Filmszene aus Zwei Herzen im 3/4 Takt
Szene aus dem berĂŒhmten Operettenfilm „Zwei Herzen im Ÿ Takt“ (1930) mit Walter Janssen und Gretl Theimer. Musik ist ein zentraler Teil der FilmerzĂ€hlung, die bereits im Drehbuch detaillreich beschrieben wird. © Filmarchiv Austria

Die ersten Minuten des Operettenfilms „Zwei Herzen im 3/4 Takt“ aus dem Jahr 1930 erscheinen wie eine musikalische Welle, die in der Wiener Kompositionsstube Franz Schuberts beginnt, zunehmend anschwillt und langsam die ganze Stadt erfasst: Zum Walzer, den Schubert am Klavier spielt, tanzen die Schmetterlinge am Fenster, unterhalb desselben pfeift ein Bursche dazu, ein Gitarrenspieler am Fenster gegenĂŒber stimmt ein. Dann kommt die Geige eines Straßenmusikanten dazu, und auch einige MilitĂ€rmusiker, die am Straßenrand zusammensitzen, beteiligen sich. WĂ€scherinnen beginnen zu tanzen. Schließlich wird in eine Heurigenszene ĂŒberblendet, in der Schrammelmusiker dieselbe Walzermelodie spielen.

FĂŒr den Filmwissenschaftler Claus Tieber, der an der UniversitĂ€t Wien im Bereich Musik und Film forscht, sind Szenen wie diese besonders interessant. Im Projekt „Drehbuch schreiben und musikalische Nummern“, das vom Wissenschaftsfonds FWF unterstĂŒtzt wurde, untersuchte er, in welcher Weise Musiknummern dieser Art im Drehbuch vorweggenommen werden. „Musik ist heute kaum ein Teil von DrehbĂŒchern. Darin sind meist nur visuelle Szenenbeschreibungen und Dialoge enthalten. Gegebenenfalls gibt es Aussparungen fĂŒr Musiknummern“, beschreibt Tieber. „Im frĂŒhen Tonfilm gab es allerdings noch keine vorgeprĂ€gten Lösungen, wie Musik von den Autoren in ihre DrehbĂŒcher eingebaut wird. Sie hatten zum Teil noch einen viel grĂ¶ĂŸeren Einfluss auf die Gestaltung von Musiknummern.“

Einer der Drehbuchschreiber, mit denen sich Tieber im Projekt befasst hat, ist Walter Reisch. Der 1903 geborene Wiener war eine zentrale Figur des frĂŒhen Wiener Tonfilms und musste als Jude Mitte der 1930er-Jahre vor den Nazis in die USA flĂŒchten. „Reisch hat gemeinsam mit dem Schauspieler und Regisseur Willi Forst den Wiener Film der damaligen Zeit geprĂ€gt, der Wien als Musikstadt inszenierte. Seine Arbeit wurde zum prĂ€genden Einfluss fĂŒr den spĂ€teren österreichischen Unterhaltungsfilm der 1950er-Jahre und damit fĂŒr Streifen von ‚Hallo Dienstmann‘ bis ‚Sissi‘“, ordnet Tieber ein. „Reisch konnte nach der Flucht seine Karriere in Hollywood fortsetzen. Auch hier wurde er fĂŒr Filme berĂŒhmt, in denen musikalische Nummern zentral sind.“

Wenn Schubert in Schwung kommt

In „Zwei Herzen im 3/4 Takt“ des Regisseurs GĂ©za von BolvĂĄry stammt die Musik von Robert Stolz. Der Film ist auch deshalb besonders, weil er die Grundlage einer wenige Jahre spĂ€ter uraufgefĂŒhrten BĂŒhnenfassung mit unverĂ€nderter Musik war. Reischs Filmdrehbuch diente auch hier als Grundlage. Die beschriebene Eingangsszene der Filmfassung spiegelt sich im Drehbuch mit einer – fĂŒr heutige VerhĂ€ltnisse – sehr genauen Darstellung der musikalischen Entwicklung: „Schubert spielt weltentrĂŒckt, geistesabwesend, nur der Musik hingegeben – immer flotter, immer jubelnder, immer mehr in Schwung kommend“, ist hier zu lesen. „Bei der neuerlichen Wiederholung des Walzermotives setzt das improvisierte Straßenorchester voll ein – Spinett, Laute, Trommel, Geige, Gesang, Pfeifen.“ Sogar eine Instrumentierung wird also aufgezĂ€hlt.

Die europÀischen Unterhaltungsfilme der 1930er-Jahre hatten einen prÀgenden Einfluss auf die erfolgreichen Filmmusicals aus Hollywood. Drehbuchautor:innen bauten Musiknummern detaillreich in ihre Handlungen ein.

