Menschen im Park bei Sonnenschein mit HochhÀusern im Hintergrund
Können KI-getriebene Systeme in Kommunen und im Staat zu mehr Gerechtigkeit und LebensqualitĂ€t beitragen? © Mason Dahl/unsplash

Wie stellen Sie sich einen modernen Sozialstaat vor? Die Technikforscherin Doris Allhutter kennt die gĂ€ngigste Antwort. „Aktuell“, sagt sie, „stellen wir uns die Modernisierung des Sozialstaates durch die EinfĂŒhrung technischer Systeme, durch Daten und durch KI vor. DarĂŒber stehen oft Leitbilder, die nicht das menschliche Wohlergehen, sondern die Effizienz der Verwaltung in den Vordergrund stellen.“

Die öffentliche Hand – von der Arbeitsvermittlung ĂŒber den Gesundheits- und Sozialversicherungsbereich bis hin zur Stadtverwaltung – versucht, Services fĂŒr BĂŒrger:innen treffsicherer zu machen. DafĂŒr setzen viele Organisationen und Institutionen auf das Sammeln von Daten und auf automatisierte Prozesse, die auf neuen Technologien beruhen. „Es gibt eine weite Bandbreite: von einfachen Systemen, die ĂŒberprĂŒfen, ob alle Daten in AntrĂ€gen vorhanden sind, ĂŒber Chatbots und den Aufbau von Dateninfrastrukturen bis zum Einsatz von KI“, erklĂ€rt Allhutter, die am Institut fĂŒr Technikfolgen-AbschĂ€tzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) arbeitet.

Was bedeutet das nun fĂŒr uns BĂŒrger:innen? Dieser Frage geht Allhutter mit europĂ€ischen Kolleg:innen im Forschungsprojekt „Die Automatisierung von Wohlfahrt“ (AUTO-WELF) nach, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird. Das interdisziplinĂ€re Team erforscht die LĂ€nder Österreich und Deutschland, Italien und Portugal, Estland und Polen sowie DĂ€nemark und Schweden. Jedes LĂ€nderpaar reprĂ€sentiert ein sogenanntes „Wohlfahrtsregime“. Hierzulande ist dieses konservativ-korporatistisch geprĂ€gt. Das bedeutet, Sozialleistungen sind stark an die ErwerbstĂ€tigkeit geknĂŒpft. Soziale AnsprĂŒche von Partner:innen, die sich der Familien- und Pflegearbeit widmen, sind in vielen FĂ€llen nur davon abgeleitet, erklĂ€rt Doris Allhutter.

Wo kommen welche Systeme zum Einsatz?

Die Art automatisierter Systeme und deren Verbreitung sind in den LĂ€ndern und deren Regionen sehr divers. Dennoch beobachteten die Forschenden ĂŒber Europa verteilt Ă€hnliche Entwicklungen. „Erst wurden technische Systeme in einzelnen Bereichen eingesetzt: Viele LĂ€nder versuchten etwa, Arbeitssuchende in Gruppen aufzuteilen. Dadurch wollten sie herausfinden, welche UnterstĂŒtzung sie benötigen“, so Allhutter. Ein Beispiel dafĂŒr ist der Algorithmus, den das österreichische Arbeitsmarktservice (AMS) einzusetzen plante. Ein anderer Einsatzbereich ist der Versuch, datenbasiert „Wohlfahrtsbetrug“ aufzudecken.

Im Rahmen von AUTO-WELF eruieren die Forscherteams, welche Systeme aktuell eingesetzt werden. NĂ€her erforscht werden pro Land zwei Systeme: eines im Bereich der Kernsozialleistungen und eines in der kommunalen Wohlfahrt, beispielsweise der Stadtentwicklung. „Wir untersuchen, wie die Systeme funktionieren – sprich, welche Daten fließen ein, wie werden sie zueinander in Beziehung gesetzt und wofĂŒr sollen sie eingesetzt werden“, erklĂ€rt Allhutter.

Alles fĂŒr die Effizienz

Allhutter und ihr Team interviewten Entwickler:innen, EntscheidungstrÀger:innen und Sachbearbeiter:innen in österreichischen öffentlichen Institutionen. So bekamen sie Einblicke in die technische Entwicklung, den beabsichtigten Nutzen und mögliche Probleme in der Anwendung der Systeme.

„Viele zielen darauf ab, ArbeitsablĂ€ufe und Entscheidungen zu beschleunigen“, sagt Allhutter. Vor allem regelbasierte Systeme können Prozesse effizienter machen, etwa indem sie automatisch ĂŒberprĂŒfen, ob AntrĂ€ge korrekt ausgefĂŒllt wurden. „Diese Systeme arbeiten allerdings nur mit einer begrenzten Anzahl an Parametern.“ Soziale VerhĂ€ltnisse hingegen seien komplex und ließen sich nicht so leicht in Computersystemen abbilden, wendet die Forscherin ein. Mit dem Ergebnis, dass datenbasierte Systeme Entscheidungen nicht zwangsmĂ€ĂŸig objektiver und gerechter machen.

Ungleichheiten inklusive

Zugleich spiegeln Daten gesellschaftliche Ungleichheiten wider, wie man aus der Forschung weiß. Der AMS Berufsinformat schlug etwa Frauen vermehrt Berufe wie Friseurin oder ModehĂ€ndlerin, MĂ€nnern hingegen solche in der IT vor. Die Trainingsdaten, die der KI-basierte Chatbot erhielt, waren voller solcher stereotypen Zuschreibungen. Das AMS musste die Anwendung ĂŒberarbeiten lassen. Das zeigt: Der Einsatz technischer Systeme kann unerwĂŒnschte Folgen haben, in dem er Ungleichheiten fortsetzt.

