Voneinander lernen

Der FWF hat mit #ConnectingMinds erstmals ein Förderprogramm initiiert, in dem sich Teams aus Wissenschaft und Praxis gesellschaftsrelevanten Themen widmen. Welche Problemstellungen beschÀftigen die Gruppen, die eingereicht haben?
Christian Pohl: Aus ĂŒber 50 Einreichungen qualifizierten sich 11 Projekte fĂŒr die erste Antragsphase. Bei diesen wurden durchaus unterschiedliche Themen aufgegriffen, die von Genderfragen ĂŒber ökologische Themen bis zu gesundheitsrelevanten Fragestellungen reichten. SchlieĂlich wurden fĂŒnf Teams zu einem Hearing eingeladen. In diesen ProjektantrĂ€gen liegt der Fokus klar bei der Gesundheit, etwa zu Fragen in der Pflege, zu Parkinson und zu mentaler Gesundheit rund um die Geburt. Ein Nachhaltigkeitsprojekt will sich der Wertschöpfungskette bei der Rinderzucht widmen.
Eignet sich jedes Thema fĂŒr transdisziplinĂ€re Forschung?
Pohl: GrundsĂ€tzlich ja, wichtig sind jedoch gewisse Rahmenbedingungen wie eine entsprechende Projektlaufzeit, die finanzielle Ausstattung und realistische Zielsetzungen. Die transdisziplinĂ€re Forschung ist dort die richtige, wo man noch nicht genau weiĂ, was das eigentliche Problem im Detail ist, wo es verschiedene Möglichkeiten gibt, das anzugehen, und wo die Beteiligten mögliche Lösungswege auch anders gewichten. Im Englischen spricht man von âwicked problemsâ, also von richtig kniffligen Problemen, zu deren Lösung man zum einen Expertisen aus verschiedenen Disziplinen benötigt, zum anderen Partnerinnen und Partner aus der Praxis, die idealerweise verschiedene Meinungen haben, um vorhandene Konflikte aufgreifen zu können.
âDie transdisziplinĂ€re Forschung ist dort die richtige, wo man noch nicht genau weiĂ, was das Problem im Detail ist.â
Wer definiert Probleme und wie wird man darauf aufmerksam?
Pohl: Das ist eine wichtige Frage. Dem FWF und den Jury-Mitgliedern von #ConnectingMinds war es wichtig, zwei Phasen in der Antragstellung zu haben, wo zunĂ€chst in Workshops das Problem aus einer Idee definiert wird. Dieser konzeptionelle Prozess ist zentral, denn hier geht es darum zu definieren, welche Disziplinen tatsĂ€chlich gebraucht werden, weil sich zum Beispiel anders als geplant herausstellt, dass ein Problem auch ökonomische Aspekte umfasst, also braucht es die Ăkonomie und so weiter. Weiters braucht es die richtigen Praxispartner aus der Gesellschaft. Ideal wĂ€re es daher, diese âProblemumrahmungsphaseâ bis zu einem Jahr auszuweiten und möglichst offen zu lassen. Da kann es dann auch sein, dass sich das ursprĂŒngliche Projektteam noch einmal umgestaltet.
Wodurch heben sich die herausragendsten Projekte von den anderen ab?
Pohl: Die Finalisten haben den Mix an transdisziplinĂ€ren Anforderungen in Kombination mit den Kriterien des FWF fĂŒr exzellente wissenschaftliche Forschung gut erfĂŒllt. Da es um gesellschaftliche Herausforderungen geht, haben wir als Team der transdisziplinĂ€ren Begutachterinnen und Begutachter insbesondere geschaut, ob die Projekte nahe genug an der Praxis sind, um eine Wirkung auĂerhalb der Wissenschaft zu erzielen. Das kann man beispielsweise gut in kleinerem Rahmen in sogenannten âLiving Labsâ oder Reallaboren im Projekt ausprobieren, um zu sehen, ob Lösungsideen funktionieren. Wichtig ist auch die Planung der gemeinsamen Wissensproduktion, das heiĂt zu definieren, wann es wen im Verlauf der Zusammenarbeit braucht, denn transdisziplinĂ€re Prozesse sind komplex und vielschichtig. Ein weiteres Kriterium ist die Frage, mit welchen Methoden sich die Vielfalt der Interessen und Disziplinen gut verbinden lĂ€sst.
