Was ist ein Opfer?

Was stellt man sich vor, wenn man den Begriff âOpferâ hört? Geht es darum, dass jemand zum Opfer gemacht wird? Oder geht es um ein Opfer, das gebracht wird, um ein Ziel zu erreichen? Gerade unter Jugendlichen ist der Begriff besonders vielschichtig: Er kann sowohl Beleidigung sein (âDu Opferâ) als auch zur Selbststilisierung, vielleicht gar mit dem Anspruch auf Wiedergutmachung, eingesetzt werden. WĂ€hrend das Englische beispielsweise klar zwischen âvictimâ (Opfer einer Straftat) und âsacrificeâ (ein zu bringendes Opfer) unterscheidet, ist es im Deutschen gewohnt kompliziert.
Karin Peter vom Institut fĂŒr Praktische Theologie der UniversitĂ€t Wien beschĂ€ftigt sich mit unterschiedlichen Vorstellungen zum Begriff âOpferâ, im konkreten Fall von SchĂŒler:innen. Wobei dahinter eigentlich etwas GröĂeres steckt: die Frage, ob und wie sich die Theorie des Conceptual Change im Religionsunterricht einsetzen lĂ€sst. âIm Endeffekt geht es dabei um die Frage, wie sich Alltagsvorstellungen zu fachspezifischen Vorstellungen verhaltenâ, sagt Peter. âAber dafĂŒr muss ich erstmal wissen, ob es zwischen diesen beiden ĂŒberhaupt einen Unterschied gibt.â Das ist es, was im Projekt âReligionspĂ€dagogische Analysen zur Opferthematik. Untersuchungen zwischen der Lebenswirklichkeit Jugendlicher und theologischer Traditionâ passiert, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird.
Vom Alltags- zum Fachwissen
Grob gesagt basiert die Theorie des Conceptual Change auf der Annahme, dass SchĂŒler:innen und andere Lernende mit bestehenden Vorstellungen zu einem Begriff oder PhĂ€nomen in den Unterricht eintreten, die einem AlltagsverstĂ€ndnis entsprechen. Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, diese individuellen Vorstellungen im Prozess zu verĂ€ndern â eben einen Konzeptwandel bei dem:der Lernenden auszulösen, in Richtung eines fachspezifischen VerstĂ€ndnisses. Von intuitivem Wissen zum Fachwissen quasi. âMit diesem Konzept hat man in den Naturwissenschaften beziehungsweise im MINT-Bereich gute Erfahrungen gemachtâ, sagt Peter.
In den Naturwissenschaften gibt es da meist eine klare, vertikale Hierarchie: Meine Alltagsvorstellung des PhĂ€nomens âKraftâ hilft mir bei physikalischen Problemen nicht unbedingt weiter. Im schlimmsten Fall schadet sie sogar, weil sie mich im fachspezifischen Kontext auf die falsche FĂ€hrte fĂŒhrt. Wobei auch in den MINT-FĂ€chern meist kein vollstĂ€ndiger Wandel erreicht wird: Wer am Vormittag âKraftâ im Physikunterricht korrekt verwendet, kann es am Nachmittag wieder im Sinne eines Alltagsbegriffes benutzen. âEs ist deshalb wichtig, einen solchen Vorstellungswechsel auch in einem horizontalen Sinn zu verstehenâ, sagt Peter. âVerschiedene Vorstellungen können gleichrangig nebeneinander existieren und von Personen je nach Kontext abgerufen werden.â
Studie zum Opferbegriff von Jugendlichen
Der Begriff âOpferâ eignet sich fĂŒr Forschungen im theologischen Kontext gut, weil er so verschiedene Bedeutungen hat: von âOpfer seinâ bis zu âOpfer bringenâ. Welche Vorstellungen unter den SchĂŒler:innen vorherrschen, hat Peter im Zuge einer explorativ-qualitativen Studie untersucht. Explorativ-qualitativ bedeutet, dass man ergebnisoffen herangeht, den Teilnehmer:innen möglichst wenig Vorgaben gibt und sich neue Erkenntnisse erhofft. Oder zumindest AnsĂ€tze, die einem zeigen, wo es sich lohnt, weiterzuforschen.
FĂŒr die Studie beantworteten 42 SchĂŒler:innen der 11./12. Jahrgangsstufe an vier österreichischen Gymnasien im Rahmen des katholischen Religionsunterrichts schriftlich einen Fragebogen. Dieser umfasste zwei Fragestellungen: Beide Male wurde nach der Vorstellung des âOpfersâ gefragt, nur war die Frage beim ersten Mal alltagsweltlich gerahmt, beim zweiten Mal theologisch. Das passiert mittels semantischer Marker â Begriffen oder Phrasen, die einen bestimmten Kontext eröffnen, wie zum Beispiel Familie, Freunde oder Schule fĂŒr die alltĂ€gliche Lebenswelt von SchĂŒler:innen, der Verweis auf Jesus fĂŒr einen theologischen Horizont. Im Anschluss wurden die Fragebögen qualitativ ausgewertet hinsichtlich der Frage, ob und wie sich alltagsweltliche in fachspezifisch-theologische Vorstellungen transformieren.
Theologische Intuition
âWir konnten in den Antworten fĂŒnf Transformationsmuster identifizierenâ, sagt Peter. Diese seien Konsistenz (die Motive und Merkmale Ă€ndern sich nicht oder kaum), Fokussierung (einzelne Motive oder Merkmale fallen weg), Adaptierung (leichte VerĂ€nderungen von Motiven oder Merkmalen), Figuration (grundlegende VerĂ€nderungen von Motiven oder Merkmalen) und Neuthematisierung (Einbringen von Aspekten, die vorher nicht Thema waren). âInhaltlich konnten wir einige Gemeinsamkeiten in den Transformationsmustern feststellenâ, sagt Peter. Mit dem Wechsel zum theologischen Kontext wĂŒrde hĂ€ufig die Besonderheit und Einzigartigkeit des Opfers Jesu betont. Da wĂŒrden sich oft bereits AnsĂ€tze einer fachspezifisch-theologischen Vorstellung widerspiegeln. âWenn man so will, haben die SchĂŒler:innen so etwas wie eine âtheologische Intuitionâ, die aber einer Vertiefung und Differenzierung bedarf.â
Auf dieser Grundlage könnten sich in Zukunft fĂŒr Religionslehrer:innen neue und/oder verbesserte Wege ergeben, den Jugendlichen die theologisch relevante Vorstellungswelt nĂ€herzubringen. Karin Peters Forschung ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.
Zur Person
Karin Peter studierte Theologie und ReligionspĂ€dagogik in Innsbruck. Neben ihrem berufsbegleitenden Doktoratsstudium unterrichtete sie Katholische Religion an einer Hauptschule, anschlieĂend lehrte sie an der Kirchlichen PĂ€dagogischen Hochschule Edith Stein in Tirol. Seit 2014 ist sie als Postdoc am Institut fĂŒr Praktische Theologie der UniversitĂ€t Wien tĂ€tig, seit 2019 als Projektleiterin des vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Elise-Richter-Projekts âReligionspĂ€dagogische Analysen zur Opferthematikâ (2019â2023).
Publikationen
Peter K., Lehner-Hartmann A., Stockinger H.: Religion betrifft Schule. Religiöse PluralitÀt gestalten, in: Brennpunkt Schule, Kohlhammer 2022
Peter, Karin: Poster: Transformationsmuster juvenilen Theologisierens. Potential des conceptual change-Ansatzes fĂŒr die Religionsdidaktik â exemplarisch im Kontext der Opferthematik, in: Theo-Web, 20(2), 176â181, 2021