Demonstration gegen Coronamaßnahmen mit Polizei in Wien
Eine von vielen Aufgaben der Polizei während der Pandemie: ihre Präsenz bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. © Florian Schroetter / EXPA / picturedesk.com

Anfang April 2020 schlug der „Oster-Erlass“ Wellen. Die erste Infektionswelle der Covidpandemie in Österreich flaute gerade erst ab, nachdem schon ab Mitte März ein erster Lockdown galt. Um mit Familienfeiern oder etwaigen „Corona-Partys“ zu Ostern die Verbreitung des Virus nicht erneut anzuheizen, kündigte die Regierung damals an, „Zusammenkünfte in einem geschlossenen Raum, an denen mehr als fünf Personen teilnehmen, die nicht im selben Haushalt leben“ zu untersagen. Als Reaktion hagelte es Proteste. Laut Jurist:innen war der Erlass gesetzlich nicht gedeckt. Im Gesundheitsministerium gestand man ein, Verwirrung verursacht zu haben, und ruderte in darauffolgenden „Klarstellungen“ zurück.

Letztendlich war der verunglückte Oster-Erlass nur einer von vielen kurzfristigen rechtlichen Vorgaben in der Coronazeit. Wenig präzise oder stark umstrittene Regulierungen machten der Polizei, die schließlich für deren Umsetzung zuständig war, das Leben schwer. Sie musste mit dem Stakkato immer neuer Rechtsnormen zurechtkommen, ohne bei deren Anwendung ein vernünftiges Augenmaß zu verlieren. Wie dieses Zusammenspiel aus Politik, Verwaltungsbehörden und polizeilicher Exekutive in der Ausnahmesituation von Corona gelang, untersuchen Forschende des Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (VICESSE) in dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Polizei in der Pandemiebekämpfung“. Immerhin gilt die Coronazeit auch als erstes globales Polizeiereignis, bei dem Exekutivbeamte weltweit vor ähnlichen Herausforderungen standen.

„Politik, Verwaltung und Polizei sind das Steuerungsinstrumentarium eines demokratischen Rechtsstaats. Uns hat interessiert, wie dieses Instrumentarium angesichts einer realen Krise, in der der Staatsapparat schnell reagieren musste, im Detail funktioniert hat“, skizziert Projektleiter und VICESSE-Gründer Reinhard Kreissl. „Denn offensichtlich hat die Pandemie nicht nur Schwächen in der Bewältigung von Ausnahmesituationen aufgezeigt, sondern auch, dass die Grenzen eines demokratisch legitimierten Handelns sehr schnell erreicht sein können. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass aus den Problemen wenig gelernt wird.“

Zur Person

Reinhard Kreissl studierte Soziologie in München und Frankfurt, bevor er an Universitäten in Deutschland, Österreich, den USA und Australien forschte und lehrte. Seit 2015 ist er Direktor des von ihm gegründeten Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (VICESSE), das unabhängige Studien am Schnittpunkt von Wissenschaft, Technologie, Justiz und Politik durchführt.

Das Projekt „Polizei in der Pandemiebekämpfung“ (2021–2024) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 283.916 Euro gefördert.

Verletzung von Grundrechten

Erlässe sind eigentlich Verwaltungsvorschriften, die sich an eine nachgeordnete Behörde richten. Gemeinsam mit Verordnungen, die ebenfalls von Verwaltungsbehörden erlassen werden, waren sie die zentralen Mittel der Bundesministerien, um in der Pandemiebekämpfung schnell zu reagieren. Für tatsächliche Gesetze wäre dagegen immer auch ein Nationalratsbeschluss nötig gewesen. „Der Output der Ministerien an Erlässen und Verordnungen war enorm und führte in einigen Fällen – siehe Oster-Erlass – zur Verletzung von Grundrechten. Wir haben versucht, die Dynamik zu rekonstruieren, die durch diese Art der Pandemiesteuerung ausgelöst wurde“, sagt Kreissl.

