Wie soll es jetzt mit der digitalen Bildung weitergehen?
Das Offensichtliche zuerst: Wir haben die letzten 18 Monate in einer Pandemie gelebt, und dieser Zustand hält immer noch an. Die Digitalisierung hat dabei geholfen, manche Teile des Lebens aufrechtzuerhalten. Sie half, im Homeoffice zu arbeiten, mit Freunden und Verwandten zu kommunizieren und eben auch Schule, oder Teile dessen, was wir unter Schule verstehen, weiterzuführen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass wir nun erfolgreich in einer digitalisierten Welt angekommen sind, ist voreilig. Ganz im Gegenteil – die Bildungsschere ist weiter aufgegangen. Viele sind auf der Strecke geblieben. Die Gesellschaft ist zum Teil tief gespalten. Kinder waren und sind enormen Belastungen ausgesetzt.
Es hat sich gezeigt, dass die digitale Bildung dabei in zwei Richtungen wirken kann. Sie kann von Schüler*innen und Lehrer*innen als Mehrwert verstanden werden, Benachteiligungen ausgleichen und individuelles, selbstbestimmtes Lernen fördern. Wenig vorbereitet und ohne entsprechende didaktische Formate eingesetzt, kann die Digitalisierung des Bildungsbereichs aber gegenteilig wirken. Nicht zuletzt haben die letzten eineinhalb Jahre gezeigt, dass sich existierende Differenzen im Zugang zu Bildung entlang intersektionaler Aspekte wie vorrangig Gender und (sozialer) Herkunft vergrößern.
Digitalisierung und Diversität vorantreiben
Daher sind die Förderung von Diversität und der Einsatz digitaler Tools in der Bildung eng miteinander verwoben. Digitalisierung und Diversität haben gemeinsam, dass sie im Idealfall als positive Ressourcen verstanden werden und für einen breiteren und ungehinderteren Zugang zu Bildung sorgen können. Wird beim Einsatz digitaler Tools die Förderung von Diversität mitgedacht, können normative und ausschließende Tendenzen in der Bildung ausgeglichen werden, anstatt weiterhin neue Formen der Ausgrenzung zu schaffen.
„Wir müssen der Frage nachgehen, welche didaktischen Formate es braucht, damit selbstbestimmtes Lernen und persönliche Entwicklung Platz bekommen. “
Die Pandemie hat für einen starken Push gesorgt, die Digitalisierung der Bildung voranzutreiben. Über den Acht-Punkte-Plan des Ministeriums werden längst nötige Ressourcen zur Beschaffung von digitalen Endgeräten für Schüler*innen zur Verfügung gestellt. Zudem wird eine Infrastruktur für digitales Lehren und Lernen geschaffen. Allerdings wird über den Erfolg der gesetzten Maßnahmen entscheiden, wie gut diese Angebote und Ressourcen auch pädagogisch begleitet werden.
Lernfreude statt Leistungsdenken
Eines hat sich während der Pandemie jedenfalls noch deutlicher gezeigt: Digitale Bildung (und auch Bildung im Allgemeinen) kann nur dann erfolgreich sein und alle erreichen, wenn sie nicht nur mit ausreichenden Ressourcen versehen wird, sondern wenn sich auch grundlegende Denkweisen, die in unserem Schulsystem verankert sind, verändern. Dazu gehören neoliberaler Fokus auf Leistung und normative Strukturen wie die Wiedereinführung der verpflichtenden Notengebung und standardisierte Schulleistungstests in den Volksschulen oder die Zentralmatura. Diese und spaltende Elemente, wie die Segregation durch Deutschförderklassen, erhöhen immens den Druck auf Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern. Gerade nach den vergangenen 18 Monaten, in denen Schüler*innen eine im gesamtgesellschaftlichen Vergleich hohe Last der Corona-Maßnahmen tragen mussten, ist es notwendig, anstelle von Leistungsdenken darauf zu fokussieren, die Lernfreude und -motivation junger Menschen zu unterstützen.
Es wird sehr viel davon gesprochen, welche Kompetenzen Schüler*innen erwerben „müssen“, um „mit der Digitalisierung Schritt halten zu können“. Stattdessen müssen wir der Frage nachgehen, welche Rahmenbedingungen, Ressourcen und didaktischen Formate es braucht, damit selbstbestimmtes Lernen, persönliche Entwicklung, Neugier und die Entfaltung individueller Interessen Platz bekommen, und welche Rolle Digitalisierung dabei als unterstützende Ressource für alle Schüler*innen spielen kann.
„Wir sollten den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben aufzuatmen, sich selbst zu organisieren und sich neu zu orientieren.“
Druck aus dem System nehmen
Was muss jetzt im Herbst unmittelbar getan werden? Wir müssen die Bedürfnisse der Kinder hören und ihnen Wertschätzung entgegenbringen. Wir müssen anerkennen, dass Schule auch andere Funktionen als Lernen und Aufbewahrung hat. Vor allem bietet sie Kindern ein soziales Umfeld und die Möglichkeit, selbstbestimmt Interessen zu entdecken und zu verfolgen. Das Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern sagt: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“ Nachdem Kinder in der Pandemie eine große Last getragen haben und wohl auch im Herbst weitertragen werden, müssen wir Maßnahmen setzen, die sie auffangen und unterstützen. Wir müssen den Fokus auf Leistung reduzieren und den Druck aus dem System nehmen, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben aufzuatmen, sich selbst zu organisieren und sich neu zu orientieren. Das bedeutet auch, Angebote zur Beratung, zur individuellen Unterstützung und zur psychologischen Betreuung zu schaffen. Und wir müssen Lehrer*innen die Ressourcen geben, sie dabei zu begleiten – durch einen Ausbau spezifischer Weiterbildungsangebote zu Diversität und Digitalisierung, durch Supervision und durch eigene und gut ausgestattete Arbeitsplätze, die sie im Wechsel zwischen Präsenz- und Onlinelehre schon dringend brauchen.
In einer immer komplexer werdenden Welt müssen Eigenständigkeit, soziales Miteinander, Verantwortlichkeit und Mitbestimmung die zentralen Ziele schulischer Bildung sein. Die Digitalisierung wird uns in all dem ein gutes Werkzeug sein, solange wir nicht vergessen, was im Mittelpunkt stehen muss: die jungen Menschen, ihre Bedürfnisse, Interessen und ihre Freude am Lernen, die wir unbedingt bewahren müssen.
Zur Person
Fares Kayali ist Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich und Gründer des Computational Empowerment Lab am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien. Seine Forschung und Lehre findet im interdisziplinären Bereich von Informatik, Didaktik und Gesellschaft statt und wurde mehrfach vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert.