âGewalt ist in der Geschichte der Normalfallâ

Es ist der 5. Mai 1945, kurz vor Kriegsende in Europa, als die US-Armee das Konzentrationslager Mauthausen befreit. Das einzige auf österreichischem Territorium gelegene nationalsozialistische Konzentrations-Stammlager zĂ€hlte zu den letzten Lagern, die befreit wurden. Mit dem NĂ€herrĂŒcken der Roten Armee von Osten, hatten die Nationalsozialisten begonnen, Lager aufzulösen und die HĂ€ftlinge auf so genannte âEvakuierungsmĂ€rscheâ in Richtung Mauthausen, Gusen oder Ebensee zu schicken. Diese TodesmĂ€rsche kosteten vielen das Leben.
Spuren verwischen
Auch im Stammlager Mauthausen begannen die Wachmannschaften mit dem Verwischen der Spuren â wie der Vernichtung von Unterlagen und der Ermordung von so genannten âGeheimnistrĂ€gernâ, zumeist HĂ€ftlingen, die in den Krematorien arbeiteten. Von der SS und ihren Wirtschaftsbetrieben 1938 errichtet, war das Ziel des KZ Mauthausen neben der Disziplinierung der HĂ€ftlinge durch Einsperren, Foltern und Töten, die Ausbeutung der ArbeitskrĂ€fte im Granitsteinbruch und in der zweiten KriegshĂ€lfte vor allem in der RĂŒstungsindustrie. âBis zur Befreiung 1945 wurden fast 200.000 HĂ€ftlinge im KZ Mauthausen, dem Zweiglager Gusen und den AuĂenlagern interniert, mindestens 90.000 davon kamen ums Leben: Sie starben aus Erschöpfung, verhungerten, erfroren, wurden zu Tode gehetzt, erschlagen, vergast oder exekutiertâ, berichtet Bertrand Perz.
GedenkstÀtte
Der Zeithistoriker der UniversitĂ€t Wien ist wie kein anderer vertraut mit der Geschichte dieses Ortes. Seit Ende der 1970er Jahre ist er KZ-Forscher â und begrĂŒndete damit gemeinsam mit Kollegen ein damals in Ăsterreich noch neues Forschungsfeld. Von 2009 bis 2013 war Bertrand Perz wissenschaftlicher Leiter der Neugestaltung der GedenkstĂ€tte Mauthausen, die seit den 1980er Jahren ein bedeutender Bildungsort ist. JĂ€hrlich kommen 200.000 Besucherinnen und Besucher, ein Drittel davon Schulklassen. Die erste Ausstellung wurde 1970 noch von Ăberlebenden gemacht. Sie war damals die einzige Dauerausstellung zum Thema Nationalsozialismus. âEine historische Ausstellung hat eine Halbwertszeit von maximal 10 Jahren, diese bestand von 1970 bis 2012â, gibt Perz zu bedenken.

Neugestaltung
Bereits Anfang der 1990er Jahre war Perz Mitautor einer kritischen Studie zur KZ-GedenkstĂ€tte Mauthausen, deren Ausstellung seiner Meinung nach sehr an der âOpferthesenâ orientiert war: âĂsterreich wurde als erstes Opfer dargestellt, der Widerstand besonders betontâ, bringt er es auf den Punkt. Es dauerte dann aber noch bis zum Jahr 2000 unter der schwarz-blauen Koalition als der damalige Innenminister Ernst Strasser das Thema aufgriff. âDas hatte natĂŒrlich einen politischen Hintergrund, er wollte sich als antifaschistisch aufgeklĂ€rt zeigen vor dem Hintergrund von Kritik und Sanktionen, dennoch kam Bewegung in die GedenkstĂ€tteâ, analysiert Perz. Es sollte bis 2009 dauern, bis man schlieĂlich an die Konzeption der Neugestaltung heranging. Der grundsĂ€tzliche Gedanke dabei war, die historische Ausstellung als wissenschaftliche Ausstellung zu konzipieren und methodisch vom Gedenken zu trennen.
