Philosophie als Sterbegegleiterin
Wenn der Tod eines Menschen absehbar ist, werden die letzten Wochen und Monate zu einer besonderen Zeit. Es ist nicht nur eine Phase des Abschieds und der Trauer, sondern auch der existenziellen Fragen: Habe ich gut gelebt? Hatte mein Leben eine Bedeutung? Was bleibt von mir? In der Sterbebegleitung des Hospiz- und Palliative-Care-Umfelds werden viele Services geboten, die den Weg erleichtern sollen. Mit Psychotherapeut:innen arbeiten Sterbende und ihre Angehörigen an schwerwiegenden Belastungen, in der Supervision versuchen Teams und Mitarbeiter:innen Strategien für gute Sorgearbeit zu finden, die Seelsorge gibt Trost aus religiöser Sicht. Doch die „letzten Fragen“ einer philosophischen Lebensbetrachtung bleiben als solche meist unbesprochen.
Patrick Schuchter und seine Kolleg:innen möchten das ändern. Als ausgebildeter Krankenpfleger mit jahrelanger Arbeitserfahrung und Absolvent eines Philosophiestudiums fiel ihm auf, dass gerade im Hospizbereich beide seiner Ausbildungsfelder relevant sind. Aus seiner Frage, warum die Philosophie bei den zahlreichen Palliativ-Angeboten eigentlich fehle, entstand das Forschungsprojekt „Philosophische Praxis in Palliative Care und Hospizarbeit“, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird.
Kann Philosophie beim Sterben helfen?
Forschende wollen die philosophische Praxis als Hilfestellung im Palliativbereich etablieren.
Philosophie aus dem Elfenbeinturm holen
„Ein Blick zurück in die Antike zeigt ein viel lebensnäheres Bild der Philosophie. Sokrates, Epikur oder Seneca praktizierten ihr Denken im Gespräch am Marktplatz oder in den Häusern der Menschen. Heute scheint die Philosophie dagegen in die akademischen Elfenbeintürme abgedriftet und lediglich eine Sache von Intellektuellen zu sein“, schildert Schuchter. „Die Bewegung der Philosophischen Praxis versucht dagegen, in Alltagskontexten Begleitung anzubieten. Wir untersuchen, ob dieser Ansatz auch im Bereich Palliative Care etwas bringt.“
Die Idee der Philosophischen Praxis entwickelte sich ab den 1980er-Jahren. Sie versteht sich als eine Form des Austauschs mit philosophisch geschulten Menschen, die die Fähigkeit haben, ihr Wissen auf Alltagszusammenhänge zu übertragen. Besonders wichtig dabei ist, dass sie keine Lebenssicht als richtig vorschreibt, sondern lediglich Anregungen zu eigenständigem Denken gibt. Angebote von einschlägig gebildeten Menschen sind international und auch im deutschsprachigen Raum heute vielerorts vorhanden.
Im Zuge des Projekts haben Schuchter und Kolleg:innen 29 interessierte Philosophische Praktiker:innen zu qualitativen Interviews eingeladen. Einige von ihnen sind auch bereits im Umfeld von Hospiz- und Palliativeinrichtungen tätig. Hier wurde vor allem besprochen, ob und in welchen Kontexten der Tod, der Prozess des Sterbens, schwere Erkrankungen oder Trauer in ihrer Tätigkeit bereits vorkommen. Ein Nebenprodukt einer weiteren, internationalen Umfrage war auch, dass eine Landkarte mit Standorten von Philosophischen Praktiker:innen entstand.
Freie Gedanken angesichts des Todes
Ein Einsatz der Praktiker:innen wurde daraufhin in mehreren Projektbausteinen erprobt und evaluiert. Im Rahmen einer Einzelgesprächsstudie sprachen sie in jeweils fünf Sessions mit Menschen, die vom Thema Tod und Trauer betroffen waren. „Unter den Teilnehmenden waren eine Frau, die gerade eine schwere Operation überlebt hatte, eine Hospizmitarbeiterin, deren Vater gerade verstorben war, und ein Krebspatient, der kurz nach der Studie tatsächlich gestorben ist“, gibt Schuchter Beispiele. Nach den Gesprächen wurden die Gäste – ähnlich wie in Hospizen werden mit diesem Begriff Menschen bezeichnet, die die Philosophische Praxis in Anspruch nehmen – interviewt. Sie gaben Auskunft, wie sie die Gespräche erlebt haben und ob diese für sie relevant waren. Weitere Erkenntnisse wurden aus Gruppengesprächen und Workshops mit einem mobilen Palliativteam in Graz und im Rahmen eines Caring-Community-Projekts in Eningen in Deutschland gewonnen.
