Raumforscher Alois Humer
Der Geograf und Raumforscher Alois Humer sucht Lösungen fĂŒr eine integrative sowie nachhaltige Stadt- und Regionalplanung. Das Forschungsteam v.l.n.r.: Elisabeth Gruber, Chiara Kupnik, Jiannis Kaucic, Alois Humer, Julia Haberfellner, Yvonne Franz, Sandra Guinand, Peter Görgl und Martina Schorn. © Daniel Dutkowski/UniversitĂ€t Wien

Dutzende Hitzetote in Kanada, verheerende WaldbrĂ€nde in den USA, SĂŒdeuropa und Russland, Starkregen, Überschwemmungen und MurenabgĂ€nge, die ganze Ortschaften unter sich begraben – der Sommer 2021 hat deutlich gemacht: Der Klimawandel ist da und mit ihm Wetterextreme mit all ihren Folgen. Eine aktuelle Studie der UniversitĂ€t Kalifornien zeigt zudem, dass sich die Hitzebelastung in den StĂ€dten weltweit fast verdreifacht hat. Die Ursachen sind Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Verbauung. Hitzeinseln in StĂ€dten, Zersiedelung am Land, steigende Verkehrsbelastung: Die Stadt- und Regionalplanung ist hier gefragt, nachhaltige Lösungen zu finden.  

Österreich verbaut tĂ€glich 16 Fußballfelder

Österreich ist Europameister im Versiegeln seines Bodens. Hierzulande werden tĂ€glich Wiesen und Äcker in einem Ausmaß von 16 Fußballfeldern verbaut. Produktive Böden verschwinden unter Straßen, Siedlungen, Shoppingcentern und Gewerbeparks. Erdreich wird weggebaggert fĂŒr Skipisten, Lifte und Wasserspeicher. Gleichzeitig schĂ€tzt das Umweltbundesamt die GrĂ¶ĂŸe verbauter, aber leerstehender FlĂ€chen auf 40.000 Hektar.

Problem Zersiedelung und „Donutdörfer“

Laut Bodenreport des WWF von Februar 2021 betrifft der FlĂ€chenfraß besonders drei Problemfelder. Einer der Treiber in Österreich ist die Zersiedelung, viele Menschen ziehen an die OrtsrĂ€nder. Gemeinden fransen so immer weiter in die umliegende Landschaft aus. Zweitens drĂ€ngen SupermĂ€rkte, Gewerbeparks und Logistikzentren in der NĂ€he von Siedlungen in GrĂŒnrĂ€ume vor. Die Ortskerne sind gekennzeichnet von leerstehenden GeschĂ€ften und Lokalen. Wenn Ortskerne aussterben und gleichzeitig ihre RĂ€nder wachsen, sprechen Raumplanerinnen und Raumplaner von „Donut-Dörfern“. Durch Abwanderung des Einzelhandels, der ProduktionsstĂ€tten und der Wohngebiete an die OrtsrĂ€nder kommt es wiederum zu einer grĂ¶ĂŸeren Verkehrsbelastung, weil mehr Straßen und ParkplĂ€tze gebaut werden. Österreich hat mit 15 Metern Straße pro Kopf das dichteste Straßennetz Europas. 

Nur noch sieben Prozent „FreirĂ€ume“

Das dritte Problemfeld ist die Errichtung von industriellen Skigebieten und Wasserkraftwerken. Laut WWF gelten nur mehr sieben Prozent der LandesflĂ€che Österreichs als „FreirĂ€ume“. Diese RĂŒckzugsorte fĂŒr die Natur sind zum ĂŒberwiegenden Teil im Gebirge zu finden. Die Folgen der Verbauung sind massiv und weitreichend, denn Böden, die mit Asphalt oder Beton versiegelt sind, verlieren ihre biologische Funktion: Sie können kein Wasser verdunsten, heizen sich stark auf und erhöhen die lokale Temperatur. Versiegelter Boden erhöht zudem das Hochwasserrisiko, weil er kein Wasser aufnehmen kann – angesichts der zu erwartenden Zunahme von Starkregenereignissen und Überschwemmungen ein drĂ€ngendes Umweltproblem.

