Soziale Kontakte fördern Proteste gegen Abschiebungen
Marcus Omofuma (1999), die Familie Zogaj (2007) und die Komani Zwillinge (2010): Die âFĂ€lleâ hinter diesen Namen sind in Ăsterreich untrennbar verbunden mit politischen Entscheidungen, staatlichen ZwĂ€ngen und menschlichen Dramen rund um Asyl und Abschiebung. Die Schicksale dieser Menschen, die in Ăsterreich bleiben wollten, haben viele zu Protesten motiviert. Neben teilnahmestarken Demonstrationen gab und gibt es zahlreiche kleine, lokale Proteste, die eine Abschiebung nach einem negativen Asylbescheid verhindern konnten. UnterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF untersuchte ein Team um Sieglinde Rosenberger das Protesthandeln der Zivilgesellschaft. âAsyl und Abschiebung sind politisch höchst umstrittene und gesellschaftlich polarisierte Themen. Die Studie hat untersucht, wie in diesem Umfeld Proteste gegen politisch-administrative Entscheidungen entstehen, welche Repertoires Protestierende nutzen und welche Konsequenzen und Erfolge sie generiertenâ, erlĂ€utert die Politikwissenschafterin von der UniversitĂ€t Wien. Die transnationale Studie âTaking Sidesâ wurde zwischen 2013 und 2017 durchgefĂŒhrt, ĂŒberblickt einen Zeitraum von zwanzig Jahren (1993-2013) und vergleicht Deutschland, Ăsterreich und die Schweiz.
Stellvertretend Widerstand leisten
1993 wurde deshalb als Beginn der Langzeituntersuchung festgelegt, weil es in dem Jahr in allen drei LĂ€ndern zu wesentlichen Ănderungen der Asylbestimmungen kam. Die Protestforschung interessiert sich neben den Bedingungen und Formen des Auftretens auch fĂŒr Ziele und Ergebnisse von Protesten. Die Teams an der UniversitĂ€t Wien, der UniversitĂ© de NeuchĂątel (CH) und der UniversitĂ€t OsnabrĂŒck (D) fanden heraus, dass die Proteste gegen asyl- und abschiebepolitische Entscheidungen vor allem von Menschen getragen wurden, die davor kaum politisch organisiert oder engagiert waren: âWir nennen sie SolidaritĂ€tsproteste, weil Menschen stellvertretend auf die StraĂe gehen fĂŒr weitgehend rechtlose Menschen, deren Schicksal, Gesicht und Stimme sie kennenâ, sagt Sieglinde Rosenberger. Den Protestierenden geht es weniger um Parteipolitik oder eigene Interessen, sondern um SolidaritĂ€t, Gerechtigkeit und HumanitĂ€t. âWir fanden, dass soziale Kontakte und Beziehungen zu den Abzuschiebenden besonders relevant fĂŒr das Entstehen der Proteste warenâ, so die Politikwissenschafterin. <iframe src="https://www.google.com/maps/d/embed?mid=1Ejad4BP8jaCoOAoQkuvQootCVrM&hl=de" width="640" height="480"></iframe>
Protest-Landkarte des Projekts mit Protesten gegen Abschiebungen in Ăsterreich. Die Pin-Farbe verweist auf den Verlauf der Proteste: grĂŒne Pins = Abschiebung verhindert, rote Pins = Abschiebung erfolgt, blaue Pins = Ausgang unklar.
