Die Regisseurin, bildende KĂŒnstlerin und Performerin Lucie Strecker beschĂ€ftigt sich in ihrem Richter-PEEK-Projekt „Die PerformativitĂ€t des Biofakts“ mit den sich verĂ€ndernden Grenzen zwischen Natur und Technik. © Severin Koller

„Die Förderung kĂŒnstlerischer Forschung durch das Programm Elise-Richter-PEEK ist einzigartig“, freut sich Lucie Strecker ĂŒber die FWF-Förderung, die sie Ende 2015 erhalten hat. FĂŒr sie ist es im Rahmen finanzierter universitĂ€rer Forschung leichter, inhaltlich Grenzen zu verschieben und der Grundlagenforschung transdisziplinĂ€r nachzugehen.

Kooperation mit der Medizin

Seit Anfang des Jahres lĂ€uft ihr Projekt „Zur PerformativiĂ€t des Biofakts“, das an der UniversitĂ€t fĂŒr angewandte Kunst in Wien angesiedelt ist. Lucie Strecker kooperiert dabei mit der Medizinischen UniversitĂ€t Wien in dem Programm „Arts in Medicine“, das sie gemeinsam mit dem Mediziner und KĂŒnstler Klaus Spiess mitbegrĂŒndet hat, mit dem Strecker bereits seit 2009 zusammenarbeitet.

Wo ist die Grenze zwischen Natur und Technik?

Dieses Elise-Richter-PEEK-Projekt baut auf bisherige Arbeiten Streckers auf. Im Fokus ihres Interesses steht die Transformation von MaterialitĂ€t. So geht Strecker davon aus, dass sich unser VerstĂ€ndnis von MaterialitĂ€t durch unsere Handlungen stĂ€ndig verĂ€ndert und entwickelt. Da die Life Sciences das grundlegend verĂ€ndern, was wir unter Natur und Ökologie verstehen, ist die Unterscheidung von Natur und Technik, vom Wachsenden und nicht Nichtwachsenden laut Lucie Strecker nicht mehr gĂŒltig: Lebewesen gehören nicht mehr vorbehaltlos zum NatĂŒrlichen, wenn sie durch Methoden der Agrar- und Biotechnik maßgeblich zu KĂŒnstlichem beziehungsweise Technischem werden. „Damit verĂ€ndert sich auch unser SelbstverstĂ€ndnis und unser anthropozentrisches WeltverstĂ€ndnis“, gibt Strecker zu bedenken. War aber der Mensch nicht immer wieder mit technischen VerĂ€nderungen konfrontiert? Worin sich aktuelle VerĂ€nderungen von bisherigen unterscheiden, dem geht die KĂŒnstlerin in ihrer Arbeit nach. „Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger sagt zur Geschichte der Genetik: Es gibt diesen Punkt, wo durch technologische VerĂ€nderungen im biologischen Material dieses selber zur Technik wird. Diese Momente interessieren mich“, so Strecker.

„Es muss nicht alles fertig artikuliert, nicht alles ein bereits abgesichertes Konzept sein, um es in einem beruflichen Kontext zur Diskussion zu stellen.“ Lucie Strecker

Biofakt – zwischen belebt und unbelebt

In dem Elise-Richter-PEEK-Projekt soll eine EntitĂ€t erzeugt werden, deren ontologischer Status zwischen belebt und unbelebt changiert. Die Biologin und Philosophin Nicole C. Karafyllis schuf fĂŒr solche EntitĂ€ten den Begriff des „Biofakts“. Strecker wird in ihrer aktuellen Arbeit der Frage nachgehen, wie technologische Erneuerungen in der Zukunft unser VerstĂ€ndnis von Ökologie und Kunst verĂ€ndern werden. Einbezogen werden dabei historische, kulturrelevante Relikte. Dabei ist es Strecker wichtig, durch die Einbeziehung des Tieres die anthropozentrische Sicht aufzulösen, so werden aus biologisch-tierlicher Materie neue Biofakte geschaffen. Ein Beispiel fĂŒr ein solches Relikt, das Lucie Strecker und Klaus Spiess in ihrer Arbeit „The Hour of the Analyst Dog“ verwendet haben, ist eine Wolldecke, in die Anna Freud Haare von Sigmund Freuds Hund eingewebt hat. Freuds „Chow Chow“ hatte ĂŒber viele Jahre den psychoanalytischen Sitzungen beigewohnt. Gemeinsam mit Forschenden aus dem Bereich der Life Sciences möchte Strecker Experimentalanordnungen entwickeln, bei der sich Methoden der ArchĂ€ologie, der Performance, der Molekularbiologie und Genetik austauschen.

