Ein ganz besonderes Ereignis: Französische Mannequins 1959 zu Besuch in Moskau anlässlich einer Dior-Modeschau. © Kristine/Flickr – Photographed by Howard Sochurek for LIFE Magazine

Wer im Juni 1959 durch Moskaus Straßen spazierte, erlebte ungewöhnliche Szenen. Französische Models in farbigen, extravaganten und zugleich tragbaren Kleidern spazierten gut gelaunt durch die Stadt. Bestaunt vom einfachen Volk, posierten sie mit Matrosen und vor Sehenswürdigkeiten. Es war die Vorbereitung zu einer fünftägigen Modeschau des Hauses Dior. Während das Modehaus unter der neuen Leitung von Yves Saint Laurent seinen „New Look“ kreierte, vollzog sich auch hinter dem Eisernen Vorhang zunächst unter Regierungschef Nikita Chruschtschow und dann unter Leonid Breschnew eine wenig wahrgenommene Transformation. So führten Politiker ebenso wie die „Elite“ des Landes einen regen Austausch mit westlichen Persönlichkeiten wie eben mit den bekannten französischen Couturiers. Russische Stars, wie die Ballett-Legende Maja Plissezkaja, transferierten den westlichen Stil in Kleidern von Pierre Cardin und Coco Chanel in den Osten und drangen damit bis in die sowjetische Alltagskultur vor.

Mode als Spiegel der Alltagskultur

Es habe verschiedene Wege der westlichen Einflussnahme in Sachen Mode gegeben, erzählt Eva Hausbacher von der Universität Salzburg im Gespräch mit scilog. „Russische Delegationen, die Messen und Ausstellungen im Ausland besuchten, waren der offizielle Weg, ebenso wie die Oberschicht, die Reisen durfte. Auch der Austausch innerhalb der Satellitenländer spielte eine wichtige Rolle. Und dann gab es noch den Schwarzmarkt, auf dem zum Beispiel Burda-Magazine gehandelt wurden.“ Im Team mit Elena Huber und Julia Hargaßner hat die Slawistin die Sprache der Mode von der „Tauwetterzeit“ nach dem Tod Stalins 1953 über die sogenannte „Stagnationszeit“ während der Breschnew-Regierung bis zum Beginn der Perestroika 1985 analysiert. Hinter dem Eisernen Vorhang entwickelte sich eine Alltagskultur, die, vergleichbar mit der im Westen, auf Individualität, Emanzipation und Fortschritt setzte. – Das ist das zentrale Ergebnis des Forschungsprojekts, das durch den Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde.

Die Forschungsarbeiten wurden in zwei Teilprojekten durchgeführt: „Kleidersprache im künstlerischen Text“ untersuchte das Thema anhand literarischer Texte und Filme. Das Projekt „Maßgeschneiderte Modellierung des Selbst“ widmete sich den Analysen von Mode- und Frauenzeitschriften, Ratgeberliteratur und theoretischen Arbeiten zum Thema Mode und Konsum. Dabei deckten die Kulturwissenschafterinnen Alltagspraktiken auf, die einen Wertewandel in der sowjetischen Gesellschaft zeigen, „der die dramatischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der Perestroika-Zeit vorbereitet hat“, erklärt Projektleiterin Hausbacher.

Die Do-it-yourself-Emanzipation

Auch wenn Seide, Pailletten und Pelz der russischen High Society vorbehalten waren, ließ sich die einfache sowjetische Frau nicht davon abhalten, den Stil ihrer Lieblingsdesigner zu übernehmen und mit eigenen Adaptierungen zu bereichern. Im Westen wie im Osten wird nun, in den 1960er-Jahren, der Do-it-yourself-Trend geboren. Die bekanntesten Frauenzeitschriften der Zeit, „Rabotnica“ (Die Arbeiterin) und „Sovetskaja ženščina“ (Die sowjetische Frau), offenbaren, an welche Zielgruppe sie sich richteten: An die durchschnittliche Frau, die das Selbermachen zusehends nicht nur aus Mangel an Geld und Waren praktizierte, sondern auch als Ausdruck von Kreativität verstand. Dabei wurden weibliche Designer wie Coco Chanel zu Vorbildern und die Strickanleitung für das Chanel-Kostüm zum Alltagsgut. Darüber hinaus trugen erfolgreiche Frauen wie Chanel zur Feminisierung bei und verhalfen der Mode zu einem Medium von Kulturtransfer zu werden. Westliche Modeströmungen seien jedoch nicht bloß nachgeahmt worden, betont Hausbacher. „Es kam vielmehr zu einer Hybridisierung mit sowjetischen Vorstellungen von Stil und Geschmack, wodurch sich eine einzigartige Entwicklung der sowjetischen Mode und der Alltagskultur zeigt.“

