Porträtbild junger Frau mit halblangem dunkelblondem Haar in roter Bluse
Die Psychologin Martina Zemp erforscht die Vor- und Nachteile des Aufwachsens in Regenbogenfamilien. © Barbara Mair

Kinder mit LGBTIQ+-Eltern sind Teil einer Familie, die sich durch eine große Vielfalt hinsichtlich der Elternschaft, der elterlichen Rollen und der Familienkonstellationen auszeichnet. In Österreich hatten mehrere Gesetzesänderungen im vergangenen Jahrzehnt einen tiefgreifenden Einfluss auf diese Diversifizierung. Oberste Gerichtsentscheidungen legalisierten verschiedene Wege zur Familiengründung für LGBTIQ+-Personen, dazu zählen eingetragene Partnerschaften und Eheschließung, Adoption sowie medizinisch unterstützte Fortpflanzung.

Diese Entwicklungen haben vermutlich dazu geführt, dass immer mehr Kinder in Familien mit LGBTIQ+-Eltern aufwachsen. Aus nicht repräsentativen Umfragen geht hervor, dass 11 bis 16 Prozent der LGBTIQ+-Personen in Österreich Eltern eines oder mehrerer Kinder sind. Insbesondere bisexuelle Männer (35 %), Transgender-Personen (23 %) und lesbische und bisexuelle Frauen (15 %) übernehmen Elternverantwortung. Befragungen aus Deutschland ergeben, dass 74 Prozent der lesbischen und schwulen Personen gerne Eltern wären.

Diese Zahlen sind für die Psychologin Martina Zemp von der Universität Wien ein Beleg dafür, dass es ein besseres Verständnis für diese Familienformen braucht, wie sie im Interview erklärt. In einer vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Langzeitstudie erhebt sie in den nächsten drei Jahren die ersten umfassenden Daten zu Resilienz- und Risikofaktoren in Österreichs Regenbogenfamilien in drei Alterskohorten der Kinder und einem partizipativen Forschungsansatz.

Zur Person

Martina Zemp ist Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören familiäre Risiko- und Schutzfaktoren in der Kindesentwicklung und die Bedeutung familiärer Beziehungen für das psychische Befinden von Kindern und Jugendlichen.

 

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Frau Zemp, worin unterscheidet sich die Situation von Kindern und Jugendlichen in Regenbogenfamilien im Vergleich zu jungen Menschen, die in „traditionellen“ Familien aufwachsen?

Martina Zemp: Aus der bisherigen Forschung weiß man, dass LGBTIQ+-Personen aufgrund ihres Minderheitenstatus zusätzlichem psychischem Stress ausgesetzt sind. Es gibt für diese Gruppen Stressoren, die spezifisch, chronisch und von sozialem Ursprung sind. Dabei handelt es sich zum einen um soziale oder strukturelle Ungleichheiten im System, die die ganze Minderheitengruppe betreffen, und zum anderen um individuelle Erfahrungen, die Personen aus diesen Familien machen. Das kann sich in kleinen alltäglichen Abwertungen und Verletzungen, in Diskriminierung, Hass oder auch offener Aggressivität und strafrechtlich relevanten Handlungen äußern. Die Studien, die in diesem Feld bereits durchgeführt wurden, beziehen sich bis jetzt hauptsächlich auf Erwachsene, unabhängig von ihrem Elternstatus. Der Minderheitenstress betrifft aber die Familie auf vielen Ebenen, LGBTIQ+-Personen in ihrer Elternrolle und letztlich auch die Kinder.

Gleichzeitig belegen Studien, dass das Kindeswohl nicht von der geschlechtlichen Orientierung der Eltern abhängt.