Bedrohte Artenvielfalt und geringere landwirtschaftliche Produktion

Straßen zerschneiden auch Landschaften und verhindern damit die Ausbreitung und Wanderung von Pflanzen und Tieren. Das wiederum bedroht die Artenvielfalt. Der fortschreitende Bodenverbrauch, der zumeist landwirtschaftlich genutzten Boden betrifft, hat neben den ökologischen auch negative wirtschaftliche Folgen. Ackerland fĂŒr die Nahrungsmittelproduktion geht verloren – die AbhĂ€ngigkeit von Lebensmittelimporten steigt.

„Die Neubildung von 1 cm3 Humus dauert 100 bis 200 Jahre.“ Alois Humer

Raumentwicklung und Klimawandel langfristige Prozesse

Bodenversiegelung kann zwar rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden, doch die Entsiegelung ist ein kostspieliger und zeitaufwendiger Prozess. Und zu bedenken ist auch: Bodenneubildung ist langwierig, denn die Neubildung von 1 cm3 Humus dauert 100 bis 200 Jahre. Damit wird das Schwierige an der Raumentwicklung ersichtlich: Es handelt sich, wie beim Klimawandel auch, um einen sehr langfristigen Prozess. In der Raumforschung spricht man von der „Persistenz des Raumes“: Einmal gesetzte, raumfeste AktivitĂ€ten wie Bauten und Straßenverbindungen bleiben ĂŒber lange Zeit bestehen und können einander sogar noch verstĂ€rken. Diese Langfristigkeit ist ein großes Problem. Aber – und das ist die gute Nachricht – sie kann sich genauso gut positiv auswirken. Denn erzeugt man jetzt schon Raumstrukturen, die zum Beispiel wenig unnötigen Verkehr nach sich ziehen, oder ermöglicht man Wohnumfelder, wo es kurze Wege zu Bildung, Dienstleistungen, Gesundheitsversorgung und Naherholung gibt, dann wirken diese genauso langfristig – aber eben positiv!

Neuer Fokus auf alte Strukturen

„Es ist eine große Herausforderung, das in der Praxis richtig zu machen“, sagt Alois Humer. Doch wenn zum Beispiel der Fokus in InnenstĂ€dten weg von autogerecht hin zu fußgĂ€ngergerecht gelegt wird, gewinnen oft jahrhundertealte Strukturen wieder an Bedeutung. Der Geograf der UniversitĂ€t Wien nennt ein Beispiel: „Bei der Untersuchung von KleinstĂ€dten – wie etwa Mödling – erkennt man, dass StraßenzĂŒge in der Altstadt, die vor Jahrhunderten angelegt wurden und noch da sind, wieder gut verwendbar sind.“

Legt man den Fokus in InnenstĂ€dten von autogerecht auf fußgĂ€ngergerecht, gewinnen oft jahrhundertealte Strukturen wieder an Bedeutung. So wie hier in Mödling. © Gerhard Wild/picturedesk.com

„Da ist der Hund begraben“

Eine grundsĂ€tzliche Schwierigkeit in der Raumplanung sieht der Experte in einem Widerspruch zwischen der Begrenztheit des Raumes und der Tatsache, dass unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf Wachstum ausgerichtet ist. „Da ist von vornherein der Hund begraben“, stellt er fest und sieht in diesem Konflikt eine höchst gesellschaftsphilosophische Frage. „Wir können nicht jedem Mitglied der Gesellschaft die volle, rĂŒcksichtslose Entwicklung im Raum zugestehen. Es braucht die demokratisch richtigen Mittel, um den Raum zu verteilen und Raumgerechtigkeit zu schaffen. Das ist in der Praxis sehr schwer. Das können wir nur als Gesellschaft beantworten“, stellt der 40-JĂ€hrige fest. Dieser Prozess wird zudem erschwert durch verschiedene Zeitlichkeiten: Die Gesellschaft denke in Alltagsschritten, die entscheidungsbeauftragte Politik denke in Wahlzyklen, aber rĂ€umliche Entwicklung sei in Jahrzehnten zu denken.

