Ein internationales Forschungsprojekt hat soziale Ungleichheiten von mobilen EU-BĂŒrger/innen und fehlendes Wissen ĂŒber soziale Rechte aufgedeckt. © tinyfroglet/flickr CC

„Mobile Lebenskonzepte, also etwa das Pendeln zwischen zwei EU-Staaten sind fĂŒr viele heute LebensrealitĂ€t. Speziell EU-BĂŒrgerinnen und BĂŒrger aus neuen MitgliedslĂ€ndern profitieren aber oft kaum von ihren sozialen Rechten und werden in Institutionen sogar diskriminiert“, erklĂ€rt Elisabeth Scheibelhofer, Soziologin am Institut fĂŒr Soziologie der UniversitĂ€t Wien. Sie ist eine von vier Projektleiterinnen aus den vier „alten“ EU-Staaten Deutschland, Schweden, Großbritannien und Österreich, die in einem dreijĂ€hrigen, multinationalen Forschungsprojekt herausfinden wollten, ob sich die rechtlichen Grundlagen in den persönlichen Erfahrungen von BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern aus „neuen“ EU-MitgliedslĂ€ndern (Bulgarien, Estland, Polen, Ungarn) widerspiegeln, die in einem der vier „alten“ EU-Staaten leben. Konkret geht es dabei um das so genannte „Konzept der PortabilitĂ€t“: Wenn man in einem EU-Land berufstĂ€tig war und dort in das soziale System eingezahlt hat, hat man unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, auch in einem anderen EU-Land eine Versicherungsleistung zu beziehen. Man nimmt seine sozialen Rechte also – theoretisch – mit.

Forschung in vier LĂ€nderpaaren

„Uns interessierte, ob die Idee der Antidiskriminierung, die auch in EU-Richtlinien zu sozialer Sicherheit verankert ist, beim Einzelnen ankommt. Bei den qualitativen Interviews war deshalb etwa die Frage zentral, ob die mobil lebenden EU-BĂŒrgerinnen und -BĂŒrger ĂŒberhaupt von ihren sozialen Rechten wissen“, erklĂ€rt Scheibelhofer, die im Forschungsprojekt „Transwel: Mobile Welfare in a Transnational Europe. An Analysis of Portability Regimes of Social Security Rights“ fĂŒr das Arbeitspaket “qualitative Interviews” verantwortlich war. Initiiert und koordiniert wurde die Untersuchung von der Soziologin Anna Amelina der Technischen UniversitĂ€t Cottbus-Senftenberg. Zwischen 2015 und 2018 hat Scheibelhofer insgesamt 103 Interviews mit Betroffenen und ihren engsten Bezugspersonen im Herkunftsland aus allen vier LĂ€nderpaaren koordiniert, die von Teams vor Ort durchgefĂŒhrt und ausgewertet. Zum Teil waren darunter auch Menschen, die enge soziale, ökonomische und kulturelle Beziehungen zu den Personen in ihrem Herkunftsland pflegen, sprich einen „transkulturellen Lebensstil“ pflegen. In weiteren vier Arbeitspaketen untersuchten die jeweiligen Teams zudem die gesetzlichen Regelungen sowie die Praktiken und Diskurse rund um das Thema PortabilitĂ€t. So gelang erstmals eine vergleichende Analyse von mehreren EU-Mitgliedstaaten, die den Bogen von den rechtlichen Grundlagen bis zu den individuellen Lebenserfahrungen spannt. Gefördert wurde das Projekt im Zuge einer Ausschreibung zu „Welfare State Futures“ durch “Norface“, einem internationalen Verbund aus nationalen Förderinstitutionen wie dem Wissenschaftsfonds FWF.

