Matthias Groß lenkt den Blick auf das, was Forschung alles nicht weiß. Nichtwissen kann man strategisch nützen, sagt der Umweltsoziologe. © André Künzelmann/UFZ

FWF: Sie sind Mitherausgeber des „International Handbook of Ignorance Studies“, also einem Handbuch über das Nichtwissen, das 2015 erschienen ist und viel diskutiert wurde. Warum ist das Wissen über das Nichtwissen, wie es schon bei Sokrates heißt, im 21. Jahrhundert wieder zum Thema geworden? Matthias Groß: In der modernen Welt hat es sich durchgesetzt, dass Wissen besser und überlegener ist als Nichtwissen. Wenn man eine gute Entscheidung treffen will, dann muss man sicheres und akzeptiertes Wissen haben, so lautet das Credo. Doch vor dem Hintergrund unüberschaubarer Datenmengen, von Informationsüberfluss und neuem Wissen werden auch die Wissenslücken immer sichtbarer. Neues Wissen zeigt eben auch immer neues Nichtwissen auf. Das zeigt klar, dass man nicht immer Entscheidungen treffen kann, die auf abgesichertem Wissen beruhen. Es wird nun immer deutlicher, dass dieser einseitige Fokus auf Wissen nicht so schlau war. Das hat uns dazu bewogen, ein Handbuch zu publizieren über etwas, was es eigentlich nicht gibt beziehungsweise was empirisch nur schwer zu fassen ist, aber dennoch in unserem Alltag präsent ist und für unser Überleben wichtig. FWF: Analog zum Recht auf Vergessen, dass das „allwissende“ Internet hervorgebracht hat, gibt es heute auch ein Recht auf Nichtwissen. Wann ist Unwissenheit nützlich? Groß: Nichtwissen wird im Alltag eingesetzt und wir überlegen uns auch strategisch, was andere über uns Wissen, was sie vielleicht besser nicht wissen sollten, was wir sagen oder nicht sagen dürfen. Das ist etwas völlig Normales und kann auch positiv sein, solange es nicht missbraucht oder manipuliert wird, wie etwa die aufgedeckten Fälle aus der Tabakindustrie, der Finanzwirtschaft oder vielen anderen Bereichen in den vergangenen Jahrzehnten zeigten. Heute ist das Recht auf Nichtwissen besonders im medizinischen Bereich relevant geworden. Es gilt beispielsweise in der pränatalen Gen-Diagnostik, um sich selbst und das Leben des Ungeborenen zu schützen, oder wenn es um Erbkrankheiten geht. FWF: Ins Ungewisse aufzubrechen und Neuland zu betreten, ist ein Urtrieb der Wissenschafterin, des Wissenschafters und die Voraussetzung für Innovationen. Warum fällt es uns als Gesellschaft so schwer, uns auf Veränderungen einzulassen? Groß: In der Wissenschaft ist alles interessant, was unsicher ist und wo Wissenslücken besonders groß sind. Was die Wissenschaft produziert, ist per Definition unsicher. Im Grunde geht es um Spezifizierung von Nichtwissen: Man formuliert eine Hypothese und versucht damit zu spezifizieren, was nicht gewusst wird. Auf der einen Seite steht also die Freude am Nichtwissen, auf der anderen Seite damit verbundene Gefahren, die in einer kritischen Gesellschaft nicht so schnell akzeptiert werden, und dies auch aus guten Gründen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns: Einerseits gibt es keine Innovationen, ohne Neuland zu betreten und ohne Entscheidungen unter Situationen des Nichtwissens zu treffen. Auf der anderen Seite ist es nicht akzeptiert und politisch heikel, denn es widerstrebt unserem Sicherheitsdenken in der Moderne.

„Es ist an der Zeit, an dem einseitigen Sicherheitsdenken zu rütteln.“ Matthias Groß