„Es braucht demokratisch richtige Mittel, um den Raum zu verteilen.“ Alois Humer

Zersplitterte Kompetenzen

Erschwerend kommt hinzu, dass in Österreich die Kompetenzen ĂŒber raumwirksame Politikbereiche zwischen Bund, LĂ€ndern und Gemeinden zersplittert sind. Der Bund ist etwa fĂŒr Forst- und Wasserrecht zustĂ€ndig, die LĂ€nder fĂŒr Raumplanung und Bauordnung. Die Gemeinden dĂŒrfen die FlĂ€chen aber letztendlich umwidmen. So entscheiden BĂŒrgermeisterinnen bzw. BĂŒrgermeister, ob ein Gewerbepark errichtet wird oder nicht, und Gemeinden buhlen um Betriebe, die sich auf deren Gebiet ansiedeln und schließlich ĂŒber die Kommunalsteuer Geld in die Gemeindekasse spĂŒlen. In Österreich gibt es gut 2.000 Gemeinden, die jede fĂŒr sich fĂŒr die Raumplanung zustĂ€ndig sind.

Globale Ziele regional umsetzen und Gemeinden vernetzen

Wie diese Herausforderungen der Raumplanung angesichts der KlimaerwĂ€rmung gelöst werden können? Die globalen Ziele, so der Geograf, mĂŒssen zuallererst auf die regionale Ebene der Ortschaften, Gemeinden und StĂ€dte heruntergebrochen werden. So erst seien sie ĂŒberhaupt bearbeitbar.

Danach ist die erste, wichtigste Strategie die Vernetzung von Orten und Regionen. Man mĂŒsse großrĂ€umiger denken. Schon jetzt gibt es immer mehr Initiativen, bei denen sich mehrere Kleingemeinden zu ĂŒberregionalen Kooperationen zusammenschließen. Ein Beispiel ist die oberösterreichische INKOBA (Interkommunale Standortentwicklung und Betriebsansiedlung). Dort schaffen mehrere Gemeinden nur einen, zentralen Industriestandort, dessen Abgaben allen Gemeinden zugutekommen und nicht nur jener, wo sich das Gewerbe ansiedelt.

City Deals – integrative Raumordnung ĂŒber Anreize

Es gibt eine Reihe internationaler Beispiele fĂŒr solche ĂŒberregionale Vernetzung. In Großbritannien gibt es die sogenannten City Deals. Über Anreize soll integrative Raumordnung gefördert werden. Stadtregionen schließen mit der nationalen Ebene VertrĂ€ge fĂŒr Sonderförderungen von Großprojekten ab. So können beispielsweise Wohnstandorte mit Netzen des öffentlichen Verkehrs verknĂŒpft werden. Ein Ă€hnliches Beispiel gibt es in Finnland mit den sogenannten MAL-Agreements, wo Sektoren wie FlĂ€chenwidmung, Wohnungs- und Verkehrswesen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen in Regionen – auch ĂŒber Gebietskörperschaften hinweg – gemeinsame Standortstrategien verfolgen. FĂŒr diese Initiativen gibt es dann Sonderfördertöpfe des Bundes. „Das mĂŒsste man sich in Österreich trauen“, sagt der gebĂŒrtige Oberösterreicher. „Man wĂŒrde zwar die Kompetenzen nicht Ă€ndern, aber ĂŒber weiche, finanzielle Anreize zu regionaler intersektoraler Kooperation ein nationales Mitspracherecht ermöglichen. So kann man Lösungen finden, die in der Gesamtschau auf Österreich Sinn machen.“

Handel mit FlÀchenzertifikaten

Ein weiterer strategischer Ansatz ist der Handel mit FlĂ€chenzertifikaten, Ă€hnlich dem CO2-Handel. WĂ€hrend in boomenden Regionen FlĂ€che verbraucht wird, um Wohnraum zu schaffen, wird umgekehrt in Abwanderungsregionen versucht, LeerstĂ€nde zu beseitigen bzw. VerkehrsbrachflĂ€chen zu renaturieren. So könne man insgesamt auf ein Nullwachstum an Bodenverbrauch kommen. Die Schweiz hat sich zum Beispiel Nullhektar-Zuwachs zum Ziel gemacht. Das seit Mai 2014 geltende Raumplanungsgesetz (RPG) besagt, dass neue Einzonungen von Bauland unzulĂ€ssig sind, bis die Kantone ihre RichtplĂ€ne revidiert und ĂŒberdimensionierte Bauzonen reduziert haben. Laut Humer ist diese Idee von FlĂ€chenzertifikaten auch in Deutschland schon gediehen, in Österreich stecke sie noch in den Kinderschuhen.

