Verdrängt und vergessen – Kultur der Zwischenkriegszeit
Anschlussdebatte, Habsburgischer Mythos und Rotes Wien, Arthur Schnitzler und Robert Musil – die Kultur- und Literaturgeschichte der österreichischen Zwischenkriegszeit wurde oft genug auf wenige Themen und Namen begrenzt. Dabei war sie von radikalen Veränderungen vieler Lebensbereiche gekennzeichnet, so auch jenen der medial-künstlerischen Kultur. "Aspekte dieser Veränderungen wurden jedoch lange an den Rand gedrängt. Und dadurch, dass zahlreiche Kulturschaffende im Zuge der politischen Umbrüche 1933/34 und 1938 vertrieben wurden, kam es zu anhaltenden Ausgrenzungen ihrer Leistungen. Die Folge war ein lückenhaftes, durch Vereinfachungen geprägtes Epochenbild", so Primus-Heinz Kucher vom Institut für Germanistik an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Die facettenreiche kulturelle Landschaft der Zwischenkriegszeit in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren, um der Epoche ihr eigentliches Profil zurückzugeben, ist daher die Herausforderung und Aufgabenstellung der von ihm koordinierten Forschungsvorhaben.
Mediale Meinungsmacher
Herzstück seines FWF-Projekts "Transdisziplinäre Konstellationen" ist die Bereitstellung umfassender Ressourcen in Print und im Web. Bereits in einem Vorläuferprojekt des FWF hat das Projektteam tausende Textbeiträge, d.h. Essays, Kritiken, Feuilletonbeiträge zu Literatur-, Kunst- und (Alltags-)Kultur gesichtet: "Diese Beiträge zeigen, dass die Autoren weniger die Vergangenheit im Fokus hatten, als vielmehr den aufstrebenden Printmedienmarkt intensiv nutzten, um sich kritisch zu ästhetischen und politisch-kulturellen Fragen zu positionieren", erläutert Kucher.
Stimmenvielfalt im Überblick
Rund 60 Themenfelder und etwa 700 Beiträge, die die Diskursfelder und Stimmenvielfalt prägnant repräsentieren, werden derzeit für ein grundlegendes Quellenwerk "Texte und Manifeste zur Kultur und Literatur der österreichischen Zwischenkriegszeit" editiert und kommentiert. Die Themen reichen von Umbruchs- und Aufbruchsdebatten, vom USA- und Russlandbild, sich ändernden Geschlechterrollen bis hin zu Facetten von Urbanität, Technik und Freizeit und deren auch visuelle Repräsentation, u.a. durch Avantgarde-Bewegungen wie den Kinetismus rund um F. Cizek oder E. G. Klien. Auch Musikkultur (wie E. Krenek oder die zeitgenössische Jazz-Rezeption), experimentelles Theater und Film spielen wichtige Rollen. Insbesondere widmet sich das Forscherteam Kulturschaffenden, die mit intermedialen Arbeiten auch die Alltagskultur mitgeprägt haben: "Die Bedeutung des Werks von Leo Lania beispielsweise, der politisch-publizistisch, aber auch für Radio und Film medienübergreifend gearbeitet hat, lässt sich erst nur eingebettet in das kulturelle Umfeld der Zeit wirklich erfassen. Auch Josef Franks und Oskar Strnads architektonisch-künstlerische Arbeiten, etwa die 'Werkbundsiedlung', weisen auf ein spezifisches Selbstverständnis der Epoche hin und erschließen sich primär im Zusammenhang mit urbaner Alltagskultur.“
Kultur der Zwischenkriegszeit online
Weitere Dokumente und Informationen bereitet das Team, das unter anderen durch ausgewiesene freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem internationalen Forschungsverbund ausgebaut wird, für eine frei zugängliche Online-Plattform auf. Diese wird mit zusätzlichen Quellentexten pro Themenfeld und Tagungsergebnissen zu einer vertiefenden Erkundung einladen. Ein Personen- und Stichwortregister, Kurzbiografien und 40 Porträt-Module, darunter nicht wenige zu Autorinnen und Autoren und Künstlerinnen und Künstlern, die aus Österreich vertrieben wurden, stecken schon jetzt ein erweitertes Autorenspektrum der Zeit als bisher üblich ab. "Die Nutzer werden auf der Plattform zahlreiche Verlinkungen zwischen den Einträgen und eine integrierte Suchfunktion vorfinden. So werden beispielsweise auch rund 30 Zeitungen und Zeitschriften auf projektspezifische Fragestellungen durchsucht werden können", erklärt Kucher. Zurzeit umfasst die Plattform mehr als 60.000 Einträge. Die durch das Projekt aufbereiteten Quellentexte werden gemeinsam mit Tagungsergebnissen wie jene, die kürzlich im Band "Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde" erschienen sind, ein differenziertes und teilweise modifiziertes Epochenbild bieten. Zahlreiche durch politische Brüche verdrängte, verschüttete Bewusstseinslagen und Wissensbestände werden rekonstruiert und der Öffentlichkeit zugänglich.
Zur Person Primus-Heinz Kucher lehrt neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Seine Forschungs- und Interessensschwerpunkte umfassen die deutsche und österreichische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Exil- und Immigrationsliteratur, komparatistische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen, literarische Übersetzung und Rezeption; Reise- und Genreprosa sowie die deutsch-jüdische Literatur.
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