UN-Truppen bewachen einen GebÀudeeingang in Haiti (2014).
UN-Truppen bewachen einen GebĂ€udeeingang in Haiti (2014). © DatraxMada, CC BY-SA 4.0

1956 startete die erste moderne Friedenssicherungsmission der Vereinten Nationen. Unter dem Namen UNEF (United Nations Emergency Force) wurden neutrale Truppen auf der Halbinsel Sinai stationiert, um angesichts der damaligen Suezkrise zwischen Ägypten und Israel den Frieden zu sichern. Anfang der 60er-Jahre kam es dabei zu einem besonders tragischen Vorfall, der nichts mit dem eigentlichen Konflikt zu tun hatte: UN-Soldaten schossen in die Luft, um Kinder zu vertreiben, die vor den Toren eines Camps spielten. Eine der Kugeln wurde abgelenkt und traf ein Kind tödlich.

Dieses Ereignis macht deutlich, dass nicht nur die Friedenstruppen selbst mit der Stationierung in einem Konfliktgebiet ein hohes Risiko eingehen. Auch die Zivilbevölkerung vor Ort kann negativ betroffen sein – und das in tragischer Weise, wie das Beispiel von UNEF zeigt. SchadensfĂ€lle unterschiedlichster Natur, vom zerstörten Feld bis zu verletzten Personen nach einem Verkehrsunfall, begleiten jede der etwa 60 bisherigen Missionen, egal ob in Afrika, im Nahen Osten oder in Europa.

Die Rechtswissenschaftlerin Kirsten Schmalenbach von der UniversitĂ€t Salzburg beschĂ€ftigt sich in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt mit dem Schadenersatzrecht, das derartigen FĂ€llen zugrunde liegt. „Ich arbeite einerseits daran, die Rechtsnormen zu identifizieren und transparent zu machen, die die UN in den SchadenersatzfĂ€llen bisher anwenden. Andererseits arbeite ich an den Grundlagen fĂŒr neue und besser geeignete Rechtsnormen, die sich aus dem Völkerrecht ableiten“, skizziert die Juristin, die mit einer kommenden Publikation eine Basis fĂŒr die Weiterentwicklung der Rechtspraxis in diesem Bereich legen will.

Das Projekt

Die Vereinten Nationen unterhalten aktuell 13 Friedensmissionen. Dabei kommt es zu SchĂ€den an örtlichen Strukturen und der Bevölkerung. Die draus entstehenden AnsprĂŒche auf Schadenersatz finden abgeschirmt von der Öffentlichkeit statt. Das Forschungsprojekt verfolgt das Ziel, Transparenz in diese Verfahren zu bringen und leistet damit einen Beitrag, die Rechtsnormen und Praxis der Schadensregulierung internationaler Organisationen zu verbessern. 

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Schwer nachvollziehbare SchadensbetrÀge

Wird ein Schadensfall offenbar, etwa weil ein:e GeschĂ€digte:r im Truppenkommando diesbezĂŒglich vorspricht, erfolgt eine Untersuchung. „In dieser Tatsachenforschung liegt der Schwerpunkt des Prozesses. Das wird sehr ernst genommen und lĂ€sst sich anhand der entsprechenden Akten gut nachvollziehen“, sagt Schmalenbach. „Bei der Festsetzung der Höhe des Schadenersatzes wird die Sache dagegen undurchsichtig. Welche rechtlichen ErwĂ€gungen hinter der Frage stecken, ob jemand 50 Euro oder 10.000 Euro erhĂ€lt, ist schwer ergrĂŒndbar.“

Die MilitĂ€rkontingente, die aus verschiedensten LĂ€ndern stammen, sind oft sehr stark darum bemĂŒht, die FĂ€lle sehr pragmatisch und ohne die Einbindung weiterer Institutionen oder Personenkreise zu lösen. Man wickelt SchadensfĂ€lle oft schnell und unbĂŒrokratisch ab. Gleichzeitig ist man bemĂŒht, die eigenen Soldat:innen bestmöglich zu schĂŒtzen und – auch in gravierenderen FĂ€llen – vor Konsequenzen zu bewahren. „Große mediale Aufmerksamkeit erhielten in der Vergangenheit vor allem FĂ€lle des sexuellen Missbrauchs, weil jene, die helfen sollten, zu Verbrechern wurden. Die Mehrzahl der FĂ€lle gehört aber nicht in diese Kategorie. Sie betreffen nicht vorsĂ€tzlich herbeigefĂŒhrte SchĂ€den an Eigentum und Leib und Leben“, so die Einordnung der Rechtswissenschaftlerin.