„Hare‘s Blood +“ ist ein gemeinsames Projekt von Lucie Strecker und Klaus Spiess. © Spiess/Strecker

„Ich bin Regisseurin“

Bei ihrer Arbeit legt Lucie Strecker immer Wert darauf, nicht technikfeindlich zu werden, sondern mit grĂ¶ĂŸtmöglicher Offenheit an ihre Themen heranzugehen. „Ich bin weder Sozialwissenschafterin, noch Ethikerin oder Biologin, ich sehe mich in der Funktion als Regisseurin, die andere Stimmen zum Sprechen bringt, die Situationen erzeugt, in denen Dinge sichtbar werden. Ich ermögliche und inszeniere Dialoge“, beschreibt sie ihre Funktion.

Vom Tanz 


Diese Offenheit zeigt sich auch in ihrem Lebenslauf. Bereits mit sieben Jahren beginnt die Berlinerin zu tanzen und ist in der professionellen Ausbildung junger TĂ€nzerinnen und TĂ€nzer an der Deutschen Oper Berlin. Ein Leben mit tĂ€glich vielen Stunden Training  und zahlreichen Auftritten. Zeit fĂŒr etwas Anderes bleibt kaum. Dann als Jugendliche wird ihre Neugierde auf die Welt draußen immer grĂ¶ĂŸer und der Opernraum immer enger. Mit 16 Jahren entscheidet sich Lucie Strecker schließlich gegen eine Tanzkarriere.

Von Joseph Beuys‘ Multiple "Hasenblut" aus dem Jahr 1972 wurde DNA extrahiert. © Spiess/Strecker

ĂŒber die Bildende Kunst 
 

GeprĂ€gt von den Bildern ihres malenden Großvaters, hat die heute 39-JĂ€hrige schon frĂŒh bildnerisch gearbeitet und beginnt ein Studium der Freien Kunst an der KunstuniversitĂ€t Berlin-Weißensee. Aus der Beziehung zwischen Bildender Kunst, Choreografie und Tanz wĂ€chst ihr BedĂŒrfnis, sich mit Fragen des Handwerks der Performance zu beschĂ€ftigen. Was unterscheidet einen Performer aus der Bildenden Kunst von einem Schauspieler? Welche Rolle spielt die gesprochene Sprache?

zur Regie 


2005 bewirbt sich Strecker fĂŒr das Max Reinhardt Seminar, wird genommen und kommt nach Wien. WĂ€hrend der Bewerbung erfĂ€hrt sie, dass sie mit ihrer heute elfjĂ€hrigen Tochter schwanger ist. Eine Förderung vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, ein Leistungsstipendium, ein Stipendium der Tokyo Foundation sowie ein Studierenden-Kredit ermöglichen ihr, das Studium der Regie abzuschließen.

Aus Hefezellen und einem entsprechenden Genabschnitt der Hasen-DNA wurde ein "Katalase-Schalter" entwickelt, der die Vermehrung und den Selbstmord von Hefe-Zellen, die die DNA des Beuys‘schen Hasen enthalten, reguliert. Je nachdem, wie viel Peroxid zugegeben wird, sterben Zellen ab. © Spiess/Strecker

und kĂŒnstlerischen Forschung

Die dritte akademische Runde macht sie schließlich an der UniversitĂ€t der KĂŒnste in Berlin, eine PhD-Alternative, die KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler mit einem zweijĂ€hrigen Stipendium ermöglicht, kĂŒnstlerisch forschend zu Arbeiten und den Grad des Fellows der UniversitĂ€t der KĂŒnste zu erlangen. Als ein SchlĂŒsselerlebnis auf ihrem beruflichen Weg nennt Lucie Strecker die Begegnung mit Klaus Spiess. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich eine fortlaufende Kooperation, die Ausstellungen, Publikationen, VortrĂ€ge und Live-Performances zwischen Kunst und Wissenschaft umfasst. Eines ihrer letzten gemeinsamen Projekte war „Hare‘s Blood +“ im Jahr 2015.