Ausstellung mit drei Perspektiven
In der 2013 eröffneten Hauptausstellung wird die Geschichte von Mauthausen aus drei Perspektiven erzĂ€hlt: Den Rahmen bildet die Geschichte des Nationalsozialismus und des Krieges. Der zweite ErzĂ€hlstrang prĂ€sentiert die Geschichte des Lagers als Teil eines groĂinstitutionellen Komplexes mit Dependancen â die âTĂ€terperspektiveâ. Die dritte Perspektive ist die der Opfer: Wer waren die HĂ€ftlinge und wie ihre Existenzbedingungen? Eine zweite Ausstellung wurde ĂŒber den âTatortâ Mauthausen gemacht, die dem Bereich der
âViele Leute kommen und fragen, wo ist die Gaskammer, ich habe eine Stunde Zeit.â
Gaskammer, der Krematorien und des Hinrichtungsraumes vorgesetzt ist, der heute einen zentralen Gedenkbereich bildet. âImmer wieder kamen Leute und fragten, wo ist die Gaskammer, ich habe eine Stunde Zeitâ, erzĂ€hlt Perz und fĂŒgt hinzu, âder Schauer soll jedoch nicht das sein, was diese Leute mitnehmen sollen. Die vorgelagerte Ausstellung ist ein Angebot, sich mit der Geschichte des Tötens in Mauthausen ernsthaft auseinanderzusetzen, bevor man den PietĂ€tsbereich betritt. Sie macht auch deutlich, dass im Lager an vielen Orten getötet und gestorben wurde, nicht nur in der Gaskammer.â

NS-Zeit als Bezugspunkt
Bertrand Perz ist sich bewusst, dass fĂŒr junge Leute heute die NS-Zeit schon sehr weit weg ist. Die Frage ist, wie man sie fĂŒr heutige Ereignisse weiter als Bezugspunkt halten kann. âDie NS-Zeit ist nicht einfach geronnene Geschichte, sondern sie hat immer noch ihre Nachwirkungen. Manches kommt hoch, von dem man sich nach dem Krieg nicht vorstellen konnte, dass es noch einmal hoch kommen wirdâ, spielt Perz auf aktuelle politische
âDie NS-Zeit ist nicht geronnene Geschichte. Sie hat noch immer ihre Nachwirkungen.â
Strömungen an. âDie Probleme sind ja sehr kompliziert, aber welch radikale Sprache mittlerweile salonfĂ€hig ist, da habe ich das GefĂŒhl, der jetzigen Generation in Europa ist der Bezug zur NS-Zeit schlichtweg verloren gegangenâ, bedauert Perz und fĂŒgt hinzu, âGedenkstĂ€tten können das allerdings nicht leistenâ. Seiner Meinung nach mĂŒssen GedenkstĂ€tten gesellschaftliche Entwicklungen mit reflektieren, um weiter attraktiv zu bleiben. Dass die Ăberlebenden aussterben, sieht Perz als einen groĂen Bruch, als âĂbergang vom kommunikativen zum kulturellen GedĂ€chtnis. âIn der Zeitgeschichte ist generell der Einspruch der Mitlebenden ein wichtiger, hier geht es aber auch um Zeugenschaftâ, meint Perz. In der Ausstellung werden deshalb Videosequenzen verwendet.

Forschung ĂŒber das KZ-Personal
Kein KZ hatte so viel Personal wie Mauthausen. Als Zielort evakuierter frontnaher Lager wurden nicht nur HĂ€ftlinge in sogenannten TodesmĂ€rschen von Osten her getrieben, sondern auch SS-Personal mit versetzt. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt ist Perz der Frage nachgegangen, wie sich dieses Personal â an die 10.000 Personen â zusammengesetzt hat. Mit ĂŒberraschenden Ergebnissen. Neben dem Kommandaturstab, der den Lagerkomplex leitete und verwaltete, gab es ein sehr heterogenes Wachpersonal. Anfangs setzte sich dieses aus Deutschen, Ăsterreichern und Sudetendeutschen zusammen. Ab Mitte des Krieges wurden deutschsprachige Minderheiten aus Ost- und SĂŒdosteuropa rekrutiert. Ab 1944 wurden Ă€ltere JahrgĂ€nge aus der Wehrmacht ĂŒbernommen und zum Schluss kam Personal aus dem Volkssturm und aus der Wiener Feuerwehr. Entgegen der Eigendarstellung der SS als potente Eliteeinheit hat sich in den Untersuchungen von Perz herausgestellt, dass vor allem jene Personen als Wachpersonal eingesetzt wurden, die als nicht kriegsverwendungsfĂ€hig galten - âdie zweite Garniturâ, wie er pointiert feststellt.