Der Algorithmus SyRI (System Risk Indication) der niederlĂ€ndischen Regierung ist ein weiteres, extremeres Beispiel dafĂŒr, wie technische Lösungen „falsche“ Ergebnisse ausspucken können. Gespeist mit Bevölkerungsdaten wurde es unter anderem eingesetzt, um aufzudecken, welche Familien unrechtmĂ€ĂŸig Beihilfe bezogen. SyRI ĂŒberprĂŒfte vermehrt Familien mit Migrationshintergrund, die dann ungerechtfertigt die Beihilfe zurĂŒckzahlen mussten. Viele schlitterten dadurch in die Armut – und erfuhren erst Jahre spĂ€ter, warum.

Doris Allhutter sagt dazu: Damit Ungleichheiten sich nicht verstĂ€rken, braucht es einen rechtlichen und institutionellen Rahmen, regelmĂ€ĂŸige ÜberprĂŒfungen und Möglichkeiten der Einsichtnahme durch die BĂŒrger:innen.

Die Folgen fĂŒr Organisationen, StĂ€dte und Sozialstaat

„Wir interessieren uns fĂŒr die Folgen des Einsatzes dieser Systeme. Das geht bis hin zu der Frage, wie sich Sozialpolitik verĂ€ndert, wenn wir Daten sammeln. Auf dieser Basis wollen wir Modelle entwerfen, um herauszufinden, welche Maßnahmen gut funktionieren“, erklĂ€rt die Forscherin. Neue technische Systeme können Organisationen verĂ€ndern, indem etwa eher Menschen mit technischen Kenntnissen eingestellt werden, um diese zu bedienen.

Auch Regionen, StĂ€dte und Gemeinden sammeln Daten – allerdings nicht ĂŒber einzelne Personen, sondern etwa ĂŒber Populationsdichte, Klima- und Umweltfaktoren. Viele versuchen diese auch zu nutzen, sagt die Technikforscherin: „Wir beobachten gerade den Trend, dass StĂ€dte sogenannte digitale Zwillinge erstellen.“ Solche Stadtmodelle können positive Effekte haben: „Mit diesen Modellen lassen sich auch UngleichheitsverhĂ€ltnisse darstellen. Das kann helfen, Schritte zu setzen, um die VerhĂ€ltnisse zu verbessern.“ Ungleichheiten können sozialer Natur sein – etwa schlechtere LuftqualitĂ€t in gewissen Stadtteilen.

Damit datenbasierte Modelle und technische Lösungen positive VerĂ€nderungen anstoßen, sei es wichtig, dass die Menschen, die es letztendlich betrifft, mitentscheiden dĂŒrfen, wo sie eingesetzt werden, plĂ€dieren die Wissenschaftler:innen. Auch aus diesem Grund fĂŒhren die Forschungsteams Workshops mit der Bevölkerung durch. In Österreich gibt es etwa im September 2024 im Rahmen des Ars Electronica Festivals in Linz die Möglichkeit, sich mit den Forschenden auszutauschen. „Wir wollen herausfinden, was die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger wirklich vom Sozialstaat und ihrer Stadt wollen, wenn man von Vorstellungen der Effizienz weggeht“, erlĂ€utert Allhutter.

Die nÀchsten Schritte

Ende Oktober 2025 wird AUTO-WELF abgeschlossen sein. Neben den GesprĂ€chen mit den BĂŒrger:innen werden die Forschenden dann die internationalen FĂ€lle auch im LĂ€ndervergleich analysiert haben. Und zusĂ€tzlich zu den Forschungspapers werden sie auch politische Handlungsempfehlungen fĂŒr die einzelnen LĂ€nder verfassen.

Die vermeintliche Tatsache, dass Sozialstaaten zu wenig Geld zur VerfĂŒgung haben, lasse sich nicht einfach auf höheren Bedarf zurĂŒckfĂŒhren, sondern auf die Verteilung von Ressourcen, betont Allhutter. Was sollte also ihrer Ansicht nach einen modernen Sozialstaat ausmachen? „Er sollte mittels technischer Systeme vor allem eines herstellen: Gerechtigkeit.“

Das Projekt „Automatisierung der Wohlfahrt“ (AUTO-WELF) lĂ€uft von 2022 bis 2025 und wird im Rahmen des europĂ€ischen Forschungsprogramms HERA vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 306.000 Euro gefördert.

Zur Person

Doris Allhutter ist Senior Scientist am Institut fĂŒr Technikfolgen-AbschĂ€tzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie studierte Wirtschaftswissenschaften an der WirtschaftsuniversitĂ€t (WU) Wien, absolvierte das Postgraduate-Programm „Governance in Europe“ am Institut fĂŒr Höhere Studien (IHS) und provomierte an der UniversitĂ€t Wien in Politikwissenschaft. Doris Allhutter lehrt am Institut fĂŒr Wissenschafts- und Technikforschung der UniversitĂ€t Wien und ist Mitglied des UNESCO-Beirats fĂŒr Ethik der KĂŒnstlichen Intelligenz. Sie war Gastforscherin, unter anderem an der UC Berkeley und am Vassar College in New York, sowie Fellow am Paderborner Forschungskolleg „Datengesellschaft“ und am Digital Curation Institute (DCI) an der UniversitĂ€t Toronto.

Publikationen

Kaun A., Lomborg St. et al.: Crosscurrents: Welfare, in: Media, Culture & Society 2023

Allhutter D., Cech F. et al.: Algorithmic Profiling of Job Seekers in Austria: How Austerity Politics Are Made Effective, in: Frontiers in Big Data 2020

Allhutter D.: Of “Working Ontologists” and “High-quality Human Components”. The Politics of Semantic Infrastructures, in: DigitalSTS: A Field Guide for Science & Technology Studies 2019