Social Distancing im Habsburgerreich
HIV, SARS, Ebola und jetzt Corona: zahlreiche Epidemien haben in den vergangenen Jahrzehnten die Hoffnung, die Menschheit würde mit dem technologischen Fortschritt diese Seuchen endlich überwinden, als trügerisch entlarvt. Epidemien, die ganze Landstriche entvölkerten, hat es immer wieder gegeben. Allein der Spanischen Grippe fielen zwischen 1918 und 1920 bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer. Seit der Mensch sesshaft wurde, finden Krankheitserreger in der Zivilisation jene Brutherde, die sie zur Entfaltung brauchen. So auch jenes Bakterium, das Weltgeschichte schrieb: Yersinia pestis, das Pest-Bakterium.
Der „Schwarze Tod“
Die großen Seuchenzüge der Pest durchliefen von der Bronzezeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ganze Kontinente. Nach Mitteleuropa kam der „Schwarze Tod“ 1347 – vermutlich auf Schiffen aus dem Vorderen Orient. Die Hafenstadt Caffa auf der Krim-Halbinsel, das heutige Feodosija in der Ukraine, war damals eine der wichtigsten Handelskolonien Genuas. Von dort breitete sich das Pest-Bakterium über die Handelswege nach Europa aus und raffte zwischen 1347 und 1352 schätzungsweise ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin.
Entdeckung des Bakteriums
Woher die Pest kam, wussten die Menschen im Mittelalter noch nicht. Erst 1894 konnte der französische Arzt Alexandre Yersin nachweisen, dass es sich um eine bakterielle Infektion handelt, die vor allem durch Ratten und andere Nagetiere auf Flöhe und den Menschen übertragen wurde.
Erste Quarantäne in Venedig
Anfangs wurden Kranke ohne besondere Vorkehrungen in örtliche Krankenhäuser gebracht, später kennzeichnete man die Häuser Pestkranker mit einem Kreuz und Betroffene mussten in Zwangsunterkünfte außerhalb der Stadt ziehen. Zunehmend wurde klar, dass man die Ausbreitung durch Isolation der Kranken eindämmen konnte. Im späten 14. Jahrhundert wurde auf einer venezianischen Insel die erste Quarantänestation errichtet. Da die Venezianer einen Zusammenhang zwischen Pest und Schiffsverkehr vermuteten, standen Reisende 40 Tage unter Quarantäne – aus dem italienischen Wort für 40 „quaranta“ abgeleitet.
Rein, verdächtig, faul
Als Folge musste jeder Freihafen eine Quarantänestation haben, die der sogenannten „Venezianischen Ordnung der Lazarette“ folgte. Diese Ordnung sah drei Stufen vor: Traf ein Schiff ein, hatte es entweder ein reines, ein verdächtiges oder ein faules Patent. Faul, wenn es Pestfälle an Bord gab und verdächtig, wenn es von einem Hafen kam, wo die Pest möglicherweise ausgebrochen war.
Keime – wissenschaftliche Theorie zur Quarantäne
Die wissenschaftliche Theorie zur Praxis der Isolation wurde erst im 16. Jahrhundert geliefert: Der italienische Arzt Girolamo Fracastoro stellte durch Beobachtung von Infektionskrankheitsverläufen fest, dass die Ansteckung über Keime erfolgen müsse, die sich an Oberflächen und Kleidung heften. Die Maßnahmen dagegen: Quarantäne, Lagerung, Lüftung und Räucherung. Bis dahin glaubte man seit der Antike an Krankheitsübertragung über faulige Prozesse in Luft und Wasser, sogenannte „Miasmen“.
Militärischer Kordon gegen die Pest
Zusätzlich zur Quarantäne für den Schiffsverkehr gewann in der frühen Neuzeit der militärische Kordon zur Abriegelung eines pestverseuchten Gebietes auf dem Landweg an Bedeutung. „Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Strukturen der Militärgrenzen, die zwei Jahrhunderte zuvor als Abwehr gegen osmanische Einfälle errichtet wurden, zur Abwehr der Pest verwendet“, erzählt Christian Promitzer. Der Historiker der Universität Graz untersuchte in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt die Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Pest, Cholera, Pocken, Typhus, Malaria und Syphilis in Südosteuropa zwischen dem Wiener Kongress 1815 und dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Social Distancing im Habsburgerreich
Das größte Quarantänegebäude lag in Semlin, dem heutigen Zemun, einem Stadtbezirk von Belgrad. Damals lag Semlin auf österreichischem Gebiet und bildete die Grenze zu Belgrad auf der osmanischen Seite. In der sogenannten „Kontumaz-Station“ von Semlin – vom italienischen „contumàcia“ für Quarantäne abgeleitet - gab es neben Gebäuden, in denen Handelswaren zwischen dem Habsburgerreich und den Osmanen für eine gewisse Isolationszeit eingelagert wurden, auch Hütten, wo Menschen für die Dauer der Quarantäne – gruppenmäßig getrennt – untergebracht waren. „Sind sie am Hof spazieren gegangen, durften sie niemanden einer anderen Gruppe berühren, sonst hätte die Gruppe, die in der Quarantäne schon weiter war, wieder von vorne anfangen müssen“, erzählt Promitzer von Social Distancing in dieser frühen Form. Auch Münzen, die zwischen osmanischen und österreichischen Händlern wechselten, mussten für eine gewisse Zeit zur Desinfektion in eine Essiglösung gelegt werden.
