtbar machen, wo es gebildet wird. In transgenen Tieren können wir den Expressionsfaktor auch gezielt ausschalten – mit der Folge, dass sich die Gliedmaße dann nicht regeneriert.
Eine besonders bedeutsame Erkenntnis war: Wenn wir „Hand2“ in Zellen einbringen, die das Protein normalerweise nicht bilden, kann es die Identität der Zelle verändern. Aus einer Zelle des Daumens wird beispielsweise eine des kleinen Fingers. Zu den eingesetzten Methoden gehören also transgene Modelltiere, die wir in unserem Labor entwickelten, molekularbiologisches RNA-Profiling, um Genaktivität erfassen zu können, und die als „Genschere“ bekannte CRISPR-Technologie zur gezielten Genveränderung.
Wie nah bringen uns diese Forschungsergebnisse, Zellen beim Menschen im Zuge einer regenerativen Medizin umzuprogrammieren?
Tanaka: Das Gen, das für die Bildung von „Hand2“ verantwortlich ist, ist in allen Wirbeltieren aktiv. Es handelt sich um einen Mechanismus zur Organbildung, der evolutionär sehr alt ist. Wenn man versuchen würde, beim Menschen eine Gliedmaße nachwachsen zu lassen, wäre der Expressionsfaktor also eine wichtige Grundlage dafür. Wir haben beispielsweise bereits das Vorkommen des Faktors in der Haut von Mäusen untersucht und konnten ihn tatsächlich in bestimmten Zellen nachweisen. Die Frage ist, ob er in genügend Zellen aktiv ist, um potenziell für Therapien nutzbar zu sein.
Zur Rolle in Säugetieren braucht es noch viel weitere Forschung. Hier sind noch die Reaktion des Immunsystems und viele weitere Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Die Erkenntnisse sind aber auch abseits der Vision einer Gliedmaßen- oder Organregeneration beim Menschen bedeutsam. Wir beginnen nun etwa, mit Forschungsgruppen zusammenzuarbeiten, um mithilfe der Axolotl-Forschung Organoide – also Modelle menschlicher Gewebe und Organe – nachzubilden.
Elly Tanaka, Direktorin des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der ÖAW erhält den FWF-Wittgenstein-Preis. Die US-amerikanische Biochemikerin gilt als führende Spezialistin auf dem Gebiet der Regenerationsbiologie.
„Eine besonders spannende Frage lautet: Wie können die regenerierenden Stammzellen ein Organ in der Größe eines Erwachsenen wachsen lassen.“
Was werden die zentralen Fragen Ihrer zukünftigen Forschungsarbeit sein?
Tanaka: Eine besonders spannende Frage lautet: Wie können die regenerierenden Stammzellen ein Organ in der Größe eines Erwachsenen wachsen lassen? Während der Regeneration ist die Zahl der Stammzellen, die zusammenarbeiten, um die Gliedmaßen zu bilden, viel größer als im Embryo. Irgendwie schafft es der Axolotl, eine Umgebung zu schaffen, in der diese große Gruppe von Stammzellen miteinander kommunizieren kann - sogar über große Entfernungen im Körper. Wir wussten nicht, dass die Moleküle, die für diese Signale verantwortlich sind, tatsächlich über so große Entfernungen funktionieren können – es ist, als würde eine Person in Wien versuchen, ohne Hilfsmittel mit einer anderen etwa in Mödling zu sprechen. Hier wartet also ein weiteres Rätsel darauf, entschlüsselt zu werden. Und natürlich stellt sich die Frage: Kann man die verantwortlichen Prinzipien auch mit menschlichen Zellen umsetzen?

Welche Auswirkungen wird der Wittgenstein-Preis mit seiner Preissumme von 1,9 Millionen Euro auf Ihre Forschungsarbeit haben?
Tanaka: Die Auszeichnung eröffnet interessante neue Möglichkeiten. Ein Vorhaben ist, mehr vergleichende Experimente mit Axolotl-Zellen und menschlichen Zellen durchzuführen. Wir haben zwar schon Ansätze in diese Richtung, können uns nun aber viel eingehender mit menschlichen Stammzellen beschäftigen. Ein weiterer Punkt ist, sogenannte „unbiased screens“ auf die Regenerationsforschung mit dem Axolotl anzuwenden. Dabei geht es um systematische, groß angelegte Genanalysen, die viele Varianten durchtesten – ein Ansatz, der etwa in der Krebsforschung verbreitet ist. Das Ziel ist, bisher unbekannte molekulare Mechanismen zu entdecken, die bei der Regeneration eine Rolle spielen. Dank des Wittgenstein-Preises können wir neue Positionen schaffen, um richtungsweisende Projekte in diesen Bereichen umzusetzen.
