Wie UN-Friedenstruppen Schadenersatzansprüche regeln

1956 startete die erste moderne Friedenssicherungsmission der Vereinten Nationen. Unter dem Namen UNEF (United Nations Emergency Force) wurden neutrale Truppen auf der Halbinsel Sinai stationiert, um angesichts der damaligen Suezkrise zwischen Ägypten und Israel den Frieden zu sichern. Anfang der 60er-Jahre kam es dabei zu einem besonders tragischen Vorfall, der nichts mit dem eigentlichen Konflikt zu tun hatte: UN-Soldaten schossen in die Luft, um Kinder zu vertreiben, die vor den Toren eines Camps spielten. Eine der Kugeln wurde abgelenkt und traf ein Kind tödlich.
Dieses Ereignis macht deutlich, dass nicht nur die Friedenstruppen selbst mit der Stationierung in einem Konfliktgebiet ein hohes Risiko eingehen. Auch die Zivilbevölkerung vor Ort kann negativ betroffen sein – und das in tragischer Weise, wie das Beispiel von UNEF zeigt. Schadensfälle unterschiedlichster Natur, vom zerstörten Feld bis zu verletzten Personen nach einem Verkehrsunfall, begleiten jede der etwa 60 bisherigen Missionen, egal ob in Afrika, im Nahen Osten oder in Europa.
Die Rechtswissenschaftlerin Kirsten Schmalenbach von der Universität Salzburg beschäftigt sich in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt mit dem Schadenersatzrecht, das derartigen Fällen zugrunde liegt. „Ich arbeite einerseits daran, die Rechtsnormen zu identifizieren und transparent zu machen, die die UN in den Schadenersatzfällen bisher anwenden. Andererseits arbeite ich an den Grundlagen für neue und besser geeignete Rechtsnormen, die sich aus dem Völkerrecht ableiten“, skizziert die Juristin, die mit einer kommenden Publikation eine Basis für die Weiterentwicklung der Rechtspraxis in diesem Bereich legen will.
Das Projekt
Die Vereinten Nationen unterhalten aktuell 13 Friedensmissionen. Dabei kommt es zu Schäden an örtlichen Strukturen und der Bevölkerung. Die draus entstehenden Ansprüche auf Schadenersatz finden abgeschirmt von der Öffentlichkeit statt. Das Forschungsprojekt verfolgt das Ziel, Transparenz in diese Verfahren zu bringen und leistet damit einen Beitrag, die Rechtsnormen und Praxis der Schadensregulierung internationaler Organisationen zu verbessern.
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Schwer nachvollziehbare Schadensbeträge
Wird ein Schadensfall offenbar, etwa weil ein:e Geschädigte:r im Truppenkommando diesbezüglich vorspricht, erfolgt eine Untersuchung. „In dieser Tatsachenforschung liegt der Schwerpunkt des Prozesses. Das wird sehr ernst genommen und lässt sich anhand der entsprechenden Akten gut nachvollziehen“, sagt Schmalenbach. „Bei der Festsetzung der Höhe des Schadenersatzes wird die Sache dagegen undurchsichtig. Welche rechtlichen Erwägungen hinter der Frage stecken, ob jemand 50 Euro oder 10.000 Euro erhält, ist schwer ergründbar.“
Die Militärkontingente, die aus verschiedensten Ländern stammen, sind oft sehr stark darum bemüht, die Fälle sehr pragmatisch und ohne die Einbindung weiterer Institutionen oder Personenkreise zu lösen. Man wickelt Schadensfälle oft schnell und unbürokratisch ab. Gleichzeitig ist man bemüht, die eigenen Soldat:innen bestmöglich zu schützen und – auch in gravierenderen Fällen – vor Konsequenzen zu bewahren. „Große mediale Aufmerksamkeit erhielten in der Vergangenheit vor allem Fälle des sexuellen Missbrauchs, weil jene, die helfen sollten, zu Verbrechern wurden. Die Mehrzahl der Fälle gehört aber nicht in diese Kategorie. Sie betreffen nicht vorsätzlich herbeigeführte Schäden an Eigentum und Leib und Leben“, so die Einordnung der Rechtswissenschaftlerin.