Viehschwemmen und Kontumazgabeln
Ein weiterer wichtiger Teil der Quarantänestation Semlin waren die sogenannten Viehschwemmen. Vor allem Schweine, die zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich gehandelt wurden, mussten die Save beziehungsweise die Donau überqueren. „Man hoffte, sie würden durch die Schwemme im Wasser von Viehseuchen gereinigt“, erläutert der Experte. Auch die gesamte Post, die vom Osmanischen Reich über den Landweg in die europäischen Großmächte ging, passierte die Quarantänestation von Semlin und erfuhr eine besondere Behandlung: Die Briefe wurden aufgeschlitzt und geräuchert. Gehalten wurden sie dabei mit der sogenannten Kontumazgabel. „Noch heute kann man, wenn man sich die damalige Post anschaut, die Schlitze sehen, die diese Gabel verursacht hat“, erzählt der Historiker.
Risikogruppe muslimische Pilger
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete die Balkanhalbinsel eine „Pufferzone“ zwischen der Österreich-Ungarischen Monarchie und dem Osmanischen Reich, das als Brutstätte für verschiedene Seuchen galt. Als besondere Risikogruppe in der Verbreitung von Seuchen galten zudem muslimische Pilger. 1865 wurde die Cholera von Mekka-Pilgern, die an den heiligen Stätten des Islam auf der arabischen Halbinsel Kontakt zu Muslimen aus infizierten Gebieten Indiens und Südostasiens hatten, aus Ägypten nach Konstantinopel eingeschleppt. „Für Österreich-Ungarn, das ab 1878 mit der vormals osmanischen Provinz Bosnien-Herzegowina einen beträchtlichen muslimischen Bevölkerungsanteil verwaltete, stellte die jährliche Pilgerreise nach Mekka ein ernsthaftes sanitäres Problem dar“, sagt Promitzer.
„Man muss immer auch den Disziplinarcharakter von Quarantäne und die Stigmatisierung von Gruppen im Auge behalten.“
Quarantäne als Disziplinierungsmaßnahme
Die nach Europa rückkehrenden Pilger wurden am Suezkanal festgehalten und auf der Sinai-Halbinsel in Quarantänestationen untergebracht. „Viele bosnische Pilger versuchten aus Angst, sie würden dort von christlichen Ärzten umgebracht werden, in einer Karawane über den Landweg nach Europa zurückzukehren“, erzählt der Grazer Historiker aus einem Bericht eines damaligen österreichischen Konsuls. Ein Arzt, der vor Ort die Sanitätsmaßnahmen zu überwachen hatte, berichtet von rigiden Maßnahmen, denen die muslimischen Pilger ausgesetzt waren: So mussten sie sich etwa vor christlichen Ärzten nackt ausziehen, die dann medizinische Untersuchungen vornahmen. „Man muss immer auch den Disziplinarcharakter von Quarantäne und die Stigmatisierung von Gruppen im Auge behalten“, gibt Promitzer zu bedenken.
Zyklon B – gegen Läuse und Juden
Dieser Grundgedanke war es auch, der den Slawisten, Germanisten und Historiker zu seinem Forschungsgebiet der Epidemien in Südosteuropa brachte. Anstoß gab die wissenschaftliche Arbeit des britischen Medizinhistorikers Paul Weindling, der die Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland und Österreich erforscht hat. Dabei stellte er fest, dass das nationalsozialistische Regime versuchte, die jüdische Bevölkerung mit Kleiderläusen gleichzusetzten, die Flecktyphus übertrugen. Auch wurde Zyklon B, ein Insektenvernichtungsmittel zur Entlausung von Gebäuden und Kleidung, in Konzentrationslagern zur Vergasung von Jüdinnen und Juden eingesetzt. Promitzer konnte eine ähnliche Übereinstimmung in Bulgarien feststellen: „Die muslimische Bevölkerung wurde als unhygienisch und verlaust angesehen und eine der ersten Disziplinierungsmaßnahmen war die Schur der Haare – gerade für muslimische Frauen ein wahrer Affront“, nennt er ein Beispiel.