Zemp: Das ist richtig. Dabei ging es in der früheren Forschung meist um den Vergleich von Kindern in Regenbogenfamilien mit Kindern aus „biologischen Nuklearfamilien“, die lange als Norm galten. Heute kann man ganz klar sagen, dass sich Erstere in ihrer psychischen und sozio-emotionalen Entwicklung durchschnittlich nicht von Kindern aus anderen Familienformen unterscheiden. Es gibt sogar Bereiche, in denen Kinder aus Regenbogenfamilien stärker (resilienter) und weiter in der Entwicklung sind, etwa, wenn es um soziale Gerechtigkeit, Geschlechterrollen und Diversität geht. Die Kinder bekommen das in ihren Familien vorgelebt, da die Eltern oft eine ausgewogenere Aufteilung in ihren Rollen und Aufgaben haben. Viele Kinder sind daher auch sehr stolz darauf, Mitglied einer Regenbogenfamilie zu sein.

Diese Forschung hat wesentlich zu den bisherigen Errungenschaften im Rechtssystem beigetragen. Das hatte andererseits die Folge, dass man sich in der Wissenschaft lange Zeit von gesellschaftspolitischen Fragen leiten ließ. Dabei wurde vernachlässigt, was sich innerhalb dieser Gruppe der Regenbogenfamilien tut, die sehr divers sind und ganz unterschiedlich funktionieren. Uns interessiert also nicht, wie sich Regenbogenfamilien von anderen Familienkonstellationen unterscheiden, sondern welche Resilienz- und Risikofaktoren es innerhalb dieser diversen Gruppe gibt. Dazu hat man bis jetzt kaum Theorien entwickelt und diese Lücke wollen wir adressieren.

Kleines Kind trägt Hut in Regenbogenfarben während es bei einer Parade in eine Trillerpfeife bläst
In der ersten Langzeitstudie für Österreich werden Kinder aus Regenbogenfamilien begleitet. © Robin Worrall/unsplash

Sie haben daher ein Forschungsprojekt aufgesetzt, das nun startet. Welchen Fokus hat die Studie?

Zemp: Unser Ziel ist, erstmals österreichweit die längerfristige Entwicklung von Regenbogenfamilien zu untersuchen. Uns interessiert, welche Risikofaktoren, aber auch welche schon erwähnten positiven Identitätsaspekte es bei Kindern und Jugendlichen in LGBTIQ+-Familien gibt. Hier gibt es verschiedene Ebenen, die wir betrachten wollen: die Elternebene, die Partnerschaft(en) der Eltern und die Familienebene. Das wurde in dieser Form noch kaum gemacht.

Wie werden Sie konkret vorgehen?

Zemp: Wir wollen rund 150 Regenbogenfamilien in ganz Österreich rekrutieren mit jeweils mindestens einem Kind zwischen 2 und 17 Jahren, die wir in drei Alterskohorten einteilen. Als Regenbogenfamilie sehen wir dabei alle Familien an, in denen sich mindestens ein Elternteil als LGBTIQ+ definiert. Damit haben wir eine breitere, aber der Realität sehr viel nähere Definition als frühere Studien, die oft die für Regenbogenfamilien „klassische“ Konstellation aus Mutter-Mutter-Kind oder Vater-Vater-Kind untersuchten. Ein Elternteil ist für uns eine Person, die unabhängig von rechtlicher oder biologischer Verwandtschaft eine Elternrolle für ein Kind einnimmt.

Die teilnehmenden Familien werden wir gut zwei Jahre begleiten. Auch wenn das kein Kinderleben ist, bekommen wir so für den Beginn eine doch relativ breite Sicht auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der Kinder und auf die Diversität innerhalb der Regenbogenfamilien. Uns ist es besonders wichtig, die Vielfalt in den Familien zu zeigen, denn hier gibt es die unterschiedlichsten Konstellationen. Manche davon sind nicht immer von außen sichtbar, zum Beispiel, wenn ein Elternteil bisexuell ist und in einer verschiedengeschlechtlichen Beziehung lebt, wenn jemand alleinerziehend ist oder wenn es Elternteile gibt, die transgender sind.

Welche Daten interessieren Sie im Besonderen?