Ideologisch geschulter Kommandaturstab
Eine zweite erstaunliche Erkenntnis war, dass trotz der enormen Fluktuation des Wachpersonals das KZ davon unabhĂ€ngig funktionierte. Der Kommandaturstab war im Wesentlichen aus langjĂ€hrigen SS-Angehörigen gebildet, ideologisch geschult und vielfach hoch gewalttĂ€tig. Zu ihnen gehörten Deutsche, Ăsterreicher und Sudetendeutsche. âDas waren keine ordinary men, sondern ideologische ĂberzeugungstĂ€terâ, so Perz. Im Unterschied dazu war das Wachpersonal ein âdiffuser Haufen von gewöhnlichen Menschenâ, sagt der Historiker und nennt ein Beispiel: âIn Ungarn wird ein 19-jĂ€hriger Bauernbub angeworben, ihm wird alles Mögliche versprochen. Er entscheidet: Ich gehe zur SS. Dann wird er nach Wien gebracht, von dort an irgendeinen TruppenĂŒbungsplatz bei Krakau, wird dort zwei Monate ausgebildet und landet schlieĂlich in Auschwitz oder Mauthausen. Der Weg von âIch gehe zur SSâ zum KZ-Wachdienst dauerte unter UmstĂ€nden zwei, drei Monate. Aber das System war so gebaut, dass es reichte, dass der innere Zirkel des Kommandaturstabes ideologisch gefestigt istâ, erklĂ€rt Bertrand Perz.
GewalttÀter aus allen Schichten der Gesellschaft
Eine Frage, die Perz in seiner KZ-Forschung immer wieder beschĂ€ftigt, ist, wie man die Beschreibung der Institution mit der enormen Gewalt, die an diesem Ort ausgeĂŒbt wurde, zusammenbringt. Das Lagerpersonal hatte vielfĂ€ltige Beziehungen ins Umfeld. SS-Leute hatten ihre Kinder in örtlichen Schulen, Hochzeiten wurden im Lagerstandesamt gefeiert, manche spielten in einer örtlichen FuĂballmannschaft. Wie kann das Spannungsfeld zwischen NormalitĂ€t und Gewalt erklĂ€rt werden? DafĂŒr hat Perz und sein Team die Perspektive auf den Ort geĂ€ndert. Seine Arbeitshypothese war, dass dieser Ort fĂŒr das Personal als Arbeitsplatz zu verstehen ist. âDer SS-FĂŒhrer geht nach dem FrĂŒhstĂŒck mit seiner Aktentasche ins KZ, erledigt
âJede Form von Wissen lehrt einen etwas fĂŒr die Gegenwart.â
Schreibtischarbeit, nimmt nach der Mittagspause an einer Exekution teil und geht am Abend wieder nachhauseâ, beschreibt Perz. Diese SS-Leute kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Wie so etwas möglich ist, dazu gibt es viele soziologische und psychologische Thesen. Es gab Ideen, man könnte Sozialisationsmuster erkennen wie eine stark autoritĂ€re Erziehung. âDie Sozialisation hat natĂŒrlich Effekte, aber diese landlĂ€ufigen ErklĂ€rungen haben sich nicht gehalten. Man geht heute davon aus, dass die Situation selbst, dass ein Staat GewaltausĂŒbung nicht nur erlaubt sondern im KZ sogar verlangt, eine wichtige Rolle spielt. Wie der 19-jĂ€hrige Bauernbub, der plötzlich Herr ĂŒber Leben und Tod ist. Die These ist, man kann alle Menschen zu TĂ€tern machen, wenn man sie in eine bestimmte Situation bringt, dazu gibt es genĂŒgen Experimente. Ohne das Zusammenspiel von Disposition und Situation ist Mauthausen mit 90.000 Toten in einem Ă€uĂerlich friedlichen lĂ€ndlichen MĂŒhlviertel nicht zu erklĂ€renâ, sagt Perz und fĂŒgt hinzu: âIch hĂ€tte frĂŒher geglaubt, dass Gewalt in der Geschichte der Ausnahmefall ist, aber ich sage heute: Die Abwesenheit von Gewalt ist der Ausnahmefall.â
âEingreifendes Denkenâ
Was den 58-JĂ€hrigen in seiner Forschung antreibt, ist das, was Bertold Brecht als âeingreifendes Denkenâ bezeichnet: Er möchte seine Forschung gesellschaftlich relevant halten. Deshalb beschĂ€ftigt sich Perz auch mit Dingen wie der Neukonzeption der GedenkstĂ€tte Mauthausen, war in der Historikerkommission der Republik oder ist SachverstĂ€ndiger bei Prozessen. Ob man aus Geschichte lernen kann? Da ist der Historiker sehr skeptisch. âAber jede Form von Wissen lehrt einen etwas fĂŒr die Gegenwart. Es ist wichtig, zu bestimmten Dingen Stellung zu nehmenâ, ist er sich sicher.