Mit rund 240 Hektar FlĂ€che gehört die im 22. Wiener Gemeindebezirk gelegene Seestadt Aspern zu den grĂ¶ĂŸten Stadtentwicklungsgebieten Europas. © Gilbert Novy/picturedesk.com
Die Seestadt Aspern ist laut Alois Humer ein Beispiel fĂŒr gelungene Planungskultur. Zum einen, weil die öffentliche Anbindung mit der U2-VerlĂ€ngerung bereits vor Baubeginn vorhanden war, zum anderen gibt es ein breites Angebot an unterschiedlichen Wohnformen, Nahversorgung und Dienstleistungen. © Wilfried Gredler/picturedesk.com

Seestadt Aspern – gelungene Stadtplanung

Ein Beispiel fĂŒr gelungene Planungskultur sieht Humer in der Seestadt Aspern in Wien. Zum einen war durch die U2-VerlĂ€ngerung die öffentliche Anbindung bereits vor Baubeginn vorhanden. Zum anderen gibt es ein breites Angebot an unterschiedlichen Wohnformen (Miete, Eigentum, sozial geförderte Wohnungen, Baugruppen), Nahversorgung und Dienstleitungen. Die Idee, die Wien-Bratislava-Verbindung ĂŒber die Seestadt zu fĂŒhren, findet Humer spannend, auch im Sinne des großpolyzentralen Raumes Wien–Bratislava.

Im stĂ€dtischen Wohnbau setzt man vermehrt auf grĂŒne AusgleichsflĂ€chen, die sowohl fĂŒr das Mikroklima als auch die Artenvielfalt in der Stadt wichtig sind. Im Bild Hochbeete in der Seestadt Aspern. © Robert Newald/picturedesk.com

Klein- und MittelstÀdte stÀrken

Neue stĂ€dtebauliche Konzepte orientieren sich einerseits am sogenannten Transit-Oriented Development (TOD), bei dem die Bebauung mit einem Verkehrskonzept mit öffentlicher Anbindung einhergeht – wie eben bei der Seestadt Aspern. Andererseits sollen in Zukunft die Klein- und MittelstĂ€dte als Standorte der Bildungs- und Gesundheitsversorgung gestĂ€rkt werden. „Hier braucht es Kostenwahrheit. Es muss gefördert werden, wenn in der NĂ€he von öffentlicher Anbindung gebaut wird und eben nicht in der Peripherie, wo Boden versiegelt und Autoverkehr mit all seinen Folgekosten verursacht wird“, sagt Humer.

Die Zukunft ist Sharing

Die Zukunft sieht Humer in Sharingkonzepten. Und das bezieht er nicht nur auf den Verkehr, sondern auch den öffentlichen Raum und den Wohnraum. „Teilen muss aber so flexibel, unkompliziert und leistbar sein, dass man sich gar kein Auto mehr leisten will“, sagt er. In den InnenstĂ€dten ist das Auto ein Auslaufmodell. So sieht die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europĂ€ischen Stadt“ der EU-Mitgliedstaaten vor, dass es 2050 in den InnenstĂ€dten keine Autos mehr geben soll. „Wenn das der Fall ist, wird man sehen, wie viel Raum den Menschen plötzlich wieder zur VerfĂŒgung steht.“

„Teilen muss so flexibel und leistbar sein, dass man sich kein Auto mehr leisten will.“ Alois Humer

BegrĂŒnung gegen Hitze in den StĂ€dten

Laut einer aktuellen Studie der UniversitĂ€t Kalifornien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Belastung durch extreme Hitze in StĂ€dten weltweit fast verdreifacht. Der Anstieg sei eine Kombination aus Bevölkerungswachstum und KlimaerwĂ€rmung. Sogenannte „Hitzeinseln“ werden in StĂ€dten ein zunehmendes Problem. Die Stadtplanung versucht darauf zu reagieren, indem sie begrĂŒnte Fassaden oder AusgleichsflĂ€chen schafft, die der Erholung und dem Mikroklima dienen sollen. Ein Beispiel dafĂŒr ist die „grĂŒne Mitte“ im Wiener Nordbahnhofviertel. Von den ursprĂŒnglichen PlĂ€nen, nicht höher als sechs Stockwerke zu bauen, dafĂŒr aber ĂŒber das gesamte Areal, ist man wieder abgewichen. Stattdessen wird zehn- bis zwölfstöckig gebaut und eine „grĂŒne Mitte“ ĂŒbriggelassen. Diese ist sowohl fĂŒr das Mikroklima als auch fĂŒr die Artenvielfalt in der Stadt wichtig. „In einer solchen stĂ€dtischen ‚Gstettn‘ gibt es mehr Artenvielfalt als auf Böden mit intensiver, dann meist monokultureller landwirtschaftlicher Nutzung“, sagt Humer.