Zemp: Wir werden uns ansehen, welche positiven und negativen Aspekte aus dem Umfeld auf das Familiensystem einwirken, und erhalten so Einblicke in den Alltag der Familien. Das erreichen wir mit einem Methodenmix aus Videobeobachtung, Online-Befragungen und moderner Statistik. Wir werden einen Teil der Familien zu uns an die Universität einladen und per Video aufzeichnen, wie Eltern miteinander und mit ihren Kindern umgehen. Diese Beobachtungsdaten werden wir im Anschluss systematisch auswerten. Mit den Online-Fragebögen können wir außerdem die Kinder und Jugendlichen gut erreichen und in den verschiedenen Altersgruppen entwicklungssensitive Fragen stellen.

Ein weiterer wichtiger Ansatz, der unserem Projekt zugrunde liegt, ist die intersektionale Perspektive. Dabei erheben wir Daten, um zu untersuchen, wie sich Ungleichheiten an der Schnittstelle zwischen verschiedenen privilegierten oder marginalisierten Identitätsdimensionen gegenseitig verstärken oder abschwächen können. Das heißt, wir fokussieren nicht nur auf die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentitäten in den Familien, sondern auch auf Faktoren wie sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund, Gesundheit, Bildung oder Einkommen. Um den Ansatz der Intersektionalität statistisch adäquat abbilden zu können, arbeiten wir mit Machine-Learning-Methoden. Im Zentrum all dieser Erhebungen steht, wie es den Kindern geht – psychisch, körperlich, in der Schule und in ihrem sozialen Umfeld.

Es gibt auch einen partizipativen Ansatz in Ihrer Studie, wie sieht dieser aus?

Zemp: Partizipative Forschung etabliert sich in verschiedenen Disziplinen zunehmend und ist auch in der Psychologie als wichtiges neues Paradigma angekommen. Das Ziel ist, die Community, die Studienteilnehmer:innen und relevante Stakeholder zusammen mit uns Forschenden an einen Tisch zu holen und möglichst gleichberechtigt in die verschiedenen Stadien der Forschung einzubeziehen. In unserem Projekt setzen wir das zum einen durch ein Community Advisory Board um. Diese Fokusgruppe, die sich aus Vertreter:innen und Entscheidungsträger:innen aus der LGBTIQ+-Community, Studienteilnehmenden und Mitgliedern des Projektteams zusammensetzt, trifft sich zum ersten Mal, bevor wir die erste Datenwelle starten, um Feedback zu unseren geplanten Methoden einzuholen. Anschließend wird nach jeder Erhebungswelle gemeinsam evaluiert, ob es Bedarf für Verbesserungen oder Änderungen gibt.

Das zweite wichtige Standbein der partizipativen Forschung ist der Dialog mit der breiten Öffentlichkeit. Dafür planen wir Veranstaltungen für alle beteiligten Familien und interessierten Personen. Das ermöglicht uns, das Projekt in einem breiteren Kontext zu reflektieren. Die Ergebnisse unserer Studie fließen schließlich in unsere eigens programmierte App „ExploRALF“ ein. Leicht verständlich und interaktiv aufbereitet, wollen wir auf diese Weise möglichst viele Menschen erreichen, um aktuelles Forschungswissen zu vermitteln.

Was kann das Grundlagenprojekt aus gesellschaftspolitischer Sicht beitragen?

Zemp: Regenbogenfamilien sind in Österreich noch immer weitgehend unsichtbar. Vor allem sind sie im Rechtssystem, in der Forschung und in den Medien unterrepräsentiert. Diese Unsichtbarkeit im Großen verstärkt die Sichtbarkeit im Kleinen – in der Arbeit und der Schule, im Freundeskreis, im sozialen Umfeld. Dort geht es für Mitglieder aus Regenbogenfamilien oft darum, zu demonstrieren, dass sie gleich sind und „genauso gut“ funktionieren wie andere Familien. Mit unseren wissenschaftlich fundierten Daten möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dieses Ungleichgewicht zu verringern, und die bis dato eher defizitorientierte Forschung aufbrechen. Denn nur wenn wir Regenbogenfamilien explizit nicht mit heterosexuellen Familien vergleichen, können wir dazu beitragen, ihre Sichtbarkeit und Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu stärken.