Wie wirkt sich die Beteiligung von nicht wissenschaftlichen Akteurinnen und Akteuren auf die Forschenden aus und umgekehrt?
Pohl: Die Ausgewogenheit von Wissenschaft und Praxis ist wichtig. Idealerweise gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem, was in die gröĂere Praxis zurĂŒckfĂŒhrt, und dem, was fĂŒr die Wissenschaft Neues rauskommt. Tief in die Praxis hineinzugehen, kann gerade fĂŒr Grundlagenforscherinnen und -forscher extrem spannend sein. Es bietet ihnen die Möglichkeit, Anregungen ĂŒber Aspekte ihres Forschungsthemas und Fragen mitzunehmen, an die sie vorher nie gedacht haben.
Welche Rolle spielen begleitende MaĂnahmen, wie sie auch im Förderprogramm von #ConnectingMinds vorgesehen sind, um die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in transdisziplinĂ€ren Projekten bei ihrer Karriereentwicklung zu unterstĂŒtzen?
âTief in die Praxis hineinzugehen, kann gerade fĂŒr die Grundlagenforschung spannend sein.â
Pohl: Sie sind ein wesentlicher Teil einer solchen Förderschiene. Publikationen zu veröffentlichen beispielsweise ist wichtig. Ein anderer Aspekt ist, welchen Stellenwert es in Zukunft haben wird, auch transdisziplinĂ€r geforscht zu haben. Es gibt ĂŒbrigens Untersuchungen aus der amerikanischen Public-Health-Forschung, die zeigen, dass in transdisziplinĂ€ren Projekten zwar weniger schnell publiziert wird, am Ende aber mehr Publikationen erscheinen, da sie in verschiedenen Feldern zu neuem Wissen beitragen können. Gerade fĂŒr junge Forschende kann es Vorteile haben, wenn sie jetzt in solchen Projekten mitarbeiten. Dass sich Exzellenz und Praxisbezug dabei nicht ausschlieĂen mĂŒssen, zeigt das Auswahlverfahren bei #ConnectingMinds. Wir haben die gefördert, die disziplinĂ€r und transdisziplinĂ€r exzellent sind.
Welches Zukunftspotenzial hat diese Art der kooperativen Forschung?
Pohl: Die transdisziplinĂ€re Forschung geht raus aus dem Elfenbeinturm und bringt sich direkt in den Prozess der gesellschaftlichen Problemlösung ein. Das wird immer wichtiger, was auch in der EuropĂ€ischen Union im Rahmen von Horizon Europe so gesehen und unterstĂŒtzt wird. Auch wenn sie nicht alles lösen wird, wĂŒrde ich sagen: Setzen wir ein paar Jahrzehnte auf dieses Pferd, das ist sehr vielversprechend. Dementsprechend gibt es in verschiedenen LĂ€ndern Initiativen in diese Richtung, wie in Irland, Deutschland, der Schweiz und Ăsterreich, um eine gute Basis zu schaffen oder weiter auszubauen. Weltweit wurde gerade eben eine Allianz gegrĂŒndet, um die gemeinsame Erforschung groĂer gesellschaftlicher Herausforderungen zu stĂ€rken. Das zeigt, wie Kooperationen von Wissenschaft und Gesellschaft in Europa und auch in Amerika wachsen, gerade dort wo der Rechtfertigungsdruck in der Forschung steigt, im Sinne von: âWas macht ihr fĂŒr uns?â
Partizipation beruht auf demokratischen Prinzipien, kann aber Ungleichheit befördern, etwa wenn benachteiligte Gruppen nicht eingebunden sind. Wie mĂŒssen Projekte aufgestellt sein, damit das nicht passiert?