Der Soziologe und Kolleg:innen haben im Projekt verfügbare Rechtsakte sowie eine Vielzahl von Medienberichten der Coronajahre durchgeackert und anhand einer Timeline den Pandemieverlauf aus rechtlicher und administrativer Sicht rekonstruiert. Die Forschenden führten Dutzende Interviews mit Angehörigen von Polizei, Rotem Kreuz sowie mit Vertreter:innen von Landes- und Bundesverwaltung. In einer Reihe von Fokusgruppen vertiefte man die Befragungen. „Das ist zwar keine Umfrage auf breiter Basis. Aber diese Form der qualitativen Untersuchung gibt uns wertvolle und weitreichende Praxiseinblicke in das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Behörden in ganz Österreich“, betont Kreissl.

Probleme bei der Polizei

Ein Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Polizei durchaus selbst Probleme hatte, die in der Pandemie begründet waren. Die Polarisierung der Bevölkerung betreffend den Impfstatus machte auch nicht vor den Polizeiinspektionen halt. „Auch innerhalb der eigenen Truppe mussten Vorschriften eingehalten und zum Beispiel Geimpfte von Ungeimpften getrennt werden. Es entstand eine Reihe solcher Pandemie-induzierter Probleme, die für enorme organisatorische Herausforderungen sorgten“, sagt Kreissl. „Einen reibungslosen Betrieb aufrechtzuerhalten, war schwierig.“

Gleichzeitig war es für die Polizei als ein in seinen Routinen eingespielter Apparat durchaus schwierig, schnell in einen Krisenmodus zu wechseln, der von beinahe täglich neuen Regelungen geprägt war. „Wie soll man eine Maskenpflicht bei einer Demonstration exekutieren, bei der Tausende Menschen keine tragen? Die vielen Erlässe und Verordnungen, die für die Polizei kaum umsetzbar waren, sorgten für Verunsicherung“, sagt der Forscher. „Die Vorstellungen der Politik und die Möglichkeiten der Polizei lagen zum Teil weit auseinander. Das ging so weit, dass übergeordnete Instanzen die Erlässe gar nicht mehr an die Dienststellen weiterreichten, um die Beamten nicht noch mehr zu verunsichern.“

Vergrößerter Ermessensspielraum

Bei vielen Beamten bildete sich ein Selbstverständnis heraus, wonach man den Dienst verstärkt nach eigenen Vorstellungen und „mit Augenmaß und Hausverstand“ absolvieren müsse, skizziert der Sozialforscher. „Die unklare Situation bescherte den Beamt:innen einen ungewöhnlich großen Ermessensspielraum. Vorschrift und pragmatische, an Erfordernisse vor Ort angepasste Handlungen drifteten weiter auseinander, als das üblicherweise der Fall ist.“

Nach der Pandemie folgte eine Reihe von offiziellen Evaluierungen, die die Polizeiarbeit bewerten und einordnen sollten. Ähnliche Dossiers wurden bereits nach der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 angefertigt, erinnert sich Kreissl. „Die Erfahrung zeigt leider, dass solche Aufarbeitungen kaum zu strukturellen Veränderungen führen“, bedauert der Sozialforscher. „Ein Indiz dafür ist eine Simulation im Rahmen eines EU-Projekts mit Vertreter:innen verschiedener Organisationen, bei der wir eine erneute Flüchtlingskrise nachspielten – und die erneut im Chaos mündete. Es steht zu befürchten, dass der Lerneffekt aus der Pandemie ähnlich gering ist.“ Dennoch besteht die Hoffnung, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung zur Dynamik des Staatsapparats während der Pandemie zu einer Verbesserung beiträgt.

Publikationen

Herbinger P.L. and Reiter H.: Von den üblichen Verdächtigen und pandemischen Überschüssen: Der zweite Code der Polizei in der Pandemie, in H. Cremer-Schäfer, A. Pilgram und A. Aigner (Hg.) Gesellschaft. Kritik. Ironie. Wien: LIT Verlag 2023

Laufenberg R., Adensamer A., Herbinger P.L.: Polizieren der Pandemie als Mehrebenen-Problem, in: Neue Kriminalpolitik 4/2021, Nomos

Herbinger P.L., Laufenberg R.: Policing in Times of the Pandemic. Police-Public relations in the interplay of global pandemic response and individual discretionary scope, in: European Law Enforcement Research Bulletin, (SCE 5), 2021