Was, wenn man keine Schmerzen fĂŒhlt?

âSchmerzen warnen uns, damit wir unseren Körper schĂŒtzen könnenâ, erklĂ€rt Michaela Auer-Grumbach, Neurologin an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien. âEin gesunder Mensch zieht seine Hand von einer heiĂen Herdplatte zurĂŒck oder spĂŒrt einen Fremdkörper im Schuh.â Nicht so Menschen mit einer extrem seltenen Erbkrankheit, bei der bestimmte Nervenzellen im Körper absterben. Es handelt sich um die hereditĂ€re sensible und autonome Neuropathie (HSAN). âEs kann durchaus vorkommen, dass Patient:innen mit einem gebrochenen Bein oder auf einem eingetretenen ReiĂnagel den restlichen Tag weitergehen, ohne es zu merkenâ, schildert Auer-Grumbach. Solche Verletzungen sind gleich doppelt gefĂ€hrlich. Neben dem Schmerzempfinden ist auch die Wundheilung von der Erkrankung betroffen. Verletzungen heilen deshalb weniger schnell ab und können sich schwer infizieren. Derzeit betrifft die Erkrankung etwa 50 Menschen in Ăsterreich, meist mehrere Personen innerhalb einer Familie. âUmso wichtiger ist der Zusammenschluss auf europĂ€ischer Ebene. Seltene Erkrankungen werden wegen der niedrigen Fallzahlen oft an den Rand gedrĂ€ngt. Deshalb fehlt das medizinische Angebotâ, betont Auer-Grumbach. Im FWF-geförderten Projekt âEuropĂ€isches Netzwerk fĂŒr hereditĂ€re sensible Neuropathien (ENISNIP)â arbeiten europĂ€ische Spezialist:innen jetzt zusammen, um ungeklĂ€rte FĂ€lle zu lösen und genetische Mechanismen zu erforschen.
TĂ€gliche Herausforderung fĂŒr Betroffene
HSAN kann je nach Typ in unterschiedlichen Schweregraden und in allen Altersgruppen auftreten. Bei Kleinkindern ist die Gefahr fĂŒr Selbstverletzungen besonders hoch, weil sie ihre Umwelt kennenlernen, indem sie sie abtasten und GegenstĂ€nde in den Mund nehmen. âEinem gesunden Kind tut es weh, wenn es sich auf die Zunge oder Lippen beiĂt. Bei Kindern mit solchen seltenen Neuropathien kommt es dagegen zu schlimmen Verletzungen und sogar VerstĂŒmmelungen im Mundbereich und an den Fingernâ, sagt Auer-Grumbach. AuĂerdem betrifft die Erkrankung Nervenzellen des autonomen Nervensystems â desjenigen Systems also, das im Hintergrund fĂŒr die Regulation von zum Beispiel Verdauung, Herzschlag und Schwitzen zustĂ€ndig ist. Bei Babys mit bestimmten genetischen Formen der HSAN kann es zu starken FieberausbrĂŒchen kommen, weil sie nicht schwitzen und deshalb ihre Körpertemperatur nicht regulieren können.
PrĂ€ventive MaĂnahmen setzen
Andere genetische Untertypen der Erkrankung setzen spĂ€ter im Leben ein und betreffen vor allem das Schmerzempfinden in HĂ€nden und FĂŒĂen. Auer-Grumbach erzĂ€hlt etwa von Patienten, die wĂ€hrend des Wehrdienstes eine erste Wunde bemerkten, nachdem sie lange Zeit in groben Schuhen marschiert waren. âDurch die Reibung entsteht eine Verletzung, die bei gesunden Menschen nach ein paar Tagen abheilt. Aber bei diesen Formen der Neuropathie kann sich so eine Wunde schnell infizieren, bis auf den Knochen vordringen und sogar zu Knocheneiterungen fĂŒhrenâ, erlĂ€utert die Expertin. Beispiele wie diese verdeutlichen die Belastung, mit der Betroffene im Alltag konfrontiert sind. âWichtig ist, den Patient:innen prĂ€ventive VerhaltensmaĂnahmen mitzugebenâ, so Auer-Grumbach. Sie sollen auf keinen Fall barfuĂ gehen, ihre Schuhe stets auf Fremdkörper untersuchen, weiches Schuhwerk tragen und auch kleinste Verletzungen vermeiden. Besonders im Fall betroffener Kinder sind solche Regeln eine tĂ€gliche Herausforderung. âWeil die Krankheit so selten ist, ist es fĂŒr Eltern sehr schwierig, ihr Kind in einem sozialen Umfeld zu integrieren. Allein im Kindergarten mĂŒsste man alle Verantwortlichen eigens dafĂŒr schulenâ, sagt Auer-Grumbach.