FWF: Wie lässt sich dieses Dilemma lösen und welche Rolle kommt dabei der Forschung zu? Groß: Die traditionelle Sichtweise lautet: Hier gibt es noch Lücken, wir müssen neues Wissen produzieren, um in Zukunft sichere Entscheidungen treffen zu können. Wir wissen aber, dass jedes neue Wissen und jede vermeintlich bessere Technologie nicht intendierte Nebenfolgen mit sich bringen, von denen man vorher nichts wissen konnte. – Das ist ein Teufelskreis. Die Frage muss daher lauten: Wäre es nicht an der Zeit, an dem einseitigen Sicherheitsdenken und an den überhöhten Erwartungshaltungen an die Wissenschaft zu rütteln? – Indem wir uns bewusst machen, dass Unsicherheit und Nichtwissen einfach dazugehören. Aber dahinter steht ein kulturell tief verankerter Glaube an das Wissen, der nicht so einfach zu verändern ist. FWF: Von der Wissenschaft wird immer mehr Transparenz eingefordert und die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger. Könnte das diesen Kulturwandel, den Sie fordern, erleichtern? Groß: In der demokratischen Gesellschaft ist das sicherlich gut und der richtige Weg. Aber man muss davon abrücken zu glauben, dass mehr Transparenz und Beteiligung auch mehr Akzeptanz bedeuten. Denn damit werden wiederum Ängste geweckt, die man nicht vorhersehen kann. FWF: Mehr Transparenz, die mehr Unsicherheit zutage fördert, widerspricht dem, was wir gewöhnt sind: Erfolgsmeldungen aus der Wissenschaft zu erhalten. Braucht es eine neue Art der Kommunikation, um die Akzeptanz der Wissenschaft zu erhöhen? Groß: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen einen Weg finden auch darüber zu sprechen, was alles nicht gewusst wird. Die Wissenschaft steht unter einem enormen Druck, immer neues Wissen hervorzubringen. Deswegen wird nach außen hin auch nur das kommuniziert, was man als Erfolg verkaufen kann. Das ist die Kehrseite dieser Erwartungshaltung. Aber vielleicht kann man zunächst nur erarbeiten und darstellen, was man alles nicht weiß. Deswegen haben wir mit unserem Handbuch versucht, das zu spezifizieren und aufzuzeigen, dass das, was noch nicht gewusst wird bereits sehr wertvoll sein kann. Nichtwissen zu erkennen und zu lernen damit umzugehen, ist schon eine Leistung und diese sollte klar kommuniziert werden. Stellt man das neue Wissen und das Unbekannte zu einem Thema vergleichend nebeneinander, ergibt das ein völlig anderes, umfassenderes Bild von aktuellen Forschungsfragen und -entwicklungen. FWF: Wie man Nichtwissen strategisch nützen kann, demonstrieren die „Realexperimente“, die Sie als Umweltsoziologe aufgebaut und geleitet haben. Was versteht man darunter? Groß: Wir haben vor gut 15 Jahren an der Universität Bielefeld in einem Nachwuchsgruppenprojekt damit begonnen, den wissenschaftlichen Experimentgedanken auf gesellschaftliche Prozesse zu übertragen. In der soziologischen Forschung wurde schon lange beobachtet, wie die moderne Gesellschaft zunehmend in experimentelle Prozesse der Wissenschaft hineingezogen wurde. Tschernobyl war in den 1980er-Jahren ein wichtiges Ereignis, aus dem viel gelernt wurde, etwa über Sicherheitssysteme, die Medien oder die Politik. Wir wollten dieses „Großexperiment“ positiv wenden, um die Möglichkeit zu eröffnen, über Experimente im öffentlichen Raum nachzudenken, die von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden. Wir haben uns dann geografisch kleinskaligere Fallbeispiele angesehen, zum Beispiel im Bereich der Stadtbegrünung gemeinsam mit Akteuren aus der Gesellschaft. Dass dies ein richtiger Schritt war, zeigen heute Diskussionen zu Reallaboren, die einige der Ideen zu gesellschaftlichen Realexperimenten fruchtbar aufgreifen.

„Vertrauen spielt eine ganz entscheidende Rolle.“ Matthias Groß

Wir konnten in Realexperimenten zudem zeigen, dass Entscheidungen unter bestimmten Bedingungen auch dann getroffen werden, wenn nicht alles abgeklärt oder da ist, was noch gebraucht wird an Daten, Wissen etc. – um nicht zu riskieren, dass ein Projekt aufgrund von Zeit- oder Finanzierungsdruck ins Wasser fällt. Dabei spielt Vertrauen eine ganz entscheidende Rolle. Und das ist der Punkt, der sich auch empirisch zeigen lässt: Wo erfolgreich mit Nichtwissen umgegangen wird, haben kulturelle Faktoren wie gegenseitiges Vertrauen, Erfahrung oder die Abklärung von „Stoppregeln“ für ein Realexperiment dazu geführt, dass Projekte gelingen. Ich finde es wichtig, dass wir versuchen, dieses Wissen aus der Soziologie auf heiklere Themen zu übertragen, um zu sehen, wie man so zu guten Entscheidungen kommt. Da steht unsere Forschung jedoch noch am Anfang. FWF: Wenn das Unbekannte ein wichtiger Faktor ist, warum wird dieser bis dato in der Forschung vernachlässigt? Groß: Mit Nichtwissen umzugehen, obwohl wir wissen, dass es höchste Zeit ist, ist alles andere als einfach, weil die Akzeptanz schnell dahin ist. Es gibt aber Forschungen aus der Organisationspsychologie und auch der Soziologie, die zeigen, dass das Kommunizieren von Nichtwissen nicht unbedingt zu