Grammophon aus dem Film "Silhouetten"
In „Silhouetten“ (AT 1936) setzt Walter Reisch Musik aus dem Grammophon ein, um eine dramatische Szene zu unterstreichen. © Screenshot/Claus Tieber

Noch weiter geht Reisch in dem Film „Silhouetten“ aus dem Jahr 1936, der eine seiner letzten Produktionen in Österreich war. Die Geschichte um ein Ballettensemble mĂŒndet in einer 15-minĂŒtigen Tanznummer, in der etwa der Donauwalzer oder die Wiener Karlskirche auftauchen. „FĂŒr die Silhouette-Schlussnummer hat Reisch eine detaillierte Beschreibung, die den Rahmen des Drehbuchs sprengen wĂŒrde, einfach in einen vierseitigen Anhang ausgelagert. Das ist eine Vorgangsweise, die man in Hollywood-DrehbĂŒchern jener Zeit nicht finden wĂŒrde“, betont Tieber. „Reisch war selbst kein Musiker. Es ist aber faszinierend, wie exakt seine musikalischen Vorgaben sind.“

Musik als strukturierendes Element

Das Studium seiner DrehbĂŒcher macht schnell klar, wie sehr Reisch die Musik bereits im Drehbuch mitdachte. „Der musikalische Teil wird nicht im Nachhinein auf eine Szene ,draufgesetzt‘, sondern ist ein zentrales und strukturierendes Element der Planung und ein integrativer Teil der FilmerzĂ€hlung“, resĂŒmiert Tieber. An vielen der damaligen DrehbĂŒcher kann man die Bedeutung der Musik bereits an formalen Gegebenheiten und am Schriftbild erkennen.

„Oft wurde ein zweispaltiges Format genutzt: Auf der einen Seite wird beschrieben, was zu sehen, auf der anderen, was zu hören ist“, schildert der Filmwissenschaftler. „Nicht immer wird den Vorgaben genau gefolgt, dem musikalischen Anteil wird aber von vornherein viel Raum gegeben.“ Gleichzeitig bestimmt in vielen der „musikalischen Momente“ die Musik, was im Film genau zu sehen ist – etwa indem durch Bildschnitt, Kamerapositionen oder eine Rhythmisierung der GerĂ€usche von AlltagsgegenstĂ€nden die Musik richtiggehend visualisiert wird.

FĂŒr Tieber ist die Arbeit Reischs ein Bindeglied, das die Wiener Operettentradition mit den Musikfilmen Hollywoods verbindet. „Gemeinsam mit Kollegen wie dem Berliner Drehbuchautor Felix Jackson, der ebenfalls zur Flucht gezwungen wurde, reprĂ€sentiert Reich einen europĂ€ischen Einfluss auf die enorm erfolgreichen Filmmusicals aus Hollywood“, beschreibt der Filmwissenschaftler. Heute sind DrehbĂŒcher eine Textform, die besonders stark normiert ist.

Das liegt nicht zuletzt an der Digitalisierung – an Computerprogrammen, die den Schreibenden eine konkrete formale Vorgangsweise abverlangen. Aus Tiebers Sicht ist bemerkenswert, dass die Gestaltung von Musiknummern bei dieser Normierung weiterhin außen vor bleibt. „Musikfilme sind auch heute noch erfolgreich, wie etwa das Beispiel des Musicals ,La La Land‘ aus dem Jahr 2016 zeigt. Dass sich nach wie vor keine einschlĂ€gigen Drehbuchregeln dafĂŒr etabliert haben, ist erstaunlich“, sagt der Filmwissenschaftler. „Dabei ist gerade dieser nicht erzĂ€hlende Teil, zu dem die Musik gehört, wesentlich dafĂŒr verantwortlich, dass sich Menschen einen bereits bekannten Film immer wieder ansehen wollen.“

Zur Person

Claus Tieber ist Privatdozent am Institut fĂŒr Theater-, Film- und Medienwissenschaft der UniversitĂ€t Wien und forscht zur Theorie des Drehbuchschreibens, zu ErzĂ€hlweisen in Hollywood-Filmen und zum Themenbereich Musik und Film. Das von 2018 bis 2023 laufende Projekt „Drehbuch schreiben und musikalische Nummern“ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 358.000 Euro gefördert. Im MĂ€rz 2024 wurde das Nachfolgeprojekt „Der Einfluss des Tonfilms auf das Drehbuch 1927–1934“ vom FWF bewilligt.

Publikationen

Tieber, Claus: Narrating with Music: Screenwriting Musical Numbers, in: Davies, Rosamund; Russo, Paolo und Tieber, Claus (Hg.), The Palgrave Handbook of Screenwriting Studies. Cham: Palgrave Macmillan 2023

Tieber, Claus: Musik im Film, Musik fĂŒr den Film: Analysefelder und Methoden, in: Hagener, M., Pantenburg, V. (Hg.) Handbuch Filmanalyse, Springer VS, Wiesbaden 2020

Tieber Claus, Wintersteller Christina: Writing with Music: Self-Reflexivity in the Screenplays of Walter Reisch, in: Arts 9 (1), 13, 2020