Je nach betroffenem Gen unterscheidet sich das Krankheitsbild, also die Schwere der Erkrankung und das Ausbruchsalter. âFĂŒr viele der Familien in Ăsterreich konnten wir die genetische Ursache in den vergangenen zwei Jahrzehnten klĂ€ren. Damit sind wir bei der Erforschung der Krankheit weltweit vorne mit dabeiâ, betont die Neurologin. Sie war an den Entdeckungen mehrerer HSAN-Gene maĂgeblich beteiligt, darunter die am besten erforschten Auslöser SPTLC1 und 2. Liegen in diesen Genen Mutationen vor, dann werden die davon abgelesenen Proteine falsch gebildet und lagern sich als giftige Abfallprodukte in den Nervenzellen ab. FĂŒr diese genetische Unterform gibt es bereits erste Therapiemöglichkeiten, wĂ€hrend es fĂŒr andere â trotz guter Fortschritte beim VerstĂ€ndnis der Krankheit â weiterhin an Therapien sowie den nötigen Versorgungsstrukturen fehlt. Der u. a. vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Zusammenschluss auf europĂ€ischer Ebene soll ermöglichen, das Wissen und die Kompetenz mehrerer LĂ€nder zu bĂŒndeln.
EuropĂ€ische Spezialist:innen schlieĂen sich zusammen
âInitiiert wurde das Projekt von Kollegen aus Deutschland. AuĂerdem sind Expert:innen aus der TĂŒrkei, der Schweiz und der Tschechischen Republik beteiligt. Eine gute Zusammenarbeit besteht auch mit GroĂbritannien, wo es viele Betroffene gibtâ, erzĂ€hlt Auer-Grumbach. Seit 2020 widmet sich die Gruppe drei vordergrĂŒndigen Zielen: Erstens sollen Patient:innen, die bislang keine Diagnose hatten, diese auf Basis von Gentests und Messungen toxischer Stoffwechselprodukte erhalten. Zweitens sollen FĂ€lle gelöst werden, die genetisch bislang ungeklĂ€rt waren. HierfĂŒr wurden nationale Daten ĂŒber Mutationen und Krankheitsbilder in einer gemeinsamen Analyse erfasst und auf Ăberschneidungen untersucht. Und drittens soll aus dem Projekt ein Register aller KrankheitsfĂ€lle entstehen, das es Expert:innen kĂŒnftig erlaubt, auf die Daten zuzugreifen. âDadurch können wir abschĂ€tzen, wie viele Patientinnen und Patienten europaweit betroffen sind und welche Mutationen die Erkrankung jeweils auslöst. Mit diesen Zahlen hoffen wir auch Pharmafirmen zu motivieren, an der Entwicklung von Therapien zu arbeitenâ, so Auer-Grumbach.
Die Expertin hat im Rahmen des Projekts den klinischen Part ĂŒbernommen und war mit der Rekrutierung neuer Patient:innen betraut. Die genetischen Analysen wurden gröĂtenteils in MĂŒnchen und Aachen durchgefĂŒhrt, die Messungen der toxischen Stoffwechselprodukte in ZĂŒrich. Erste Ergebnisse der gebĂŒndelten Analysen konnten zwar noch keine neuen Gene aufs Tapet bringen, bestĂ€tigten aber bereits vermutete Verdachtsgene, die es nun nĂ€her zu untersuchen gilt. Zudem soll die Kooperation ĂŒber die Projektlaufzeit hinaus â offiziell September 2023 â erhalten bleiben. âWir werden weiterhin FĂ€lle miteinander vergleichen und gemeinsam besprechenâ, versichert Auer-Grumbach. âWichtig ist, dass alle Menschen, die eine entsprechende Symptomatik haben, auf die genetische Ursache getestet werden.â Die Neurologin hat sich innerhalb der Krankheitsgruppe auf spĂ€t einsetzende Typen spezialisiert, die ab einem Alter von etwa 50 Jahren auftreten. âDiese Formen zeigen bei den ersten Symptomen Ăhnlichkeiten zu anderen Krankheiten, zum Beispiel der hereditĂ€ren Amyloidose. Allerdings können wir diese neuerdings gezielt behandeln. Deshalb ist eine frĂŒhzeitige AbklĂ€rung wesentlich.â
Zur Person
Michaela Auer-Grumbach ist FachĂ€rztin fĂŒr Neurologie und Psychiatrie. Sie vertritt die Neurologie an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr OrthopĂ€die und Unfallchirurgie der Medizinischen UniversitĂ€t Wien. Seit 25 Jahren beschĂ€ftigt sich die Ărztin mit hereditĂ€ren sensiblen und autonomen Neuropathien und richtete sowohl im OrthopĂ€dischen Spital Speising als auch im Wiener AKH eine Spezialsprechstunde fĂŒr seltene neuroorthopĂ€dische Erkrankungen ein. Das lĂ€nderĂŒbergreifende Projekt âEuropĂ€isches Netzwerk fĂŒr hereditĂ€re sensible Neuropathien â ENISNIPâ (2020â2023) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 103.671 Euro gefördert.
Publikationen
HĂžyer H., Hilmarsen H.T., Sunder-Plassmann R., Braathen G.J. et al.: A polymorphic AT-repeat causes frequent allele dropout for an MME mutational hotspot exon, in: Journal of Medical Genetics 59(10), 2022
Lischka A., Lassuthova P., Ăakar A., Record C.J. et al.: Genetic pain loss disorders, in: Nature Reviews Disease Primers 8(1), 2022