Schimpfen hat viele Funktionen, die wichtigste ist das Sich-Abreagieren, wie die Germanistin Oksana Havryliv erforscht hat. © Benjamin Furtlehner/UniversitĂ€t Wien

Auffahren, schneiden, drĂ€ngeln, ausbremsen. – Im Straßenverkehr gibt es tĂ€glich Situationen, die unseren Unmut erregen. Um dem Ärger Luft zu machen, hilft schimpfen und das fĂ€llt umso leichter, wenn man alleine im Auto sitzt. „Verbale Aggression kommt beim Autofahren tatsĂ€chlich am hĂ€ufigsten vor“, bestĂ€tigt Oksana Havryliv von der UniversitĂ€t Wien. Die indirekte Form, wenn es kein direktes GegenĂŒber gibt, ist mit 68 Prozent insgesamt die hĂ€ufigste Art, seinen Emotionen verbal freien Lauf zu lassen. Zu dieser Form zĂ€hlt auch die Aggression in Gedanken, wenn beispielsweise direkte Beschimpfung nicht ohne Konsequenzen bleiben wĂŒrde, wie im GesprĂ€ch mit Vorgesetzten, GeschĂ€ftspartnerinnen und -partnern oder Kundinnen und Kunden.

Reinigende Funktion im Vordergrund

Aufbauend auf ein Lise-Meitner-Projekt des Wissenschaftsfonds FWF hat die Germanistin Oksana Havryliv am Institut fĂŒr Germanistik im Rahmen des FWF-Frauenförderprogramms Elise-Richter Daten aus 36 Interviews und mehr als 200 Fragebögen erhoben. In dem vor Kurzem abgeschlossenen Projekt „Verbale Aggression und soziale Variablen“ befragte Havryliv Personen jeden Alters (von 13 bis 80 Jahren), quer durch alle Schichten und gleichmĂ€ĂŸig nach Geschlecht (50:50) aufgeteilt. Entgegen der bisherigen Meinung in der Wissenschaft, die das Schimpfen, Fluchen, VerwĂŒnschen oder Drohen als Gewaltmittel betrachtete, um andere zu beleidigen oder zu krĂ€nken, legen die Untersuchungen der Nachwuchsforscherin rund 20 Funktionen und dabei vor allem produktive Aspekte des Schimpfens offen. Ihre Hypothese, dass das Schimpfen eine kathartische Funktion hat, konnte Havryliv bereits 2009 bestĂ€tigen. Die gewalttĂ€tige oder beleidigende Intention spielt hingegen damals wie heute fĂŒr nur 11 Prozent der Befragten eine Rolle. Im Laufe der sieben Jahre, in denen die Forscherin zwei große Umfragen durgefĂŒhrt hat, zeigt der Vergleich, dass die Rolle der wichtigsten Funktion verbaler Aggression – das Abreagieren negativer Emotionen – von 64 Prozent auf 73 sogar zugenommen hat, wĂ€hrend der scherzhaft-kosende Gebrauch von 25 auf 16 Prozent gesunken ist.

Scherzhafter Gebrauch nimmt ab

Der scherzhafte Umgang (fiktive verbale Aggression) mit Schimpfwörtern ist besonders unter Freunden beliebt, signalisiert Verbundenheit und findet sich zum Beispiel bei der BegrĂŒĂŸung unter  Jugendlichen wieder: „Seavas, du Wappler“. Dieser Aspekt des Schimpfens verweist auf die ursprĂŒngliche Bedeutung des Wortes: Im Alt- und Mittelhochdeutschen bedeutete es „scherzen“ und „spielen“, erst spĂ€ter „verspotten“. Insgesamt verwenden Jugendliche aggressive Sprache bewusster, das heißt, intentionaler als Erwachsene. Hier ĂŒbernimmt „grobe Sprache“ unterschiedliche Funktionen: um sich als Überlegen zu positionieren, von anderen abzugrenzen, einander zu bestĂ€rken, um neue MitschĂŒlerinnen und -schĂŒler oder auch Erwachsene gezielt zu provozieren etc. In anderen FĂ€llen erfĂŒllt der scherzhafte Gebrauch von pejorativer Lexik, also Schimpfwörtern, eine verstĂ€rkende Funktion, um Trost oder Bewunderung auszudrĂŒcken wie etwa in dem anerkennenden „Du Luder!“ oder Du gutmĂŒtiger Depp!“. Dass der humorvolle Gebrauch zugunsten des Abreagierens negativer Emotionen abgenommen hat, ist unter anderem auf sich verĂ€ndernde GesellschaftsverhĂ€ltnisse vor dem Hintergrund von Migration zurĂŒckzufĂŒhren. So gaben vor allem Ă€ltere Personen an, sie wĂŒrden im Vergleich zu frĂŒher davon Abstand nehmen, sich im öffentlichen Raum verbal aggressiv zu Ă€ußern, „da man nicht weiß, wie andere darauf reagieren“. <iframe src="https://www.youtube.com/embed/FiFnXLZTzro?rel=0" width="600" height="315" frameborder="0" allowfullscreen="allowfullscreen"></iframe>

