Bluttests könnten Diagnostik fĂŒr seltene Erbkrankheit revolutionieren
Um ihre Forschung zu erklĂ€ren, muss Isabelle Weinhofer vom Zentrum fĂŒr Hirnforschung der Medizinischen UniversitĂ€t Wien weit ausholen. Denn die Krankheit mit dem komplizierten Namen X-chromosomale Adrenoleukodystrophie, kurz X-ALD, ist nicht nur weitgehend unbekannt. Sie ist auch medizinisch, diagnostisch und therapeutisch kompliziert.
X-ALD ist eine genetische Erbkrankheit. Mit einem Auftreten von 1:14700 in der Gesamtbevölkerung gehört sie zu den seltenen Erkrankungen. Auf Ăsterreich hochgerechnet sind das rund 620 Betroffene; viele bleiben allerdings undiagnostiziert.
Durch Mutationen in einem bestimmten Gen, dem ABCD1-Gen, schafft es der Körper nicht, die selbst produzierten gesĂ€ttigten ĂŒberlangkettigen FettsĂ€uren (âvery long-chain fatty acidsâ) wie bei Gesunden abzubauen. Die Lipide reichern sich im Gewebe, vor allem im Gehirn und RĂŒckenmark an, was zu toxischen EntzĂŒndungen und neurologischen SchĂ€den fĂŒhrt.
Die AusprĂ€gung der Symptome kann sehr unterschiedlich sein â das erschwert die Diagnostik der seltenen Krankheit. WĂ€hrend Frauen, die die Genmutation tragen und vererben, nur leicht betroffen sind und oft erst zwischen 50 und 60 Jahren (meist leichte) Symptome entwickeln, erkranken MĂ€nner immer, auĂerdem frĂŒher und schwerer.
Zerebrale Adrenoleukodystrophie (CALD)
CALD ist eine seltene, erbliche Stoffwechselerkrankung, die das Gehirn und das RĂŒckenmark schĂ€digt. Die Blut-Hirn-Schranke wird durchlĂ€ssig und es werden EntzĂŒndungsprozesse im Gehirn ausgelöst. Durch eine Genmutation eines X-Chromosoms erkranken MĂ€nner immer. CALD tritt ĂŒblicherweise bei Buben zwischen 6 und 12 Jahren auf, es kommt zu schweren motorischen und neurologischen SchĂ€den. Die Prognose fĂŒr Betroffene hĂ€ngt von einer frĂŒhzeitigen Diagnose und Behandlung ab.
HirnschÀdigender Typ bei Buben unter 12 Jahren
Knapp die HĂ€lfte von ihnen entwickelt zwischen 20 und 30 Jahren eine langsam fortschreitende Adrenomyeloneuropathie (AMN), die zu motorischen Problemen und Gehstörungen fĂŒhrt. Hochdramatisch hingegen verlĂ€uft die hirnschĂ€digende Form der ALD: die zerebrale ALD (CALD).
Sie beginnt ĂŒblicherweise zwischen 6 und 12 Jahren, am Anfang oft unspektakulĂ€r: Die Buben wirken plötzlich sehr ungeschickt â stoĂen sich an Möbeln, stolpern und sind unaufmerksam. Sie tun sich schwer beim Lesen, Schreiben und Verstehen von Geschriebenem. Manche werden aggressiv oder hyperaktiv. Die Literatur nennt eine Reihe weiterer Symptome wie Schluckstörungen, Schielen, Hör- und Sehverlust. Fehldiagnosen wie ADHS oder âpsychische Problemeâ sind relativ hĂ€ufig.
Die Symptome sind Zeichen dafĂŒr, dass sich die schĂŒtzende Myelinschicht um die Nervenfasern auflöst: Die wichtige Blut-Hirn-Schranke wird durchlĂ€ssig, aktivierte Immunzellen können ins Gehirn eindringen und lösen eine selbstverstĂ€rkende Schleife aus EntzĂŒndungsprozessen und Myelinabbau aus.
Wird die aggressive Form der ALD nicht sofort â bzw. möglichst frĂŒh â erkannt und behandelt, verschlechtert sich der Zustand der Buben rapide. In wenigen Monaten sind sie bewegungsunfĂ€hig bis komatös und versterben meist binnen ein bis drei Jahren.
Virus ein möglicher Auslöser von zerebraler ALD?
Was genau den dramatischen Verlauf auslöst, ist noch nicht geklĂ€rt. âEs gibt eineiige Zwillinge, von denen nur einer eine CALD entwickelt hatâ, erzĂ€hlt Weinhofer, die seit vielen Jahren zu X-ALD forscht. âDas zeigt, dass es neben der Genmutation auch andere Auslöser braucht.â Eine Möglichkeit könnte ein Virus sein â Hinweise dazu gibt es aus der Multiple-Sklerose-Forschung (Anm.: MS ist die hĂ€ufigste demyelinisierende Krankheit). Weil das Zeitfenster, in dem die Buben Symptome entwickeln, so scharf begrenzt ist, wĂ€ren auch hormonelle ZusammenhĂ€nge plausibel.