FĂŒhrt die Pandemie zur Stadtflucht?

Die StĂ€dte wachsen weltweit und die Problemfelder Wohnraum, Hitze und Verkehr drĂ€ngen nach Lösungen. Gleichzeitig scheint mit der Coronapandemie das Stadtleben an AttraktivitĂ€t verloren zu haben. Zumindest wenn man Meldungen ĂŒber eine gestiegene Nachfrage nach Wohnraum außerhalb der StĂ€dte Glauben schenken möchte. Aber ist es tatsĂ€chlich so, dass diese gesellschaftliche Erfahrung die Kraft hat, den Trend zur Urbanisierung umzudrehen? „FĂŒr eine nachhaltige Stadtentwicklung war die Coronapandemie keine gute Nachricht“, sagt Alois Humer. Er sieht das 21. Jahrhundert klar als das Zeitalter der Urbanisierung und des Wiedererstarkens der InnenstĂ€dte. „Aktuelle Arbeiten vor der Pandemie zeigten etwa, dass auch Jungfamilien in der Stadt bleiben, dass durch pluralistische Lebensstile, die Bildung, Kultur und InternationalitĂ€t suchen, das Urbane gewonnen hat“, fĂŒhrt er aus.

Dann jedoch kam die Pandemie, mit ihr die Maßnahmen gegen ihre Ausbreitung. Plötzlich wurden die Vorteile des Stadtlebens ausgehebelt. Es sah so aus, als wĂŒrden Haushalte, die in der weniger dicht besiedelten Suburbia oder am Land leben, besser mit der Krise zurechtkommen. Denn die Natur war dort erreichbar. Der Spaziergang erlebte eine ungeahnte Renaissance. Die Dichte der Stadt wurde zum Nachteil. Wird die Pandemie also die Kraft haben, den Trend zur Urbanisierung wirklich umzudrehen? Humer bezweifelt das: Die Geschichte zeige, dass sich langfristige soziodemografische Trends durch gesellschaftspolitische Interventionen nicht aufhalten lassen. Ob sich diese Zweifel bestĂ€tigen, daran forschen Humer und sein Team am Institut fĂŒr Geographie und Regionalforschung der UniversitĂ€t Wien gerade im Rahmen eines vom FWF geförderten Akutprojekts.

„Stimmung gegen das Stadtleben zu machen, ist ein problematisches Spiel.“ Alois Humer

KartengestĂŒtzte Online-Umfrage unter 30.000 Haushalten

Dazu werden die Forschenden eine groß angelegte Befragung unter 30.000 österreichischen Haushalten aus Stadt, Suburbia und Peripherie starten. Befragt werden die Menschen nach der Zufriedenheit mit ihrer Wohnsituation bzw. ihrem Wohnumfeld und ob sich wĂ€hrend der Pandemie etwas daran geĂ€ndert hat. Dabei kommt eine neue Methode zur Anwendung, die eine standardisierte Umfrage mit kartografischen Elementen verbindet: Mit „Maptionnaire“ kann man den Aktionsradius einer Person im Alltag erheben und die gesammelten Ergebnisse mit statistischen Daten wie Alter, Kaufkraft usw. hinterlegen. Entwickelt wurde diese Methode an der Aalto-UniversitĂ€t in Finnland. Dort hatte Humer von 2017 bis 2020 mit einem Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF zu strategischer Raumplanung in schrumpfenden StĂ€dten und Regionen gearbeitet. Geplanter Start der Umfrage ist voraussichtlich FrĂŒhjahr 2022.

Im Moment arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Entwicklung des Fragebogens, basierend auf einer Medienanalyse. Dabei möchte Humer mediale Berichte, die rĂ€umliche Konsequenzen der Pandemie ansprechen, wie etwa vermehrte Stadtflucht, evidenzbasiert hinterfragen. „Wir werden ĂŒberprĂŒfen, wie fundiert diese Nachrichten sind und ob sie zum Beispiel Immobilien an peripheren Standorten anpreisen. Mediale Stimmung pro Wohnen auf dem Land ist angesichts der damit verbundenen Probleme wie ineffizienter Bodennutzung und Zersiedelung ein problematisches Spiel“, sagt Humer.

