„Bonität wird nicht nur vom Konto abgelesen“
Sie sind Ethnologin und forschen im Bereich der ökonomischen Anthropologie. Was genau untersuchen Sie?
Silke Meyer: In der Anthropologie untersuchen wir die allgemeine Frage, wie Menschen zu Mitgliedern von Gruppen werden, also wie sie sich vergesellschaften. Eine Antwort lautet: Menschen setzen sich durch Tausch in Beziehung zueinander. In meinem Fachbereich heißt das, wir sehen uns an, wie wir konsumieren, Geld ausgeben, Geld sparen oder Geld investieren und welche soziale Funktion das jeweils hat.
Wie strukturiert Geld soziale Beziehungen?
Meyer: Neben dem ökonomischen Kapital, also Geld und Besitz, gibt es auch das kulturelle Kapital. Das können bestimmte Fertigkeiten sein, wie zum Beispiel Geige spielen, ein Universitätsabschluss oder der Besitz von Statussymbolen wie einem teuren Gemälde. Dann haben wir noch das soziale Kapital, das die Mitgliedschaft in verschiedenen sozialen Gruppen ermöglicht. Wie diese Kapitalien untereinander konvertierbar sind, sagt viel über den sozialen Hintergrund aus. Man sagt ja zum Beispiel allgemein, dass man Freunde nicht kaufen kann. Wir wissen aber, dass Freundschaft quasi überall gekauft wird, sei es auf dem Spielplatz oder im Golfclub. Soziales Kapital lässt sich also auch in ökonomisches konvertieren, ohne dass es offen ausgesprochen wird. Das Ökonomistische wird dabei also verschleiert. Diese komplexen Zusammenhänge und Regeln schauen wir uns an.
Unsere Geldpraktiken sind also mehr als ein materielles Kosten-Nutzen-Abwägen?
Meyer: Schaut man in die gesellschaftliche Mitte, zeigen sich Konventionen, wo Geld ausgegeben werden kann – auch mehr als man hat – und wo das verpönt ist. Wir alle gehen mit unserem Budget unterschiedlich um, das ist auch eine sehr aktuelle Frage in Zeiten von Teuerungen. In bestimmten Bereichen kann es etwas mehr sein, in anderen ist das gesellschaftlich tabuisiert. Das ist nicht für alle gleich. Je nachdem, wo ich mich sozial positioniere, gelten unterschiedliche Regeln. Das neueste Handy zu kaufen und sich dafür zu verschulden, ist in manchen Kreisen gang und gäbe – da es ein Konsumartikel ist, dem viel Bedeutung beigemessen wird. In anderen ist das verpönt, weil die Meinung vorherrscht, dass man das Geld erst haben muss, bevor man es für Luxusartikel ausgibt. Aus wissenschaftlicher Sicht interessiert uns, wo dieser demonstrative Konsum einsetzt. Das ist sozial sehr unterschiedlich.
„Wo demonstrativer Konsum einsetzt, ist sozial sehr unterschiedlich. “
Über Geld spricht man nicht, so das Sprichwort, woher kommt das?
Meyer: Auch das ist eine gesellschaftliche Konvention, die aber meines Erachtens für unsere heutige Gesellschaft so nicht mehr gilt. Diese Beobachtung knüpft vor allem an meine Erkenntnisse aus der Verschuldensforschung an. Über Schulden wird heute offener geredet als noch vor 20 oder 30 Jahren, wo das ein Stigma war, vergleichbar mit Arbeitslosigkeit. Beides kann unterschiedliche externe Ursachen haben, die eher in sozialen und strukturellen Hintergründen wurzeln als in der Persönlichkeit der Menschen.
Was macht das mit Menschen, wenn sie verschuldet sind?
Meyer: Ich habe viele Interviews mit verschuldeten Personen geführt. Auffällig dabei ist, dass die persönlichen Geschichten oft in Erzählmuster gekleidet sind und so Deutungen und soziale Positionen anbieten. Das reicht vom Underdog, der sich gegen die großen Banken durchsetzen muss, bis zu Revisionsgeschichten, wo Menschen ihre Schuldenkrise als positiv erleben, weil sie dadurch einen Perspektivenwechsel auf das Wesentliche im Leben vollziehen konnten. Diese soziale Positionierung ist wichtig für die Betroffenen, die sich oftmals als marginalisiert empfinden, weil es ihnen einen positiven Umgang mit Identitätsbildung erlaubt.