Heilung fĂŒr die Krankheit gibt es keine. Rechtzeitig erkannt, kann lediglich die weitere Verschlechterung mit einer Knochenmarkstransplantation gestoppt werden. Falls keine passende Spende gefunden wird, steht in manchen LĂ€ndern eine (sehr teure) Gentherapie zur VerfĂŒgung.
ErgĂ€nzend sei erwĂ€hnt: X-ALD ist durch den Film âLorenzos Ălâ berĂŒhmt geworden. Das von Lorenzo Odones Eltern patentierte Ăl kann die Werte der ĂŒberlangkettigen FettsĂ€uren im Körper der Kranken normalisieren, den Ausbruch der Krankheit jedoch nicht verhindern. Der klinische Nutzen ist deshalb umstritten. Die routinemĂ€Ăige Anwendung wird in internationalen Leitlinien nicht empfohlen.
âZeit ist nach Beginn der zerebralen ALD entscheidendâ, betont Weinhofer. Zeit â und eine einfach anwendbare, verlĂ€ssliche FrĂŒherkennungsmethode. Denn bisher ist die Diagnostik kompliziert und belastend.
Schwierige und belastende Diagnose
In manchen LĂ€ndern wie den USA oder Niederlanden gibt es ein Screening fĂŒr Neugeborene. Die Genetikerin Weinhofer wĂŒrde sich tendenziell dafĂŒr aussprechen â benennt aber auch die Nachteile: Alle X-ALD-Diagnostizierten werden frĂŒher oder spĂ€ter erkranken (eine Heilung gibt es nicht) â aber ânurâ die HĂ€lfte wird die zerebrale Form entwickeln. FĂŒr die Familien bedeutet die Diagnose aber Jahre der Angst und Unsicherheit. Ab sechs Jahren erhalten die diagnostizierten Buben dann halbjĂ€hrlich eine Magnetresonanztomografie (MRT), die zeigen soll, ob die Blut-Hirn-Schranke bereits durchlĂ€ssig ist und sich die weiĂe Hirnsubstanz entzĂŒndet.
Auch diese hĂ€ufigen MRTs sind problematisch: âKleine Kinder mĂŒssen dafĂŒr oft sediert werdenâ, zĂ€hlt Weinhofer auf. âSie bekommen Gadolinium verabreicht, ein Kontrastmittel, das sich im Gehirn anreichern kann â mit nicht bekannten Langzeitfolgen.â Zudem entwickeln sich die SchĂ€den manchmal untypisch, der MRT-Scan ist schwerer einschĂ€tzbar. âDa kann das Zeitfenster, in dem eine Transplantation Sinn macht, schon fast geschlossen sein.â
Lage und AusmaĂ der LĂ€sionen im Gehirn werden nach dem sogenannten Loes-Score mit bis zu 34 Punkten beurteilt. Transplantiert wird aber nur bis zu einem Score unter 9, danach ist die Zerstörung zu weit fortgeschritten. FĂŒr Angehörige kann dieser Befund schwer zu verstehen sein, da die Kinder zu dem Zeitpunkt oft noch relativ gesund erscheinen.
Klinisches Projekt sucht nach frĂŒhen Markern
In dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten klinischen Projekt âBlutmarker zur Bestimmung von Beginn und Verlauf der X-ALDâ (2020â2025) will Weinhofer einen weniger invasiven Bluttest entwickeln. Im Moment sind zwei Kandidaten vielversprechend: Zum einen ein Protein namens Neurofilament Light Chain (NfL), das bei allen Formen von neuronalen SchĂ€den freigesetzt wird (etwa bei MS oder Alzheimer). Bei X-ALD steigt es auf extrem hohe Werte, sobald sich die Nerven entzĂŒnden.