Intransparente Rechtspraxis der UN
Schmalenbach blickt auf langjährige Erfahrung in der Untersuchung der Rechtspraxis bei Friedenssicherungsmissionen zurück. Schon vor 20 Jahren hat sie sich im Zuge ihrer Forschungen damit beschäftigt. „Damals waren die UN-Akten zu den internen Entscheidungsprozessen, die älter als 20 Jahre sind, noch sehr gut zugänglich. Doch das hat sich nach einem sehr problematischen Fall im Jahr 2010 geändert“, erinnert sie sich. „Damals wurde durch einen UN-Soldaten aus Nepal Cholera in Haiti eingeschleppt. Seit diesem Skandal dringen kaum noch Informationen nach außen.“ Die Juristin hat also vor allem Daten zur Verfügung, die sie vor 2002 gesammelt hat. Neuere Informationen sind kaum zu bekommen.
Klar ist, dass die UN mit Schadenersatzansprüchen anders umgehen als etwa NATO-Friedenstruppen bei ihren Einsätzen. „NATO-Einsätze sind zwar ähnlich strukturiert wie jene der UN-Peacekeeper. Die Haftung übernehmen aber die truppenstellenden Staaten, die eigenständig entscheiden, ob sie das lokale Schadensrecht oder ihr eigenes anwenden“, erläutert Schmalenbach. „Die UN hingegen übernehmen die Haftung selbst. Auch hier gibt es zwar die Möglichkeit, lokales Landesrecht einzusetzen. Angesichts der verschiedenen Rechtskulturen, mit denen man konfrontiert ist, kann das für die UN schwierig sein. Man denke nur an Länder wie Somalia, wo in manchen Regionen entsprechend einem Gewohnheitsrecht in Naturalien bezahlt wird – etwa in Ziegen oder Kamelen.“
Ein eigenes Regelwerk der UN im Bereich des Schadenersatzrechts, das also in den meisten Fällen angewendet wird, ist dagegen nur äußerst lückenhaft vorhanden. „Vorhanden ist eine Haftungslimitierung der Höhe nach. Der Zeitraum, bis wann Schäden geltend gemacht werden können, ist auch begrenzt. Doch nicht einmal bei dieser Grenze wird man konkret. Der Großteil ist schlicht gelebte Praxis“, fasst Schmalenbach zusammen. Man agiert also weitgehend aus Gewohnheit und informell etablierten Routinen.
Verschiedene Rechtskulturen in Einklang bringen
Die Rechtswissenschaftlerin möchte dieser Intransparenz nun klar nachvollziehbare, aus dem Völkerrecht abgeleitete Rechtsnormen entgegensetzen. „Es geht darum, allgemeine Rechtsgrundsätze des Haftungsrechts zu identifizieren, die eine Brücke zwischen den verschiedenen Rechtskulturen schlagen. Sie müssen dabei sowohl mit menschenrechtlichen Erwägungen als auch mit den Anforderungen der Praxis abgeglichen werden“, betont die Forscherin.
Das ist zum einen rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung. Zum anderen bestehen aber durchaus auch Chancen, dass Aspekte ihrer Arbeit für eine künftige Praxis aufgegriffen werden. Schmalenbach: „Die Publikation, an der ich arbeite, könnte NGOs, die Opfern helfen, schlagkräftige Argumente in die Hand geben. Die UN, auch wenn sie meine Forschung nicht unterstützen, könnten bei künftigen Reformen zudem Aspekte meiner Arbeit aufnehmen. Und schließlich können meine Überlegungen auch für zukünftig mögliche Friedenstruppen der EU – Stichwort Ukraine – relevant werden.“
Zur Person
Kirsten Schmalenbach ist Professorin für Völker- und Europarecht an der Paris Lodron Universität Salzburg. Zu ihren früheren Karrierestationen gehören die Universität Köln, die Universität Bayreuth und die Universität Graz. Als anerkannte Expertin für internationales Recht, die rechtlichen Grundlagen internationaler Organisationen und internationales Umweltrecht war sie unter anderem Beraterin der Außenministerien in Deutschland und Österreich.
Bis Herbst 2025 ist Schmalenbach Senior Fellow am Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS), wo sie zum umweltrechtlichen Thema „Die Rechtspersönlichkeit natürlicher Entitäten“ forscht. Das von 2021 bis 2025 laufende Projekt „Das UN-Schadenersatzrecht für Friedensmissionen“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 370.000 Euro gefördert.
Publikationen
United Nations’ Tortious Liability. Third-Party Claims Arising from Peacekeeping Missions, Edward Elgar Publishing 2026 (forthcoming)
The Great Unknown, General Principles Governing the Law of International Organizations, in: Liber Amicorum for Niels M. Blokker, Brill 2025
Judge and Jury: The UN and the Haiti Cholera Claims, in: International Organization Law Review 2015
Preserving the Gordian Knot: UN Legal Accountability in the Aftermath of Srebrenica, in: Netherlands International Law Review, Vol. 62, 2015