Sterben Nervenzellen ab, verliert man die Fähigkeit, Schmerzen zu spüren. Das kann genetische Ursachen haben und besonders für die Füße gefährlich werden. © Jan Romero on unsplash

„Schmerzen warnen uns, damit wir unseren Körper schützen können“, erklärt Michaela Auer-Grumbach, Neurologin an der Medizinischen Universität Wien. „Ein gesunder Mensch zieht seine Hand von einer heißen Herdplatte zurück oder spürt einen Fremdkörper im Schuh.“ Nicht so Menschen mit einer extrem seltenen Erbkrankheit, bei der bestimmte Nervenzellen im Körper absterben. Es handelt sich um die hereditäre sensible und autonome Neuropathie (HSAN). „Es kann durchaus vorkommen, dass Patient:innen mit einem gebrochenen Bein oder auf einem eingetretenen Reißnagel den restlichen Tag weitergehen, ohne es zu merken“, schildert Auer-Grumbach. Solche Verletzungen sind gleich doppelt gefährlich. Neben dem Schmerzempfinden ist auch die Wundheilung von der Erkrankung betroffen. Verletzungen heilen deshalb weniger schnell ab und können sich schwer infizieren. Derzeit betrifft die Erkrankung etwa 50 Menschen in Österreich, meist mehrere Personen innerhalb einer Familie. „Umso wichtiger ist der Zusammenschluss auf europäischer Ebene. Seltene Erkrankungen werden wegen der niedrigen Fallzahlen oft an den Rand gedrängt. Deshalb fehlt das medizinische Angebot“, betont Auer-Grumbach. Im FWF-geförderten Projekt „Europäisches Netzwerk für hereditäre sensible Neuropathien (ENISNIP)“ arbeiten europäische Spezialist:innen jetzt zusammen, um ungeklärte Fälle zu lösen und genetische Mechanismen zu erforschen.

Tägliche Herausforderung für Betroffene

HSAN kann je nach Typ in unterschiedlichen Schweregraden und in allen Altersgruppen auftreten. Bei Kleinkindern ist die Gefahr für Selbstverletzungen besonders hoch, weil sie ihre Umwelt kennenlernen, indem sie sie abtasten und Gegenstände in den Mund nehmen. „Einem gesunden Kind tut es weh, wenn es sich auf die Zunge oder Lippen beißt. Bei Kindern mit solchen seltenen Neuropathien kommt es dagegen zu schlimmen Verletzungen und sogar Verstümmelungen im Mundbereich und an den Fingern“, sagt Auer-Grumbach. Außerdem betrifft die Erkrankung Nervenzellen des autonomen Nervensystems – desjenigen Systems also, das im Hintergrund für die Regulation von zum Beispiel Verdauung, Herzschlag und Schwitzen zuständig ist. Bei Babys mit bestimmten genetischen Formen der HSAN kann es zu starken Fieberausbrüchen kommen, weil sie nicht schwitzen und deshalb ihre Körpertemperatur nicht regulieren können.

Präventive Maßnahmen setzen

Andere genetische Untertypen der Erkrankung setzen später im Leben ein und betreffen vor allem das Schmerzempfinden in Händen und Füßen. Auer-Grumbach erzählt etwa von Patienten, die während des Wehrdienstes eine erste Wunde bemerkten, nachdem sie lange Zeit in groben Schuhen marschiert waren. „Durch die Reibung entsteht eine Verletzung, die bei gesunden Menschen nach ein paar Tagen abheilt. Aber bei diesen Formen der Neuropathie kann sich so eine Wunde schnell infizieren, bis auf den Knochen vordringen und sogar zu Knocheneiterungen führen“, erläutert die Expertin. Beispiele wie diese verdeutlichen die Belastung, mit der Betroffene im Alltag konfrontiert sind. „Wichtig ist, den Patient:innen präventive Verhaltensmaßnahmen mitzugeben“, so Auer-Grumbach. Sie sollen auf keinen Fall barfuß gehen, ihre Schuhe stets auf Fremdkörper untersuchen, weiches Schuhwerk tragen und auch kleinste Verletzungen vermeiden. Besonders im Fall betroffener Kinder sind solche Regeln eine tägliche Herausforderung. „Weil die Krankheit so selten ist, ist es für Eltern sehr schwierig, ihr Kind in einem sozialen Umfeld zu integrieren. Allein im Kindergarten müsste man alle Verantwortlichen eigens dafür schulen“, sagt Auer-Grumbach.