„Die Insolvenzordnung gibt vor, wie man sich nicht nur finanziell, sondern auch moralisch entschulden kann. “
Ich habe dabei festgestellt, dass solche Erzählungen entlang der Insolvenzordnung funktionieren. Diese gibt ein Muster vor, wie man sich nicht nur finanziell entschulden kann, sondern auch moralisch, indem man selbstverantwortlich handelt, Eigeninitiative zeigt und sparsam ist (neoliberale Tugenden) – ohne aber dass Sparsamkeit alles überschatten würde. Denn für die Verschuldeten ist es wichtig, sich auch mit wenig Geld noch etwas leisten zu können. Man will sich nicht in einer ökonomischen Falle gefangen sehen. Das ist der Grund, warum es in den 1990er- und 2000er-Jahren so stark zu Überschuldung gekommen ist. Die Handlungswirksamkeit, also sich selbst als Konsument:in zu begreifen, war dominant. Man wollte nicht aus dem Konsumkreis ausgeschlossen sein, der Gesellschaft bestimmt.
Die Ökonomisierung der Gesellschaft brachte das Versprechen von Freiheit und Selbstverwirklichung. Haben sich in Wahrheit unsere Abhängigkeiten nicht verstärkt?
Meyer: Die Entwicklung des Finanzwesens seit den 1990er-Jahren hat vielfach Freiheit versprochen, aber Abhängigkeiten auf ungute Weise verstärkt. Konsumentenkredite wurden mit unendlichen Möglichkeiten für alle beworben und leicht und schnell vergeben. Die Digitalisierung hat hier neue Wege eröffnet, die nicht für alle Beteiligten gut waren. Wir wissen aus den anthropologischen Theorien, dass Tausch einer beiderseitigen Anerkennung bedarf. Im Bankgeschäft ist das die Feststellung von Bonität, die nicht nur vom Kontostand abgelesen wird, sondern eben auch eine soziale Dimension hat. Manchmal hat Kreditwürdigkeit erstaunlich wenig damit zu tun, wie viel Geld eine Person hat.
Sie haben sich mit Kreditpraktiken in den USA und Deutschland beschäftigt. Diese beiden Kulturen unterscheiden sich stark im Umgang mit Geld. Was haben Sie herausgefunden?
Meyer: Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist der Aspekt der Restschuldbefreiung sehr interessant. Das deutsche Insolvenzgesetz hat ein pädagogisches Anliegen, indem es durchdefiniert, wie man moralische Auflagen erfüllen muss, um wieder „redlich“ zu sein – wie es im Gesetz heißt. Erfüllt man diese Wohlverhaltensperiode, wird einem die finanzielle Schuld erlassen. In Deutschland dauerte diese früher sieben Jahre, jetzt sind es vier. In den USA sind es jedoch nur zwei Monate, also deutlich weniger. Im amerikanischen Insolvenzrecht spricht man dementsprechend auch von „fresh start“, schon an diesem Begriff sieht man, dass hier viel weniger moralisiert wird. Eine Erklärung dafür ist, dass die USA als Einwanderungsgesellschaft Kredite in ihrer Geschichte viel weniger stigmatisiert haben. Es ist normal, dass jemand, der neu in ein Land kommt und sich eine Existenz aufbaut, Geld aufnehmen muss. Das ist bis heute so. Auch als junger Mensch mit 20.000 bis 30.000 Dollar Schulden die universitäre Ausbildung zu beenden, ist dort ganz normal. In Österreich und Deutschland ist Verschuldung viel stärker stigmatisiert. Hier sieht man, wie Schuldenverhalten kulturell genormt ist.
Ökonomisches und soziales Handeln lassen sich nicht trennen, gleichzeitig heißt es, dass Geld Beziehungen erodiert. Wie passt das zusammen?
Meyer: Beides ist richtig und geschieht zugleich. Wir leben in einer durchökonomisierten Welt, in der wir Geld tagtäglich einsetzen. Gleichzeitig ist in diesem Geldhandel auch ganz viel Sozialität drin. Ein gutes Beispiel dafür sind die Überweisungen von Migrant:innen in ihre Herkunftsorte, die wir in einem FWF-geförderten Projekt untersucht haben. In diesen Geldtransfers stecken Erwartungen, Hoffnungen, Wünsche oder auch Ängste. Das ist also sowohl für die Sendenden als auch die Empfangenden emotional hoch aufgeladen. Man kann sehen, wie die Geldsendungen soziale Beziehungen festigen und den transnationalen Raum strukturieren. Dabei kann das Geld unterschiedliche Funktionen haben, wie etwa Abwesenheit zu kompensieren, Versorgungssicherheit zu gewährleisten oder soziale Kontrolle zu übernehmen. Letztlich sind es auch Machtbeziehungen, die da verhandelt werden.