Digitalisierung und FlÀchenverbrauch

Ein weiterer wichtiger Faktor fĂŒr die Stadt- und Regionalentwicklung, der in den letzten zehn Jahren zugenommen und durch die Pandemie einen enormen Schub erfahren hat, ist die Digitalisierung. Homeoffice und Onlineshopping sind die im Alltag spĂŒrbarsten raumrelevanten neuen EinflĂŒsse. Ist Onlinehandel effizienter, also wenn die Ware zum Kunden kommt und nicht mehr der Kunde zur Ware? Wie sieht die Bilanz des FlĂ€chenverbrauchs aus? Humer hat noch keine wissenschaftlich belegte Antwort darauf, aber er stellt die These auf, dass die Digitalisierung mehr FlĂ€che verbraucht. Etwa der boomende Onlinehandel verbraucht FlĂ€che durch Logistik und Infrastruktur.

„Durch die fortschreitende Digitalisierung verbrauchen wir vermutlich noch mehr FlĂ€che.“ Alois Humer

Bisweilen verbinden sich der reale und der digitale Raum. Aktuelles Beispiel hierfĂŒr ist der neu eröffnete IKEA am Wiener Westbahnhof. Das Möbelhaus wirbt mit autofreiem Einkaufen, verfĂŒgt weder ĂŒber ParkplĂ€tze noch ĂŒber LagerrĂ€ume. Bestellt wird online oder vor Ort digital. Die Ware wird geliefert – allerdings natĂŒrlich wiederum mit dem Auto. Schon allein um die Daten zu speichern, braucht es immer grĂ¶ĂŸere Rechenzentren, die auch Land verbauen, Energie verschlingen und in Ökosysteme eingreifen. Die Gesellschaft muss sich im Umgang mit der Digitalisierung erst zurechtfinden. Sehr bedenklich findet Humer VertrĂ€ge mit unlimitiertem Datenvolumen. „Das ist, wie wenn man den Wasserhahn und die Heizung voll aufgedreht lĂ€sst“, zieht er einen Vergleich und stellt fest: „Die Digitalisierung Ă€ndert nichts an der Wegwerfgesellschaft.“

Die Raumplanung der Zukunft

Es sind viele Argumente und Faktoren im Spiel, wenn ĂŒber die Stadt- und Regionalplanung der Zukunft diskutiert wird. Daher, so Humer, ist die interdisziplinĂ€re Ausbildung zukĂŒnftiger Professionalistinnen und Professionalisten in der Raumordnung extrem wichtig. In der Zusammenschau, ĂŒber die seine Disziplin verfĂŒgt, sieht der Geograf eine große Lösungskompetenz fĂŒr die komplexen, vielfĂ€ltigen Probleme, die sich in einer Stadt zeigen: „Von Bodenversiegelung ĂŒber Hitzeinseln bis hin zu sozialer Gerechtigkeit, alle Themen zeigen sich in der Stadtentwicklung und wir sind diejenigen, die diese Entwicklungen lesen können.“ Das Bewusstsein fĂŒr eine langfristige, integrative Planungskultur zu schaffen, die sich abhebt von EinzelfĂ€llen – das ist die große Herausforderung. Die Zukunft ist jetzt: Im Oktober 2021 startet ein neuer Geografie-Master mit Schwerpunkt Globaler Wandel und Nachhaltigkeit. Diese neue Generation von Geografinnen und Geografen wird sich diesen komplexen, richtungsweisenden Fragen stellen.

Zur Person

Alois Humer ist Professor fĂŒr Raumforschung und Raumordnung am Institut fĂŒr Geographie und Regionalforschung der UniversitĂ€t Wien. Der gebĂŒrtige Oberösterreicher studierte Geografie an der UniversitĂ€t Wien, forschte von 2017 bis 2020 im Rahmen eines Erwin-Schrödinger-Stipendiums des FWF an der Aalto-UniversitĂ€t in Finnland ĂŒber strategische Raumplanung fĂŒr schrumpfende RĂ€ume. In dem FWF-geförderten Akutprojekt CURB untersucht sein Team die langfristigen Auswirkungen der Coronapandemie auf die Stadt- und Regionalentwicklung.