Zum Forschungsprojekt
Tanakas Forschungsgruppe fokussiert auf die molekularen und zellulären Mechanismen, die der Regeneration etwa von Gliedmaßen und des Rückenmarks bei der Salamanderart des Axolotls zugrunde liegen. Dabei werden involvierte Stammzellen, Signalwege und steuernde Faktoren des Regenerationsprozesses identifiziert und die Erkenntnisse auf andere Organismen – insbesondere auf Säugetiere – übertragen. Tanaka und Kolleg:innen konnten auf aufbauend auf Axolotlforschung etwa bereits Rückenmarkorganoide aus Mausstammzellen oder Netzhautgewebe aus menschlichen Stammzellen erzeugen.
Apropos neue Positionen: Viele Forschende leiden unter dem aktuellen politischen Klima in den USA. Bemerken Sie verstärktes Interesse von US-Kolleg:innen, nach Wien zu kommen?
Tanaka: Ja, es gibt verstärkt Bewerbungen aus den USA. Zuletzt interessierten sich etwa Studierende und Absolvent:innen des California Institute of Technology, der Harvard University oder des MIT für unsere Regenerationsforschung am Schnittpunkt von Axolotl und Säugetieren. Der Wittgenstein-Preis erlaubt uns vielleicht, einige von ihnen einzustellen. Das verstärkte Interesse sehen wir auch klar bei uns am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA), einem Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Wir haben kürzlich eine Position zur Leitung einer Arbeitsgruppe ausgeschrieben und doppelt so viele Bewerbungen aus den USA als früher erhalten – darunter Wissenschaftler:innen, die in Top-Journalen publiziert haben. Hier am IMBA und am Vienna BioCenter bieten wir allerdings auch ein sehr attraktives Umfeld für eine internationale Forschungscommunity: hervorragende technische Ausstattung und hochmoderne Methoden, dazu eine extrem kollaborative und unbürokratische Arbeitskultur. Mein Labor hat immer viele gute Bewerbungen bekommen. Wien wird aber insgesamt zunehmend als herausragender Ort für Wissenschaft wahrgenommen.
Wenn Sie auf Ihre bisherige wissenschaftliche Laufbahn zurückblicken – was hat Sie motiviert und zu Höchstleistungen angetrieben?
Tanaka: Die biologische Fragestellung und das Tiermodell, mit dem ich arbeite, sind einfach faszinierend. Jedes Mal, wenn ich den Axolotl betrachte – wie die Gewebe organisiert sind, wie die Regeneration abläuft –, sehe ich noch immer ein Wunder der Natur. Was mich außerdem motiviert, sind die vielen talentierten Menschen, mit denen ich arbeite; aber auch die Wertschätzung und Unterstützung, die ich von den Forschungsinstitutionen bekomme – nicht zuletzt vom Wissenschaftsfonds FWF. Wir können Forschungsanträge stellen und dann wirklich Grundlagenforschung betreiben. Dass in Österreich Grundlagenforschung als etwas Wertvolles gilt, das gefördert werden sollte, ist ein Unterschied zu den USA von heute – und dieses Gefühl, unterstützt zu werden, ist für mich sehr motivierend.
Zur Person
Elly Margaret Tanaka ist wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), wo sie ihre Forschungsgruppe zu molekularen Mechanismen der Regeneration bei Wirbeltieren betreibt. Tanakas jahrzehntelange Forschung trug maßgeblich dazu bei, modernste Methoden der Molekularbiologie auch auf den Salamander Axolotl zu übertragen. Ihre Forschungsgruppe am Vienna BioCenter gilt damit als ein weltweit führendes Zentrum für Grundlagenforschung zu Regeneration.
Die Laufbahn der aus den USA stammenden Biochemikerin führte sie an die Harvard University, die University of California in San Francisco und das University College in London. 1999 übernahm sie eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden und 2008 eine Professur an der Technischen Universität Dresden. 2016 kam sie an das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien, bevor sie 2024 ans IMBA wechselte. 2017 erhielt Tanaka den Erwin-Schrödinger-Preis der ÖAW, 2023 wurde ihr ein Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) zugesprochen. Aktuell leitet die Biochemikerin das FWF-Projekt „Regenerative Strategien zur Herzreparatur“.
Der Wittgenstein-Preis
Der FWF-Wittgenstein-Preis ist Österreichs höchstdotierter Wissenschaftspreis und richtet sich an exzellente Forschende aller Fachdisziplinen. Die mit 1,9 Millionen Euro dotierte Auszeichnung unterstützt die Forschung der Preisträger:innen und garantiert ihnen Freiheit und Flexibilität bei der Durchführung. Forschende können so ihre wissenschaftliche Arbeit auf international höchstem Niveau vertiefen.