Zur KZ-Forschung
Gesellschaftlich interessiert war der in Linz Aufgewachsene schon frĂŒh. Zuhause gab es heftige politische Diskussionen. Trotzdem begann er zunĂ€chst ein Studium der Geologie um etwas â wie er sagt â Solides zu machen. Er merkt jedoch bald, dass das nicht seine Welt ist und wechselt zu Geschichte, ein Studium, dem er sich âfast liebhaberisch widmetâ, weil er den âLuxus hat, von zuhause finanziert zu seinâ. Ende der 1970er Jahre bekam die
âEs gibt wenige niederschwellige Möglichkeiten, in die Forschung einzusteigen.â
Zeithistorikerin Erika Weinzierl vom damaligen Wissenschaftsministerium unter Hertha Firnberg den Auftrag, zu den AuĂenlagern von Mauthausen zu forschen. Bertrand Perz war gerade in einem Seminar ĂŒber Konzentrationslager und wurde gefragt, ob ihn das interessierte. Das war sein Einstieg in ein neues Forschungsfeld. âDamals war man auch schnell Experte oder Expertin fĂŒr ein Thema, weil in einem kleinen Land kaum jemand anderer auch zu einem speziellen Thema arbeitetâ, erinnert er sich und bedauert, âdass durch die starke Internationalisierung und der Konkurrenz um Mittel in den Wissenschaften die jungen Leute wenig Chancen haben, lange in Forschungsfeldern zu sein und damit auch eine Entwicklung nehmen zu können, ohne sich nach dem Markt zu richten.â Viele seiner Projektmitarbeiter jobben nebenher oder haben nachtrĂ€glich, als zweites Standbein, ein Lehramtsstudium gemacht.
Forschung als Luxus?
Das gilt fĂŒr den UniversitĂ€tsprofessor in zwei Richtungen: Forschen schafft er mit den administrativen Verpflichtungen und Lehre an der gröĂten UniversitĂ€t Ăsterreichs nur noch nebenbei in Randzeiten und in seiner Freizeit. Andererseits sieht er ein Problem beim Ein- und beim Ausstieg: âEs gibt wenige niederschwellige Möglichkeiten, in die Forschung einzusteigen. Mit dem Auslaufen des Zukunftsfonds bricht uns eine Finanzierungsquelle wegâ, bedauert Perz. Deshalb wĂŒrde er sich fĂŒr den Einstieg junger Wissenschafterinnen und Wissenschafter eine Förderung wĂŒnschen, wo der Antrag weniger elaboriert ist, wo es um kleine Projekte und kleinere BetrĂ€ge geht. âDer Antrag beim FWF ist aufwendig und die Bewilligungsquote niedrig. Da braucht man schon Leute mit viel Erfahrungâ, bedenkt er. Was die andere Seite anbelangt, sieht er eine Herausforderung darin, wirklich gute Leute zu halten. âMan kann Leute immer weiter im Drittmittelbereich beschĂ€ftigen. Aber die werden Ă€lter und was ist dann?â, gibt er zu Bedenken und erinnert sich an einen guten Kollegen, der nach einem Stipendium der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften (ĂAW) eine Ausbildung zum KindergartenpĂ€dagogen gemacht hat, um sich abzusichern. âWenn hoch ausgebildete Leute, in die viel öffentliches Geld investiert wurde, nicht ihren Weg weitergehen können, dann lĂ€uft was falsch im Systemâ, sagt Perz. Deshalb wĂŒnscht er sich jenseits von Professorenstellen Möglichkeiten, finanziell abgesichert in der Wissenschaft zu bleiben.
Bertrand Perz ist seit 2006 mehrmals stellvertretender Vorstand des Institutes fĂŒr Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Wien. Er war wissenschaftlicher Leiter der Neugestaltung der GedenkstĂ€tte Mauthausen und Mitglied der Historikerkommission der Republik Ăsterreich. Neben anderen Funktionen ist er Vorstandsmitglied des Vereins Wiener Wiesenthal Institut fĂŒr Holocaust-Studien (VWI), Vorstandsmitglied des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DĂW) und PrĂ€sident der Ăsterreichischen Gesellschaft fĂŒr Zeitgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus und Holocaust, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit, NS-Besatzungspolitik, Erinnerungspolitik und GedenkstĂ€tten.