Pohl: Das ist eine schwierige Frage, und natĂŒrlich gibt es ĂŒberall Defizite, da man nie alle einbeziehen kann. Die Frage zu stellen, âWer fehlt?â, ist deshalb ein typischer methodischer Schritt transdisziplinĂ€rer Projekte. Der Vorteil solcher Projekte ist, dass die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure ĂŒblicherweise lokal zu bestimmten Problemen arbeiten. Daraus entstehen situierte oder beschrĂ€nkte Wahrheiten, das ist richtig. Aber die Frage muss immer auch sein, welche dieser örtlich bezogenen Ergebnisse sich auf eine höhere Ebene ĂŒbertragen lassen. TransdisziplinaritĂ€t findet so gesehen in einer Blase statt, ist aber nicht unbedingt elitĂ€r, sondern lokal.
Eine integrative Forschungspraxis kann neues Wissen befördern und soziale Innovationen antreiben. Findet dieser Wissenstransfer auch in die Politik statt?
âBesonders ist, dass Beziehungen mit den beteiligten Gruppen ĂŒber lĂ€ngere Zeit gepflegt werden, und das schafft Vertrauen.â
Pohl: Das Besondere an den transdisziplinĂ€ren Projekten im Vergleich zur klassischen Forschung ist, dass Beziehungen mit den jeweils beteiligten Gruppen â seien es Interessenvertretungen, Stakeholder oder Verantwortliche aus dem öffentlichen Dienst â ĂŒber lĂ€ngere Zeit gepflegt werden, das schafft Vertrauen. In der Coronapandemie, wo alle schnell reagieren mussten, war das nicht möglich. Jetzt gibt es die Ăberlegung, dauerhafte Gremien zu bilden, wo regelmĂ€Ăiger Austausch stattfindet. Das kann die Schnittstellen jedenfalls durchlĂ€ssiger machen.
Wir wissen auch aus RĂŒckmeldungen von transdisziplinĂ€ren Projekten, an denen die Verwaltung beteiligt war, dass die Art der gemeinsamen Wissensproduktion eine wichtige Erkenntnis ist, die Beteiligte in die Praxis ĂŒbertragen. Das heiĂt, es geht nicht nur um die Resultate, sondern auch um die Methoden. Das hat das Potenzial, neue und stĂ€rkere Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und der Gesellschaft zu schaffen. Eine Förderinstitution wie der FWF kann das unterstĂŒtzen und sich positionieren. Ich denke, wir sind in einer Zeit, in der man solche Projekte braucht, genauso wie die reine Grundlagenforschung.
Christian Erik Pohl ist Umweltwissenschaftler und Wissenschaftsforscher an der ETH ZĂŒrich. Seit den spĂ€ten 1990er Jahren setzt er sich fĂŒr die Entwicklung und Evaluierung von Theorien, Methoden und Werkzeugen in der inter- und transdisziplinĂ€ren Forschung ein. Er ist u. a. Mitautor des âHandbuchs fĂŒr transdisziplinĂ€re Forschungâ (2008), Mitglied des transdisziplinĂ€ren Netzwerks td-net der Akademie der Wissenschaften Schweiz und Co-Direktor des TransdisziplinaritĂ€tslabors TdLab der ETH ZĂŒrich. Seine Expertise hat Pohl zuletzt als Jury-Mitglied im neuen Förderprogramm #ConnectingMinds des Wissenschaftsfonds FWF eingebracht.
Erste transdisziplinÀre Projekte am Start
Ob Digitalisierung, Pflege, Klimaschutz oder Demokratie â das neue Förderprogramm #ConnectingMinds des Wissenschaftsfonds FWF ist themenoffen. Mit Oktober 2021 starten die ersten fĂŒnf transdisziplinĂ€ren Projekte, in denen Forschende und Personen aus der Praxis zusammenarbeiten. Damit unterstĂŒtzt der FWF Teams, die wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiswissen verbinden, um gemeinsam Lösungen fĂŒr aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen zu erarbeiten und kollektives Lernen zu fördern. #ConnectingMinds hat eine Projektlaufzeit von bis zu fĂŒnf Jahren mit einer Fördersumme von maximal einer Million Euro.
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Förderprogramm #ConnectingMinds
Antworten mit Verantwortung - die fĂŒnf Förderprojekte