„Die Erkenntnisse aus der Cholerapandemie führten zur Verbesserung der Müllbeseitigung, der Kanalisation und der Grundwasserversorgung.“
Modernisierungsschübe durch Epidemien
Seit Ende 2019 ein neuartiges Virus in China auftauchte, dem man den Namen Sars-CoV-2 gab, ist die Wissenschaft gefragt, diesen Erreger zu verstehen und unter Hochdruck an neuen Medikamenten und Impfstoffen zu forschen. Auch frühere Epidemien trieben die Forschung voran: Man suchte nach Ursachen und diskutierte Maßnahmen. „Im 19. Jahrhundert hat eine Diskussion, die quer über den europäischen Kontinent geführt wurde, ob die Pest wirklich eine bakterielle Krankheit sei oder nicht etwa doch durch Miasmen verbreitet würde – was bedeutet hätte, dass man weniger auf Quarantäne und mehr auf Desinfektion setzten müsse – zu einer Hygienereform geführt“, nennt der Experte für Medizingeschichte ein Beispiel.
Cholera – Müllbeseitigung und Kanalisation
Als im Jahr 1830/31 die erste Cholerapandemie über Europa rollte, viele Todesopfer forderte und man merkte, dass dieser Krankheit mit Quarantäne nicht beizukommen war, begann man mit dem Mikroskop nach dem Erreger zu suchen. Vibrio Cholerae, das Bakterium wurde 1854 erstmals – von der Öffentlichkeit unbeachtet – vom italienischen Anatomen Filippo Pacini beschrieben. Ein Jahr später erkannte der britische Arzt John Snow, dass diese Krankheit über verunreinigtes Trinkwasser übertragen wird. „Diese Erkenntnisse führten in der Folge zur Verbesserung der Müllbeseitigung, der Kanalisation und der Grundwasserversorgung in den Städten“, nennt der Grazer Historiker die Modernisierungsschritte, die durch die Erkenntnisse in der Erforschung der Cholera angestoßen wurden.
Fake News aus der Vergangenheit
So wie heute Falschnachrichten, Verschwörungstheorien und Gerüchte in sozialen Netzwerken kursieren, gab es auch früher Fake News: Dabei stand das Osmanische Reich als Brutstätte der Pest unter Generalverdacht. „Obwohl man Mitte des 19. Jahrhunderts die Gewissheit hatte, dass schon mehr als zehn Jahre keine Pest mehr im Osmanischen Reich aufgetreten ist, gab es immer wieder Falschmeldungen in den Zeitungen“, sagt der Historiker. In den 1850er-Jahren reiste eine in Wien ernannte Pestkommission von Ärzten nach Valona, dem heutigen Vlorë in Südalbanien, um Pestgerüchte zu überprüfen. Festgestellt konnte lediglich ein epidemischer Ausschlag werden.
„Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Infektionen als Haupttodesursache von Zivilisationskrankheiten abgelöst.“
Massenpanik
Anfang des Jahres 1879 schlug eine Zeitungsmeldung hohe Wellen als bekannt wurde, dass im russischen Astrachan in einigen Dörfern die Pest ausgebrochen war. Aus Angst, die Seuche könne sich bis nach Österreich ausbreiten, wurden die Grenzen zu Russland und zum Balkan abgeriegelt. Die damalige Massenpanik stellte sich jedoch als übertrieben dar, da die Epidemie in ihrer Ursprungsregion bald erlosch. Diese Episode zeigt wohl auch, wie sehr sich die Angst vor dieser Krankheit in den Köpfen festgesetzt hat. Deutlich wird dieses Erbe auch an Redewendungen: Wenn jemand etwas „hasst wie die Pest“ oder „man jemandem die Pest an den Hals wünscht“.
Von Infektions- zu Zivilisationskrankheiten
Bei der Erforschung von Epidemien setzt sich der Grazer mit einem Thema auseinander, das den Alltag der Menschen über Jahrtausende beeinflusst hat, waren doch Infektionskrankheiten lange Zeit die Haupttodesursache. „Die Menschen starben an Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber, Cholera und der Pest. Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Infektionen in den entwickelten Ländern als Haupttodesursache definitiv abgelöst von Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, weiß der Historiker. Doch taucht ein neues Virus auf, wie Ende 2019 mit Corona, sieht man, wie verletzbar auch unsere technisierte Zivilisation ist und wie stark der Alltag der Menschen plötzlich davon bestimmt sein kann: wenn sie in Isolation sind, Abstand halten und Gesichtsmaske tragen müssen. Und wer weiß, ob der „Babyelefant“ nicht als Maßeinheit in unseren Sprachgebrauch Einzug hält.
Zur Person
Der Historiker Christian Promitzer ist Vertragsassistent an der Universität Graz. Seine Forschungsinteressen sind die Geschichte Südosteuropas, die Sozialgeschichte der Medizin, die ethnischen Beziehungen in Südosteuropa sowie die Geschichte von Slowenien und Bulgarien. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt untersuchte er die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und das Gesundheitswesen in Südosteuropa von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Weiters erforschte er mit Mitteln des FWF versteckte Minderheiten zwischen Zentraleuropa und dem Balkan. Der 58-Jährige studierte Slawistik, Germanistik und Geschichte an der Universität Graz und beherrscht die slawischen Sprachen des südöstlichen Europas.