„Hasenblut“

„FĂŒr mich ist es wichtig, offen zu sein fĂŒr etwas, das vielleicht auch mir selbst als außerhalb der Norm erscheint.“ Lucie Strecker

Ausgangspunkt war die Frage, wo man fĂŒr dieses Projekt ein biologisches Relikt erwerben könnte, das bereits am Kunstmarkt gehandelt wird. Die Wahl fiel auf „Hasenblut“, ein Multiple von Joseph Beuys aus dem Jahr 1972. Dabei hat Beuys vier Zentiliter Hasenblut in einen dreieckigen Plastikbeutel eingeschweißt. Warum gerade Hasenblut? „Im Mittelalter wurden in Hasenblut getunkte Stofffetzen gegen bestimmte Krankheiten und psychische ZustĂ€nde wie Besessenheit verkauft. Der Hase galt als Wandler zwischen den Welten, der zwischen Leben und Tod begleitet. FĂŒr das dreieckige Symbol gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten. Der dreieckige Spiegel galt als Tor zur anderen Welt: ein abstrahiertes Geschlechtssymbol? Zum anderen wird immer wieder zitiert, dass bei Beuys das Geometrische fĂŒr das Anorganische steht und zum Beispiel Blut fĂŒr das Organische. Er hat sehr viel mit diesen DualitĂ€ten gearbeitet“, erklĂ€rt Lucie Strecker Beuys‘ Arbeit.

„Hare‘s Blood +“

Der erste dokumentarische Schritt war das Telefonat mit dem KunsthĂ€ndler. „Ich habe ihn gefragt, ob er glaubt, dass das wirklich Hasenblut sei. Diese Frage nach dem Nachweis war bereits eine Provokation“, erzĂ€hlt Strecker. Der KunsthĂ€ndler meinte, wĂ€re es kein Hasenblut, wĂŒrde das seinen Glauben an Joseph Beuys erschĂŒttern. Der nĂ€chste Schritt war der Kauf des Kunstobjektes online, die „Einbindung in eine globale Marktwirtschaft“. „Wir suchten dann nach einer Situation, wo Biotechnologie, die Materie selbst und ein Publikum in einer ökonomischen Konvention miteinander in Reibung geraten und unvorhersehbare Reaktionen entstehen können“, erinnert sich Strecker an den Schaffensprozess. Die Entscheidung fiel auf eine Auktion. Es wurde eine Petrischale entwickelt, die das gleiche Format hat, wie der dreieckige Plastikbeutel. In dieser Kopie entwickelten die Wissenschafter aus Hefe und aus einem Gen, das aus dem Hasenblut sequenziert wurde, einen Katalase-Schalter. Der Schalter reguliert die Vermehrung und den Selbstmord der Zellen, die die DNA des Beuys‘schen Hasen enthalten. Reguliert wird die Vermehrung oder das Absterben der Zellen durch die Menge der Zugabe von Peroxid. Dieses Kunstwerk wurde bei einer Auktion versteigert, bei der man auf einer Leinwand die durch eine Webverbindung laufend aktualisierten Preise der Grundnahrungsmittel am Aktienmarkt und die Auktionserlöse des Werkes nachvollziehen konnte. Die Zugabe der Menge an Peroxid richtete sich nach dem VerhĂ€ltnis der beiden Werte zueinander.

Die Menge der Zugabe an Peroxid richtete sich nach dem VerhĂ€ltnis zweier Werte: dem Wert der Grundnahrungsmittel am Aktienmarkt zu den vom Publikum in der Auktion erzielten Werten des 'lebenden Werkes'. Dessen Leben und Sterben wurde damit vom Publikum mitbestimmt. © Spiess/Strecker

Ironischer Kommentar zum explodierenden Kunstmarkt

„Dieser sogenannte Biobrick ist durch die Menge der Zugabe von Peroxid entweder geschrumpft oder gewachsen. Das war auch ein ironischer Kommentar zu einem explodierenden Kunstmarkt. Das Kunstwerk kann sich auch verweigern, sich zurĂŒckziehen. Es macht sozusagen die Kunstblase nicht mehr mit“, schmunzelt Strecker. Dieses Projekt haben Lucie Strecker und Klaus Spiess in nur zwei Monaten realisiert. Wobei die Schaffenden der gesamte Prozess interessiert: vom ersten GesprĂ€ch mit dem VerkĂ€ufer, den GesprĂ€chen mit den Restauratorinnen zur MaterialitĂ€t und den Autorenrechten, den GesprĂ€chen im Labor bis hin zur Performance selbst. Alle diese Schritte wurden auch dokumentiert.