„Die Öffentlichkeit ist durchaus fähig, Nichtwissen richtig einzuschätzen.“ Matthias Groß

Vertrauensverlust führen muss. Die Öffentlichkeit, auch eine kritische, ist durchaus fähig, Nichtwissen richtig einzuschätzen, vorausgesetzt, die Informationen zu Wissenslücken werden gut erklärt. Das kann vertrauensbildender sein, als mit mehr oder weniger ungenauen Risikoabschätzungen zu hantieren. Daran sieht man, wie schwierig es ist, in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten, wo jede Seite einer Debatte behauptet, es genau zu wissen, das Nichtwissen in einem strategischen oder vertrauensbildenden Sinne aufzubauen. FWF: Stichwort alternative Fakten: Viele sehen die Wissenschaft im Umbruch und auch deren Unabhängigkeit in Gefahr. Teilen Sie diese Bedenken? Groß: Es wird ständig eine neue Form von Gesellschaft ausgerufen, aber empirisch ist das immer schwierig zu fassen. Möglicherweise ist das jetzt mit Big Data und Dark Knowledge genauso. Was die Unabhängigkeit der Forschung angeht, teile ich die Bedenken. Aber die gab es schon immer. Was ich jedoch nicht verstehe, ist der Hype um die sogenannten alternativen Fakten. Diese sind aus Sicht der Soziologie etwas vollkommen Normales. In der Wissenschaft gibt es Expertise und Gegenexpertise, bis sich ein Wissen über einen bestimmten Sachverhalt als etabliert herausstellt. Dieser Prozess kann sehr lange dauern. Das heißt, neues Wissen ist immer unsicher und in diesem Sinne ein alternatives Faktum. Dass das jetzt gekapert und in den politischen Raum transportiert wurde, ist schade. Die Frage ist immer, wofür Wissen produziert wird und ob es transparent aufbereitet ist. Diesbezüglich habe ich tatsächlich Bedenken, dass gewisse Dinge missbraucht werden könnten. FWF: Was haben Sie als Soziologe von den Naturwissenschaften gelernt? Groß: Als Sozialwissenschaftler hat man idealtypische Vorstellungen, doch diese bewahrheiten sich meistens nicht. Gerade Ingenieure ticken viel soziologischer als ich ursprünglich dachte. Sie wissen, dass bestimmte Methoden ungenau sind, zum Beispiel wenn es um die Wiederholbarkeit von Experimenten geht. Naturwissenschaftler sind sehr zugänglich und was ihre Methoden anbelangt viel kompatibler mit den Sozialwissenschaften als ich das vor 10 oder 15 Jahren noch geglaubt hatte. FWF: Gibt es etwas, das Sie rückblickend lieber nicht gewusst hätten? Groß: Das ist eine interessante Frage. Wir forschen ja relativ viel darüber, wie man Personen vor zu viel Information schützen kann, vor allem wenn es wie angesprochen um schwere Erkrankungen geht. Selbst gefragt, ertappt man sich dabei, dass man doch alles wissen will. Da bin auch ich in der Moderne verhaftet. Das zeigt, wie tief der Drang nach Wissen in uns sitzt. Der kulturelle Wandel, der vor uns liegt, wird alles andere als einfach werden.


Matthias Groß ist Professor für Umweltsoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena in gemeinsamer Berufung mit dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig. Er forscht unter anderem zu Theorien der Beziehungen von Natur und Gesellschaft, zu Umweltinnovationen und Nachhaltigkeit, experimentellen Strategien sowie Risiko und Nichtwissen. Groß ist Autor zahlreicher Publikationen. Er ist Mitbegründer und Herausgeber der interdisziplinären Zeitschrift Nature + Culture und Mitherausgeber des International Handbook of Ignorance Studies (2015) sowie des aktuell erschienenen Buches „Experimentelle Gesellschaft“.


Open Science, Dark Knowledge Der Soziologe Matthias Groß war Teilnehmer eines Arbeitskreises zum Thema „Open science, dark knowledge: Wissenschaft in einer Zeit der Ignoranz“ beim Europäischen Forum Alpbach 2017. Bei der vom Wissenschaftsfonds FWF organisierten Veranstaltung diskutierten international führende Expertinnen und Experten über Veränderungen im Wissenschaftssystem, über das wachsende Ungleichgewicht von vorhandenem und öffentlich verfügbarem Wissen sowie über die Auswirkungen von Privatisierung und Ökonomisierung der Wissenschaft.


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