Im Umgang mit Geld werden eben auch soziale Beziehungen mitverhandelt. Das sieht man auch an kleinen Beispielen gut, wie etwa beim Geben von Trinkgeld oder bei Geldgeschenken. Das heißt, es gibt bestimmte soziale Konventionen, wie Geld „richtig“ verschenkt wird. Was „richtig“ ist, hängt auch von Generationen ab. Das sagt viel über Gesellschaft aus.
Schon seit der Weltfinanzkrise 2008 und jetzt in der Coronapandemie beschäftigt uns die Frage des richtigen Wirtschaftens sowohl politisch als auch privat beinahe täglich. Welchen Einfluss hat das auf unseren Umgang mit Geld?
„In der Geschichte des Geldes gibt es den Moment des großen Wandels. An diesem Punkt sind wir gerade.“
Meyer: Eine neue Erfahrung für uns als Gesellschaft war sicherlich der Moment, als die Staaten zu Beginn der Coronakrise die Devise ausgegeben haben: „Koste es, was es wolle“, Gesundheit hat Vorrang. Noch können wir nicht sagen, was das später einmal ausmacht, aber dieses starke Auftreten des Staates war prägend. Bis zu diesem Zeitpunkt ging die Entwicklung ja in Richtung Eigenverantwortung, Privatisierung und Neoliberalisierung. Staaten hatten sich über die Jahrzehnte stark zurückgezogen. Gerade beschäftigt uns das Thema Inflation im Alltag, hier wird das Thema noch dringlicher, weil mit Energie- und Lebensmittelkosten das Geld in vielen Haushalten knapp wird. Auch die Klimakrise ist mit Geld verknüpft. Wie in der Pandemie wird auch hier entscheidend sein, was wir uns als Gesellschaft leisten können und wollen.
Die auf Wachstum gerichtete Wirtschaftspolitik stößt an ihre Grenzen. Müssen wir über neue ökonomische Modelle nachdenken, um zukunftsfähig zu bleiben?
Meyer: Historisch gesehen gibt es in der Geschichte des Geldes den Moment des großen Wandels – „The Great Transformation“, wie es der österreichisch-ungarische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi 1944 beschrieben hat. Eine solche Transformation setzt dann ein, wenn Allgemeingut zu Privateigentum wird. Wenn also beispielsweise Wiesen und Wälder nicht mehr für alle zugänglich sind, mit der Folge, dass der Bevölkerung allmählich die Ressourcen für den Lebensunterhalt entzogen werden. Polanyi prophezeite unter anderem, dass wir an den Punkt kommen werden, wo wir nicht mehr genügend Ressourcen für alle haben werden. Darüber reden wir im Moment. Angesichts von Wasser-, Energie- oder Lebensmittelknappheit werden wir ohne neue Modelle nicht auskommen. Vielleicht können wir hier Anleihe an der Vergangenheit nehmen und die Gemeinwirtschaft wieder mehr in den Fokus rücken. Es gibt ja schon funktionierende Beispiele dafür, etwa das Modell der energieautonomen Kommunen oder Sharing-Ökonomien, in denen wir Ressourcen teilen und nicht mehr besitzen. Was es aber dafür braucht, sind solide Strukturen, die nur ein Staat mit einer starken Position in der Gesellschaft wiederaufbauen kann. Ob diese Transformation gelingt, ist eine große Frage der Zukunft.
Silke Meyer ist Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die ökonomische Anthropologie und der Umgang mit Geld und Schulden, Migration und Rücksendungen von Migrant:innen an ihre Herkunftsorte sowie die Erzählforschung. In ihrer Habilitation beschäftigte sie sich mit Verschuldungsnarrativen in der Gegenwartsgesellschaft.
Eventtipp: Über Geld spricht man nicht? – Oh doch!
Silke Meyer ist am Mittwoch, 5. Oktober 2022 beim "Am Puls"-Wissenschaftstalk des FWF im Haus der Musik in Innsbruck zu Gast. Gemeinsam mit der Abteilungsleiterin des Private Banking der Tiroler Sparkasse Désirée-Marie Holjevac spricht die Expertin über Geld, Gerechtigkeit und die gelebte Praxis. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der Universität Innsbruck und der Tiroler Tageszeitung statt.
Mehr Information und Anmeldung: fwf.ac.at/ampuls