Gelegenheiten fĂŒr politische Einmischung nutzen
Der âPolitical Opportunity Structuresâ-Ansatz ist ein viel verwendetes ErklĂ€rungs-Modell fĂŒr Protestaufkommen. Auch im FWF-Projekt âTaking Sidesâ wurde untersucht, welche Strukturen und Institutionen das âHandeln von untenâ â auĂerhalb der reprĂ€sentativen politischen SphĂ€re â begĂŒnstigen oder behindern. In Ăsterreich sind nach 1945 Politik und Gesellschaft durch Parteien dominiert und organisiert, das zivilgesellschaftliche politische Engagement ist im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz eher schwach ausgeprĂ€gt. âDer theoretische Ansatz half uns zu erkennen, warum in Ăsterreich Proteste auf Ebene der Politik-Umsetzung im konkreten Fall stĂ€rker vertreten sind, als Proteste gegen Gesetze und Bestimmungen. Aber unsere Studie zeigt, dass Strukturen als Auslöser nicht ausreichenâ, beschreibt die Projektleiterin. In Interviews mit Protest-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern wurde deutlich, dass Vorstellungen von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Fairness eine wichtige Rolle spielen und GefĂŒhle wie Zorn, EnttĂ€uschung oder Frust durch Proteste kanalisiert werden. In der direktdemokratischen Schweiz engagiert sich die Bevölkerung hingegen gewohnheitsmĂ€Ăig viel hĂ€ufiger in Entscheidungsprozessen. In Deutschland wurden mehr aktivistische Proteste verzeichnet, unterstĂŒtzt von Organisationen (z.B. NGO) und verbunden mit politischen Forderungen. In Ăsterreich âkonnten wir eine starke Einzelfallorientierung feststellen. Mit den Protesten waren meist keine weiteren politischen Forderungen verbunden, sondern die Abschiebung von bestimmten Personen sollte verhindert werdenâ, erlĂ€utert Rosenberger.
Im Einzelfall oft zum Erfolg
Gerade diese Art der Proteste fĂŒhrte vergleichsweise hĂ€ufig zum Ziel: Im Vergleich zu anderen Politik- und Protestfeldern sind lokale Proteste oft erfolgreich. Sieglinde Rosenberger vermutet, dass das Engagement von bisher âunauffĂ€lligenâ BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern, denen keine parteipolitischen LoyalitĂ€ten zugeschrieben werden, ein wichtiger Protestfaktor ist. GroĂe Kundgebungen haben in Ăsterreich aber durchaus auch politische MaĂnahmen nach sich gezogen wie etwa das Bleiberecht. Bei den vergleichsweise stĂ€rker aktivistischen Protesten in Deutschland konnten direkte Erfolge aber weniger beobachtet werden.
Ein Like ist gut â auf die StraĂe gehen besser
Social Media dienten ab ihrer gröĂeren Verbreitung fĂŒr Mobilisierung und Austausch. FĂŒr einen Protesterfolg war es aber notwendig, nicht nur auf Facebook zu liken. Da ging es um körperliche PrĂ€senz: Sich gewaltlos vor den BĂŒrgermeister oder die Fremdenpolizei zu stellen, vielleicht mitten in der Nacht. âDie direkte, unmittelbare Form des Protests, zum Beispiel auf der StraĂe und vor UnterkĂŒnften, ist ein starkes Partizipationsinstrumentâ, betont Sieglinde Rosenberger. Die Politikwissenschafterin sieht auch aktuell wieder Potenzial fĂŒr Widerstand: Viele Asylverfahren aus dem Jahr 2015 werden derzeit entschieden und einige der Menschen, die in Ăsterreich Asyl beantragt haben, werden noch von FlĂŒchtlingsinitiativen betreut â von Menschen also mit Kontakten.
Zur Person Sieglinde Rosenberger ist seit 1998 Professorin fĂŒr Politikwissenschaft an der UniversitĂ€t Wien und Vizedekanin der FakultĂ€t fĂŒr Sozialwissenschaften. Sie forscht zu Inklusion und Exklusion im Kontext von Migration, Ăsterreichischer Politik und EuropĂ€isierung, sowie Politischer Partizipation. Sie leitet die Forschungsgruppe âINEX - Politics of Inclusion and Exclusionâ und ist stellvertretende Sprecherin der Plattform âReligion and Transformation in Contemporary European Societyâ. Seit 2018 ist sie Mitglied im SachverstĂ€ndigenrat deutscher Stiftungen fĂŒr Migration und Integration.
Projekthomepage: https://inex.univie.ac.at/research/taking-sides/
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