âWir konnten erstmals zeigen, dass NfL schon dann stark erhöht ist, wenn am MRT erst kleine LĂ€sionen zu sehen sind, die Blut-Hirn-Schranke aber noch in Ordnung istâ, so Weinhofer. Bei Buben, bei denen die EntzĂŒndung gerade beginnt, ist der NfL-Wert signifikant höher als bei X-ALD-Patienten, die keine HirnentzĂŒndung entwickeln. âNfL könnte also ein frĂŒher Marker fĂŒr den Beginn der zerebralen ALD sein.â Weinhofer will auch herausfinden, ab welchem NfL-Wert eine RĂŒckenmarktransplantation noch sinnvoll ist. âSobald wir hier genug Daten haben, könnten Eltern fundiertere Entscheidungen treffen â und wir könnten den wenig genauen Loes-Score ergĂ€nzen.â
App soll kritische EntzĂŒndungswerte ermitteln
Ihr Ziel ist eine App zum Monitoring von Kindern mit X-ALD. âDort könnten Fachleute die NfL-Werte der Kinder eintragen, die wĂŒrden mit den Daten einer Kontrollgruppe von gesunden Kindern verglichen, und wir bekĂ€men einen Score, der zeigt, dass eine Neuroinflammation beginnt.â
Die X-ALD-Forschung erhielte damit auch wertvolle Daten, um den Zeitpunkt des Ausbruchs der zerebralen ALD per NfL genauer einzugrenzen. âWir bekommen zwar Blutproben aus X-ALD-Zentren in aller Welt geschickt, aber die Fallzahlen sind insgesamt so niedrig, dass es ewig dauert, bis wir belastbare Werte haben. Das ist ein typisches Problem bei der Forschung ĂŒber seltene Krankheiten.â
DNA-Spuren abgestorbener Zellen im Blut
Ein zweiter interessanter Marker, zu dem Weinhofers Lab forscht, sind DNA-Spuren abgestorbener Zellen, die ins Blut freigesetzt werden. âJeder Zelltyp hat ein ganz bestimmtes Muster. Finde ich diese Spuren im Blut, weiĂ ich, dass dieser Zelltyp abstirbt â bei der zerebralen ALD zum Beispiel Immunzellen im Gehirn.â Weil in jedem Organismus ununterbrochen Zellen sterben, ist es âeine Suche nach der Nadel im Heuhaufenâ. Weinhofer arbeitet hier mit einem hochspezialisierten Bioinformatik-Labor in Israel zusammen, das die zellfreie DNA (cfDNA) aufspĂŒrt. âDamit könnten wir den Beginn der CALD eventuell noch viel frĂŒher entdecken als mit NfLâ, freut sich Weinhofer ĂŒber erste gute Ergebnisse. âIn einem Folgeprojekt möchte ich diese Ergebnisse mit gröĂeren Patientenzahlen bestĂ€tigen. Wenn das gelingt, könnten wir einen Bluttest-Kit zur FrĂŒherkennung zusammenstellen, der fĂŒr die Betroffenen, aber auch die behandelnden Kliniken, wirklich eine enorme Erleichterung wĂ€re.â
Zur Person
Isabelle Weinhofer studierte Biologie und Genetik und ist Assistenzprofessorin am Zentrum fĂŒr Hirnforschung der Medizinischen UniversitĂ€t Wien, wo sie in der Abteilung fĂŒr Pathobiologie des Nervensystems eine Arbeitsgruppe leitet. Ihr Forschungsfokus liegt auf VerĂ€nderungen im Fettstoffwechsel, die zu einer Neuroinflammation fĂŒhren, und zu den Auswirkungen solcher EntzĂŒndungen auf verschiedene Gehirnzelltypen. Ihre frĂŒheren Arbeiten zur Rolle der Makrophagen haben wesentlich zum VerstĂ€ndnis der Stammzelltransplantation als lebensrettende MaĂnahme bei X-ALD beigetragen. Von 2008 bis 2010 war sie mit einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Erwin-Schrödinger-Stipendium als Postdoc an der ETH ZĂŒrich. Eine FWF-ESPRIT-Stelle (ehemals Hertha Firnberg) ermöglichte ihr die RĂŒckkehr ans Zentrum fĂŒr Hirnforschung in Wien.
Das Projekt
Die FrĂŒherkennung und Beurteilung des Fortschritts der seltenen neurodegenerativen Erkrankung X-chromosomale Adrenoleukodystrophie (X-ALD) ist aufwendig und fĂŒr die Betroffenen und ihre Familien sehr belastend. Im klinischen Forschungsprojekt âBlutmarker zur Bestimmung von Beginn und Verlauf der X-ALDâ werden Blutbiomarker identifiziert und getestet, die die Diagnose entscheidend verbessern könnten. Die Förderung durch den FWF betrĂ€gt rund 383.000 Euro. Das Projekt lĂ€uft noch bis Ende September 2025, ein Folgeprojekt ist in Einreichung.
Publikationen
Im Rahmen des Projekts sind neun Publikationen erschienen und zwei weitere eingereicht. Die wichtigsten sind:
Isabelle Weinhofer et al.: Neurofilament light chain as a potential biomarker for monitoring neurodegeneration in X-linked adrenoleukodystrophy, in: Nature Communications 2021
Isabelle Weinhofer et al.: Biomarker-based risk prediction for the onset of neuroinflammation in X-linked adrenoleukodystrophy, in: EBioMedicine 2023