„Sowohl Kunst als auch Wissenschaft sind geschĂŒtzte RĂ€ume, in denen jenseits des Moralischen und ohne soziale Folgen Unerwartetes geschehen kann.“ Lucie Strecker

Radikal offen

Ihr ungewöhnlicher Lebensweg wurde neben den finanziellen Förderungen vor allem von ihrem familiĂ€ren Umfeld ermöglicht. „Ich komme aus einer Familie, in welcher der Begriff des Provisorischen und des Intuitiven positiv konnotiert ist. Ich hatte die Freiheit, dem im ersten Moment vielleicht nicht VerstĂ€ndlichen und vielleicht auch mir selbst nicht VerstĂ€ndlichen zu trauen“, beschreibt sie dieses Umfeld und fĂŒhrt fort: „FĂŒr mich muss nicht alles fertig artikuliert, nicht alles ein bereits abgesichertes Konzept sein, um es in einem beruflichen Kontext zur Diskussion zu stellen.“ Auf ihrem bisherigen Lebensweg hat Lucie Strecker gelernt, „wie wichtig es ist, radikal offen zu sein fĂŒr etwas, das vielleicht auch mir selbst als außerhalb der Norm erscheint. Wenn ich genau diesem Aufmerksamkeit schenke und mit meinem Tun beharrlich unterstĂŒtze, setzt sich ein dynamischer Prozess in Gang und fĂŒhrt zu Ergebnissen.“

Das Unerwartete in Kunst und Wissenschaft

Liegt hier nicht auch eine Parallele zwischen Kunst und Wissenschaft? Hans-Jörg Rheinberger sprach in dem Zusammenhang vom „Unerwarteten“. Das bedeutet, in den Wissenschaften ist zum Beispiel das experimentelle Set-up eine Situation, in der man bestimmte Parameter definiert, innerhalb derer Unerwartetes geschehen und zu neuen Erkenntnissen fĂŒhren kann. Damit dieses Unerwartete entstehen kann, braucht es einen geschĂŒtzten Raum, einen Raum des Probierens ohne soziale Folgen. „Sowohl Kunst als auch Wissenschaft sind in diesem Sinne geschĂŒtzte RĂ€ume jenseits des Moralischen. Darin gleicht etwa der Raum des Theaters dem Raum des Labors. Beiden RĂ€umen ist gemein, dass in ihnen ĂŒber Grenzen hinausgegangen werden kann, die dann jedoch gesellschaftlich neu reflektiert werden mĂŒssen, denn was passiert jenseits dieses Raumes?“, fragt Lucie Strecker. Das FWF-Projekt ermöglicht ihr, solchen wichtigen Fragen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst weiter nachzugehen.


Lucie Strecker, geboren 1977, war seit ihrer frĂŒhen Kindheit in der Ausbildung zur professionellen TĂ€nzerin an der Deutschen Oper Berlin, bis sie sich mit 16 Jahren gegen diese Karriere entschied. Sie studierte Kunst an der KunstuniversitĂ€t Berlin-Weißensee, Regie am Max Reinhardt Seminar in Wien und absolvierte die dritte akademische Runde mit dem Titel des Fellows der UniversitĂ€t der KĂŒnste in Berlin. Neben vielen anderen AktivitĂ€ten in Lehre und Kunst, entwickelt und realisiert sie seit 2009 gemeinsam mit dem Mediziner und KĂŒnstler Klaus Spiess von der Medizinischen UniversitĂ€t Wien transdisziplinĂ€re Performances im Bereich Kunst und Medizin. Sie erhielt zahlreiche Förderungen und Auszeichnungen und publizierte unter anderem in Lancet Psychiatry, in Performance Research und im Diaphanes Verlag. Anfang 2016 startete ihr Elise-Richter-PEEK-Projekt des Wissenschaftsfonds FWF „Zur PerformativitĂ€t des Biofakts“ an der UniversitĂ€t fĂŒr angewandte Kunst Wien in Kooperation mit der Medizinischen UniversitĂ€t Wien. Lucie Strecker ist Mutter einer elfjĂ€hrigen Tochter.


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