Die Germanistin erforscht seit mehr als 20 Jahren die Kultur des Schimpfens. Quelle: UniversitÀt Wien

Sozialer Status, Geschlecht und Wahrnehmung

„Frauen verwenden mehr AusdrĂŒcke mit höherer Bildkraft und reflektieren ihr Verhalten stĂ€rker“, fasst Havryliv die Ergebnisse in Bezug auf Geschlechteraspekte zusammen. „Dass Frauen verstĂ€rkt zur Selbstreflexion neigen, zeigt sich sowohl in den Kommentaren der Fragebögen als auch in den Emotions- und Situationsthematisierungen.“ Hier geht es vorrangig darum, indirekt Grenzen aufzuzeigen mit Formulierungen wie „Ich flipp' aus!“, „Mich zerreißt’s gleich!“ oder „Das ist wirklich das Letzte!“. Bei MĂ€nnern sind Beschimpfungen eher direkt und etwa an GegenstĂ€nde wie Computer oder das Auto gerichtet. – GrundsĂ€tzlich aber gilt, geschimpft, geflucht oder gelĂ€stert wird in allen Schichten, egal ob mit Hochschulabschluss oder niedrigem Bildungsniveau. Aufgefasst wird das von den Betroffenen hingegen unterschiedlich. Frauen krĂ€nkt es eher, wenn ihr Aussehen beleidigt wird. MĂ€nner reagieren empfindlich, wenn ihre Leistung, ob beruflich oder sexuell, hinterfragt wird.

Selbstaggression und verbale Gewalt

Nicht selten sind Wut und Ärger auch gegen sich selbst gerichtet. Hier wurde bis dato die These vertreten, dass Selbstaggression bei Frauen hĂ€ufiger vorkommt. Havrylivs Daten haben das allerdings nicht bestĂ€tigt. „Sowohl Frauen als auch MĂ€nner neigen im gleichen Maße zu Selbstbeschimpfungen“, erklĂ€rt die Wissenschafterin im GesprĂ€ch mit scilog. Wichtig ist der Forscherin, eine Trennlinie zwischen verbaler Aggression und verbaler Gewalt zu ziehen. – Denn die beiden Begriffe werden oft als synonym betrachtet. „Verbale Gewalt ist ein breiteres PhĂ€nomen, die ausgeĂŒbt werden kann, ohne aggressive Sprechakte zu gebrauchen.“ Um fĂŒr solche Unterschiede zu sensibilisieren und die Wirkungen des eigenen Sprachgebrauchs zu reflektieren, hĂ€lt Havryliv auch Workshops an Schulen ab. Damit sie diese auch weiterhin fortfĂŒhren kann, hat die Germanistin soeben in dem Wissenschaftskommunikationsprogramm des FWF eingereicht.

Geschimpft wird im Dialekt

Oksana Havryliv beschĂ€ftigt sich bereits rund 20 Jahre mit dem Thema Schimpfkultur und hat ihren Fokus auf den Wiener Dialekt gerichtet. Als gebĂŒrtige Ukrainerin, die schon viele Jahre in Wien lebt, hat sie ein besonderes Gehör fĂŒr die lautmalerischen Begriffe des Wienerischen entwickelt. Dass meistens im Dialekt geschimpft wird, sei naheliegend, erklĂ€rt sie: „Dort, wo man sich sprachlich Zuhause fĂŒhlt, ist es leichter, seinen Emotionen verbal nachzugeben.“ Dabei ist der Wiener Dialekt nicht nur eine gute Quelle fĂŒr einschlĂ€gige Bezeichnungen, „besonders interessant ist auch der Kontakt zu anderen Sprachen wie zum Beispiel den slawischen“, sagt Havryliv. In Letzteren werden Schimpfwörter oft gebraucht, um einfach nur Pausen zu fĂŒllen. Dieser „expletive Gebrauch“ ist inzwischen auch im Deutschen, besonders bei Jugendlichen, ĂŒblich.


Zur Person Oksana Havryliv hat Germanistik in der Ukraine studiert. In den 1990er-Jahren kam sie mit einem Stipendium erstmals nach Wien und hat ihr Interesse fĂŒr das Wiener Schimpfverhalten entdeckt. Sie promovierte ĂŒber das Schimpfvokabular in der modernen Literatur etwa von Werner Schwab, H.C. Artmann und Thomas Bernhard. Anfang 2017 hat die Wissenschafterin die sozialen Dimensionen der verbalen Aggression im Rahmen eines Elise-Richter-Stipendiums des FWF am Institut fĂŒr Germanistik der UniversitĂ€t Wien abgeschlossen.


Publikationen

Havryliv, Oksana: Verbale Aggression: das Spektrum der Funktionen. In: Linguistik Online Sprache und Gewalt/Language and Violence 3/2017, Band 82.
Havryliv, Oksana: Aggressive Sprechakte: im Dienste der Empörung. In: Alexandra Millner, Bernard Oberreither, Wolfgang Straub (Hg.). Empörung! Besichtigung einer Kulturtechnik. BeitrÀge aus Literatur- und Sprachwissenschaft. Wien: Facultas, 2015
Havryliv, Oksana: Verbale Aggression. Formen und Funktionen am Beispiel des Wienerischen. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 2009