Neue Rollenbilder und Forschungsbeiträge

Zu den Stil- und Geschmacksdebatten der Zeit gehörten auch Fragen der Geschlechterkonstruktion. Das verbreitete vermännlichte Frauenbild – im Film etwa durch die Fabriksleiterin charakterisiert – wurde zunehmend feminisiert. Für die Zeit von 1954 bis 1964 konnten die Forscherinnen eine starke Unterscheidung von männlicher und weiblicher Kleidung festmachen. „Die Übernahme des sogenannten Dior-Looks korreliert damit“, sagt Hausbacher. Ab Mitte der 1960er- bis zu den 70er-Jahren zeigte die Kleidersprache eine Emanzipierung der Frau, die insbesondere von der jüngeren Generation ausging. Die sowjetische Frau kleidete sich nun unkonventionell, modebewusst und unabhängig von traditionellen Rollenbildern. Ab den späten 70er-Jahren verwischen die Grenzen zwischen männlichem und weiblichem Look. – Miniröcke werden vom burschikosen Stil mit Schlaghosen und Hemden abgelöst. Die wissenschaftliche Untersuchung von Kleidermode als Medium des Kulturtransfers legt wichtige Bausteine eines neuen Gesamtbildes der gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen in der Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges offen. Sie zeigen ein dynamischeres Bild der damaligen sowjetischen Gesellschaft, als bislang sichtbar war und leisten damit einen wichtigen Beitrag zu weiteren soziopolitischen und kulturhistorischen Forschungen. Gleichzeitig konnten die Wissenschafterinnen die bis dato kaum erforschte Geschichte der Mode des Ostens in dem Grundlagenprojekt aufarbeiten und mit dem Wissen der weitaus beliebteren „Fashion Studies“ des Westens zusammenführen.


Zur Person Eva Hausbacher leitet den Fachbereich Slawistik an der Universität Salzburg. Sie ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft und forscht zu russischer Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, zu Migration, Gender Studies und Mode. Hausbacher leitete das fünfjährige FWF-Projekt „Nadel und Faden. Transformationen des sowjetischen Kostüms“.


Publikationen

Huber, Elena; Hargassner, Julia; Hausbacher, Eva: Mode – Konsum – Alltagskultur. Auswahlbibliographie zur sowjetischen Kulturgeschichte (1953–1985). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2016
Hargaßner, Julia: Kleidersprache im künstlerischen Text. Sowjetische Kleidercodes zwischen 1954 und 1985. Reihe ‚Slavistische Beiträge‘ Bd. 504. Herne: Gabriele Schäfer Verlag, 2016
Hargaßner, Julia; Huber, Elena: Ästhetik - Stil - Geschmack. Sowjetische Modediskurse in der Tauwetter-Zeit. In: LiTheS: Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Mode – Geschmack – Distinktion 1. Kulturgeschichtliche und kultursoziologische Perspektiven. Nr. 13. Graz, 77-88, 2016 (pdf)
Huber, Elena: Kul´turnyj transfer diskursa o mode i „samokonstruirovanie“ čerez individual´nyj pošiv. Diletanty i mastera sovetskoj ėpochi. In: Teorija mody: odežda, telo, kultura. Nr. 37, Moskau, 25-54, 2015
Hausbacher, Eva; Huber, Elena; Hargassner, Julia (Hg.): Fashion, Consumption and Everyday Culture in the Soviet Union between 1945 and 1985. Reihe ‚Die Welt der Slaven‘ Bd. 54. München: Otto Sagner, 2014