Aus mehreren Stilrichtungen, die in der Philosophischen Praxis anzutreffen sind, hat sich dabei der sogenannte hermeneutische Stil als zielführend für den Einsatz im Hospizumfeld erwiesen. „Bei diesem Ansatz steht ein offener Dialog im Vordergrund. Man lässt die Menschen erzählen, um allmählich ein philosophisches Thema daraus entstehen zu lassen, das man dann von verschiedenen Seiten betrachten kann“, beschreibt Schuchter. „Diesen Stil haben wir nicht nur am häufigsten angetroffen, er erscheint auch am angemessensten für den palliativen Bereich.“ Das kritische Hinterfragen von Annahmen, das Definieren von Begriffen sowie die Vertiefung in philosophische Texte – Elemente, die in diese Gespräche eingebettet sind – erweisen sich oft als besonders wichtig und fruchtbar.
Die Praktiker:innen stehen dabei vor der schwierigen Aufgabe, die Themen, die die Gäste bewegen, mit philosophischen Positionen zu verbinden – was nicht nur ein tiefgehendes Verständnis philosophischer Inhalte voraussetzt, sondern auch Einfühlungsvermögen und rhetorische Fähigkeiten. „In den Gesprächen soll ein Phänomen in seiner Allgemeinheit betrachtet werden. Es geht nicht darum, ein Problem zu lösen oder einem unmittelbaren Zweck gerecht zu werden“, betont Schuchter. „Im Feld der Philosophischen Praxis tummeln sich viele Ansätze – auch marktschreierische Lebensberatung oder Gespräche, denen ein recht eindimensionaler Leitfaden zugrunde liegt. Hier muss man gut auswählen.“
Der „Betroffenheitsnummer“ entfliehen
Die Ergebnisse der Studien bestätigen erste Erfahrungen aus der Praxis und zeigen, dass die Philosophie durchaus einen Platz in der Palliativversorgung und im Gesundheits- und Sozialkontext haben kann. „Man könnte annehmen, dass beispielsweise eine Psychotherapie, in der man auch allgemein über bewegende Themen sprechen kann, nahe an den philosophischen Gesprächen liegt. Doch nahezu das gesamte Feedback, auch von sehr therapieerfahrenen Menschen, legt nahe, dass die Philosophische Praxis völlig anders erlebt wird – als eine ganz eigene, spezifische Auseinandersetzung mit Lebensthemen. Das hat mich doch überrascht“, hebt Schuchter hervor. „Dieses freie Erkunden der Gedanken ohne ein unmittelbares Ziel scheint eine relevante Dimension des Menschseins zu sein. Einer der Gäste – ein sterbender Patient – meldete etwa zurück, dass er damit ,endlich aus der Betroffenheitsnummer‘ herauskomme.“
In dem Grundlagenforschungsprojekt sollen Relevanz und Möglichkeiten der Philosophischen Praxis für Hospizarbeit und Palliativpflege erkundet werden. In der Auseinandersetzung mit Vertreter:innen aus der Pflege wurde auch bereits erörtert, in welcher Weise sie Eingang in konkrete Palliativangebote, aber auch in Bildung und Ausbildung finden könnte. Die Entwicklung methodischer Richtlinien, das Definieren von Qualitätskriterien und das Erproben konkreter Modelle in Organisationen könnte Teil eines – bereits in Planung befindlichen – Folgeprojekts sein.
Wenn der Tod nahe ist, verblasst auch das damit verbundene gesellschaftliche Tabu und gibt den Blick auf einen wichtigen Lebensabschnitt frei. „Sterben ist eine relevante Phase des Lebens. Hier entstehen noch neue Erkenntnisse und Beziehungen. In diesem Sinne ist ein Hospiz kein Sterbehaus, sondern ein Haus des Lebens“, sagt Schuchter. „Mit der Einbeziehung der Philosophischen Praxis können wir vielleicht dazu beitragen, diesen intensiven Lebensabschnitt etwas adäquater zu gestalten.“
Zur Person
Patrick Schuchter studierte Philosophie in Innsbruck und Paris und absolvierte eine Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger. Bereits in seinem Doktorat an der Universität Klagenfurt widmete er sich der Rolle der Philosophie im Kontext von Palliative Care. Heute ist er Senior Researcher am Zentrum für Angewandte Pflegeforschung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Campus Wien und am Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care Forschung (CIRAC) der Universität Graz. Das von 2022 bis 2026 laufende Projekt „Philosophische Praxis in Palliative Care und Hospizarbeit“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 383.000 Euro gefördert.
Publikationen
Thoughtful Accompaniment in Life's Final Stages: Philosophical Practice as a Complement to Ethics Consultation, in: Bioethics 2025
Radinger, S.: Philosophieren in Gruppen: Vom gemeinsamen Versuch, Grenzerfahrungen zu verstehen, in: Philosophisch sorgen. Praxis Palliative Care Zeitschrift 68, 2025
Schuchter, P.: Philosophieren am Lebensende. Warum Philosophische Praxis in der palliativen und hospizlichen Sorge fehlt - und gebraucht wird, in: Philosophisch Sorgen. Praxis Palliative Care Zeitschrift 68, 2025
Last Questions – How Philosophical Practice Contributes to Developing Death Literacy, in: Palliative Care – Current Practice and Future Perspectives 2023