Je nach betroffenem Gen unterscheidet sich das Krankheitsbild, also die Schwere der Erkrankung und das Ausbruchsalter. „Für viele der Familien in Österreich konnten wir die genetische Ursache in den vergangenen zwei Jahrzehnten klären. Damit sind wir bei der Erforschung der Krankheit weltweit vorne mit dabei“, betont die Neurologin. Sie war an den Entdeckungen mehrerer HSAN-Gene maßgeblich beteiligt, darunter die am besten erforschten Auslöser SPTLC1 und 2. Liegen in diesen Genen Mutationen vor, dann werden die davon abgelesenen Proteine falsch gebildet und lagern sich als giftige Abfallprodukte in den Nervenzellen ab. Für diese genetische Unterform gibt es bereits erste Therapiemöglichkeiten, während es für andere – trotz guter Fortschritte beim Verständnis der Krankheit – weiterhin an Therapien sowie den nötigen Versorgungsstrukturen fehlt. Der u. a. vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Zusammenschluss auf europäischer Ebene soll ermöglichen, das Wissen und die Kompetenz mehrerer Länder zu bündeln.

Europäische Spezialist:innen schließen sich zusammen

„Initiiert wurde das Projekt von Kollegen aus Deutschland. Außerdem sind Expert:innen aus der Türkei, der Schweiz und der Tschechischen Republik beteiligt. Eine gute Zusammenarbeit besteht auch mit Großbritannien, wo es viele Betroffene gibt“, erzählt Auer-Grumbach. Seit 2020 widmet sich die Gruppe drei vordergründigen Zielen: Erstens sollen Patient:innen, die bislang keine Diagnose hatten, diese auf Basis von Gentests und Messungen toxischer Stoffwechselprodukte erhalten. Zweitens sollen Fälle gelöst werden, die genetisch bislang ungeklärt waren. Hierfür wurden nationale Daten über Mutationen und Krankheitsbilder in einer gemeinsamen Analyse erfasst und auf Überschneidungen untersucht. Und drittens soll aus dem Projekt ein Register aller Krankheitsfälle entstehen, das es Expert:innen künftig erlaubt, auf die Daten zuzugreifen. „Dadurch können wir abschätzen, wie viele Patientinnen und Patienten europaweit betroffen sind und welche Mutationen die Erkrankung jeweils auslöst. Mit diesen Zahlen hoffen wir auch Pharmafirmen zu motivieren, an der Entwicklung von Therapien zu arbeiten“, so Auer-Grumbach.

Die Expertin hat im Rahmen des Projekts den klinischen Part übernommen und war mit der Rekrutierung neuer Patient:innen betraut. Die genetischen Analysen wurden größtenteils in München und Aachen durchgeführt, die Messungen der toxischen Stoffwechselprodukte in Zürich. Erste Ergebnisse der gebündelten Analysen konnten zwar noch keine neuen Gene aufs Tapet bringen, bestätigten aber bereits vermutete Verdachtsgene, die es nun näher zu untersuchen gilt. Zudem soll die Kooperation über die Projektlaufzeit hinaus – offiziell September 2023 – erhalten bleiben. „Wir werden weiterhin Fälle miteinander vergleichen und gemeinsam besprechen“, versichert Auer-Grumbach. „Wichtig ist, dass alle Menschen, die eine entsprechende Symptomatik haben, auf die genetische Ursache getestet werden.“ Die Neurologin hat sich innerhalb der Krankheitsgruppe auf spät einsetzende Typen spezialisiert, die ab einem Alter von etwa 50 Jahren auftreten. „Diese Formen zeigen bei den ersten Symptomen Ähnlichkeiten zu anderen Krankheiten, zum Beispiel der hereditären Amyloidose. Allerdings können wir diese neuerdings gezielt behandeln. Deshalb ist eine frühzeitige Abklärung wesentlich.“

Zur Person

Michaela Auer-Grumbach ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Sie vertritt die Neurologie an der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Medizinischen Universität Wien. Seit 25 Jahren beschäftigt sich die Ärztin mit hereditären sensiblen und autonomen Neuropathien und richtete sowohl im Orthopädischen Spital Speising als auch im Wiener AKH eine Spezialsprechstunde für seltene neuroorthopädische Erkrankungen ein. Das länderübergreifende Projekt „Europäisches Netzwerk für hereditäre sensible Neuropathien – ENISNIP“ (2020–2023) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 103.671 Euro gefördert.

Publikationen

Høyer H., Hilmarsen H.T., Sunder-Plassmann R., Braathen G.J. et al.: A polymorphic AT-repeat causes frequent allele dropout for an MME mutational hotspot exon, in: Journal of Medical Genetics 59(10), 2022

Lischka A., Lassuthova P., Çakar A., Record C.J. et al.: Genetic pain loss disorders, in: Nature Reviews Disease Primers 8(1), 2022