Intransparente Rechtspraxis der UN

Schmalenbach blickt auf langjĂ€hrige Erfahrung in der Untersuchung der Rechtspraxis bei Friedenssicherungsmissionen zurĂŒck. Schon vor 20 Jahren hat sie sich im Zuge ihrer Forschungen damit beschĂ€ftigt. „Damals waren die UN-Akten zu den internen Entscheidungsprozessen, die Ă€lter als 20 Jahre sind, noch sehr gut zugĂ€nglich. Doch das hat sich nach einem sehr problematischen Fall im Jahr 2010 geĂ€ndert“, erinnert sie sich. „Damals wurde durch einen UN-Soldaten aus Nepal Cholera in Haiti eingeschleppt. Seit diesem Skandal dringen kaum noch Informationen nach außen.“ Die Juristin hat also vor allem Daten zur VerfĂŒgung, die sie vor 2002 gesammelt hat. Neuere Informationen sind kaum zu bekommen.

Klar ist, dass die UN mit SchadenersatzansprĂŒchen anders umgehen als etwa NATO-Friedenstruppen bei ihren EinsĂ€tzen. „NATO-EinsĂ€tze sind zwar Ă€hnlich strukturiert wie jene der UN-Peacekeeper. Die Haftung ĂŒbernehmen aber die truppenstellenden Staaten, die eigenstĂ€ndig entscheiden, ob sie das lokale Schadensrecht oder ihr eigenes anwenden“, erlĂ€utert Schmalenbach. „Die UN hingegen ĂŒbernehmen die Haftung selbst. Auch hier gibt es zwar die Möglichkeit, lokales Landesrecht einzusetzen. Angesichts der verschiedenen Rechtskulturen, mit denen man konfrontiert ist, kann das fĂŒr die UN schwierig sein. Man denke nur an LĂ€nder wie Somalia, wo in manchen Regionen entsprechend einem Gewohnheitsrecht in Naturalien bezahlt wird – etwa in Ziegen oder Kamelen.“

Ein eigenes Regelwerk der UN im Bereich des Schadenersatzrechts, das also in den meisten FĂ€llen angewendet wird, ist dagegen nur Ă€ußerst lĂŒckenhaft vorhanden. „Vorhanden ist eine Haftungslimitierung der Höhe nach. Der Zeitraum, bis wann SchĂ€den geltend gemacht werden können, ist auch begrenzt. Doch nicht einmal bei dieser Grenze wird man konkret. Der Großteil ist schlicht gelebte Praxis“, fasst Schmalenbach zusammen. Man agiert also weitgehend aus Gewohnheit und informell etablierten Routinen.

Verschiedene Rechtskulturen in Einklang bringen

Die Rechtswissenschaftlerin möchte dieser Intransparenz nun klar nachvollziehbare, aus dem Völkerrecht abgeleitete Rechtsnormen entgegensetzen. „Es geht darum, allgemeine RechtsgrundsĂ€tze des Haftungsrechts zu identifizieren, die eine BrĂŒcke zwischen den verschiedenen Rechtskulturen schlagen. Sie mĂŒssen dabei sowohl mit menschenrechtlichen ErwĂ€gungen als auch mit den Anforderungen der Praxis abgeglichen werden“, betont die Forscherin.

Das ist zum einen rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung. Zum anderen bestehen aber durchaus auch Chancen, dass Aspekte ihrer Arbeit fĂŒr eine kĂŒnftige Praxis aufgegriffen werden. Schmalenbach: „Die Publikation, an der ich arbeite, könnte NGOs, die Opfern helfen, schlagkrĂ€ftige Argumente in die Hand geben. Die UN, auch wenn sie meine Forschung nicht unterstĂŒtzen, könnten bei kĂŒnftigen Reformen zudem Aspekte meiner Arbeit aufnehmen. Und schließlich können meine Überlegungen auch fĂŒr zukĂŒnftig mögliche Friedenstruppen der EU – Stichwort Ukraine – relevant werden.“

Zur Person

Kirsten Schmalenbach ist Professorin fĂŒr Völker- und Europarecht an der Paris Lodron UniversitĂ€t Salzburg. Zu ihren frĂŒheren Karrierestationen gehören die UniversitĂ€t Köln, die UniversitĂ€t Bayreuth und die UniversitĂ€t Graz. Als anerkannte Expertin fĂŒr internationales Recht, die rechtlichen Grundlagen internationaler Organisationen und internationales Umweltrecht war sie unter anderem Beraterin der Außenministerien in Deutschland und Österreich.

Bis Herbst 2025 ist Schmalenbach Senior Fellow am Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS), wo sie zum umweltrechtlichen Thema „Die Rechtspersönlichkeit natĂŒrlicher EntitĂ€ten“ forscht. Das von 2021 bis 2025 laufende Projekt „Das UN-Schadenersatzrecht fĂŒr Friedensmissionen“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 370.000 Euro gefördert.

Publikationen

United Nations’ Tortious Liability. Third-Party Claims Arising from Peacekeeping Missions, Edward Elgar Publishing 2026 (forthcoming)

The Great Unknown, General Principles Governing the Law of International Organizations, in: Liber Amicorum for Niels M. Blokker, Brill 2025

Judge and Jury: The UN and the Haiti Cholera Claims, in: International Organization Law Review 2015

Preserving the Gordian Knot: UN Legal Accountability in the Aftermath of Srebrenica, in: Netherlands International Law Review, Vol. 62, 2015