Hilfreiche Quellen sind rar

„Wir haben festgestellt, dass der Großteil der Befragten ĂŒber ihre sozialen Rechte nicht Bescheid wusste. Das ist ein Kernproblem“, sagt die Soziologin. Die GrĂŒnde dafĂŒr sind vielschichtig und beginnen bei den EU-Richtlinien selbst, die hochkomplex sind. „Auf den Websites der EU-Institutionen steht zwar viel, die Infos sind aber nur zum Teil leicht zugĂ€nglich und verstĂ€ndlich“, ergĂ€nzt Scheibelhofer, die in dem Zusammenhang die finanzielle SchwĂ€chung der BeratungsbĂŒros von EURES, dem zentralen europaweiten Netzwerk zur UnterstĂŒtzung bei der Arbeitssuche, kritisiert. Auf nationalstaatlicher Ebene, speziell bei den zustĂ€ndigen Institutionen, sieht die Lage Ă€hnlich aus. So waren im Untersuchungszeitraum 2015 bis 2018 etwa die Informationen ĂŒber soziale Rechte auf der Website des österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) kaum in anderen Sprachen außer Deutsch verfĂŒgbar, und die englischen Texte waren viel kĂŒrzer. Das hat zur Konsequenz, dass oft privat ĂŒbersetzt wird, was zu Fehlinformationen fĂŒhren kann. „Viele gehen zudem davon aus, dass das Wohlfahrtssystem im Zielland so funktioniert, wie in ihrem Herkunftsland“, merkt die Forscherin an. In Schweden könne etwa im Fall von Arbeitslosigkeit eine Versicherungsleistung erst in Anspruch genommen werden, nachdem man ein Jahr lang entsprechende BeitrĂ€ge an die Gewerkschaft geleistet hat.

Kluft zwischen Theorie und RealitÀt

Beim LĂ€nderpaar Österreich-Ungarn wurden außerdem beim AMS seit 2015 neue Mechanismen eingefĂŒhrt, um die Anspruchsberechtigung von Arbeitslosengeld zu prĂŒfen. Davon waren auch die befragten ungarischen StaatsbĂŒrgerinnen und StaatsbĂŒrger betroffen. Profilerstellungen auf Basis der NationalitĂ€t widersprechen jedoch der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie. Intransparenz, mangelnde oder unverstĂ€ndliche Informationsweitergabe, Fehlinformationen bis hin zu institutioneller Diskriminierung sind ein Mix, der dazu fĂŒhrt, dass viele Befragte von ihren sozialen Rechten oft wenig bis gar nicht profitieren, was große finanzielle Einbußen nach sich ziehen kann. „Obwohl die FreizĂŒgigkeitsidee global gesehen sehr fortschrittlich ist, bleibt zu klĂ€ren, wie mobile Personen nicht durch die Sicherheitsnetze von Wohlfahrtsstaaten innerhalb der EU fallen“, zieht die Forscherin Bilanz. Der Lebensstil vieler ist heute jedenfalls stark durch MobilitĂ€t geprĂ€gt, doch um die soziale Dimension der EU-BĂŒrgerschaft fĂŒr alle gleichberechtigt erfahrbar zu machen, sind noch vielfĂ€ltige Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen notwendig.

Zur Person

Elisabeth Scheibelhofer ist Soziologin und assoziierte Professorin am Institut fĂŒr Soziologie der UniversitĂ€t Wien. Auf europĂ€ischer Ebene war sie MitbegrĂŒnderin des Forschungsnetzwerks „Sociology of Migration“ der European Sociological Association. Im September startet ein von der Österreichischen Nationalbank finanziertes  Forschungsprojekt, das sich mit den Herausforderungen von Arbeitsvermittlung im Kontext sprachlicher DiversitĂ€t am Beispiel des AMS befasst.

Publikationen

Scheibelhofer, E., Holzinger, C.: Damn It, I Am a Miserable Eastern European in the Eyes of the Administrator’. EU migrants' experiences with (transnational) social security, in: Social Inclusion, 2018

Bakonyi, N., Regös, E.N., Holzinger, C.,Scheibelhofer, E.: Any Transnational Social Security Out There? Hungarian mobile citizens and their experiences with (transnational) social security access in Austria. WSF working papers TRANSWEL #2, Juni 2018 (pdf)

Elisabeth Scheibelhofer: Reflecting on Spatiality in European Migration Research: From Methodological Nationalism to Space-Sensitive Observations of Social Transformations, in: Amelina, A., Horvath, K., Meeus (eds.): An Anthology of Migration and Social Transformation: European Perspectives, IMISCOE Research Series, Springer, 2016