Junger Mann wartet an einer Haltestelle und schaut auf die Uhr
Wie wir eine Person einschĂ€tzen, die sich verspĂ€tet, hĂ€ngt davon ab, wie viel Vorwissen wir ĂŒber sie haben. Psycholog:innen untersuchen, wie wir in sozialen Situationen mit Ungewissheiten umgehen. © unsplash+

Stellen Sie sich vor, Sie treffen eine Freundin, die bei zehn von zehn Treffen immer pĂŒnktlich war. Beim elften Treffen gehen Sie vermutlich davon aus, dass sie wieder zur vereinbarten Zeit erscheint. Wie wir solche Erwartungen bilden – und mit welcher Gewissheit – ist das Forschungsfeld von Bianca Schuster, Psychologin an der UniversitĂ€t Wien.

In dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt „Dopamin und Precision Weighting von sozialen Signalen“ untersucht sie, wie wir das Verhalten anderer Menschen beurteilen und ĂŒber sie lernen. Die Antwort, so die Forscherin, könnte in einem statistischen Verfahren liegen: Wir wĂ€gen unsere Erfahrungen und neue Informationen anhand ihrer Wahrscheinlichkeiten gegeneinander ab. Schuster vermutet, dass dabei der Neurotransmitter Dopamin eine zentrale Rolle spielt. Ist das Dopaminsystem gestört, etwa bei Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie, wird es schwieriger, soziale Situationen richtig zu deuten.

Das Projekt

Beeinflusst der Dopaminspiegel, wie gut Menschen Informationen bewerten können und dementsprechend ihr soziales Verhalten anpassen? Eine klinische Studie untersucht, worĂŒber derzeit noch spekuliert wird: ob Dopaminblockaden die sozialen FĂ€higkeiten von Menschen negativ beeinflussen. 

 

Eine Frage der AbwÀgung

„Wenn wir auf einer Beerdigung jemandem begegnen, nehmen wir wahrscheinlich an, dass diese Person traurig ist“, beschreibt Schuster ein anderes Beispiel. „LĂ€chelt die Person dann unerwartet, gehen wir trotzdem davon aus, dass dahinter eine traurige Emotion steckt. Vielleicht spiegelt der Gesichtsausdruck nicht die echte Emotion wider. Oder wir tĂ€uschen uns in dem, was wir sehen, etwa weil wir unsere Brille vergessen haben.“

Solche Unsicherheiten sind typisch fĂŒr soziale Situationen. Wie stark wir bestimmten Informationen trauen, hĂ€ngt davon ab, wie sicher wir uns ihrer sind, und dies basiert auf Erfahrung. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von „Precision Weighting“, also PrĂ€zisionsgewichtung: „Die Theorie der Bayesschen Inferenz besagt, dass wir statistisch lernen, anhand von Stichproben und Erfahrungen“, erklĂ€rt Schuster. Wir beurteilen unsere Umwelt, indem wir Wahrscheinlichkeitsverteilungen berechnen. „In dem Beispiel vertrauen wir stĂ€rker auf unser Vorwissen, dass Menschen auf Beerdigungen normalerweise traurig sind, und legen im Gegensatz dazu weniger Gewicht auf sensorische Informationen wie einen lĂ€chelnden Gesichtsausdruck.“

„Die Theorie ist sehr mathematisch“, pflichtet Schuster bei. Bisher wurde die Bayessche Inferenz meist auf nicht soziale Kontexte angewendet. Die Psychologin ĂŒbertrĂ€gt das Konzept auf soziale Interaktionen – mit einem besonderen Fokus auf den Neurotransmitter Dopamin. Denn dieser steht im Verdacht, unsere EinschĂ€tzung von Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen.

Grafik zur Einschatzung des Risikoverhaltens von Personen und kĂŒnstlicher Intelligenz
Im Rahmen des Forschungsprojekts sollen Proband:innen die Risikofreudigkeit von Pokerspieler:innen einschĂ€tzen, darunter vier Personen und vier kĂŒnstliche Intelligenzen. Die Grundlage fĂŒr diese EinschĂ€tzung bilden Vorinformationen zu den Akteur:innen und deren eigentliches Spielverhalten. © Bianca Schuster

Am Beispiel eines Pokerspiels

„Die erste Phase des Forschungsprojekts habe ich intensiv dafĂŒr genutzt, neue kognitive Aufgaben zu entwickeln, mit denen wir diese Theorie testen können“, erzĂ€hlt Schuster. Eine der Aufgaben basiert auf einem Pokerspiel: Die Proband:innen erhalten Vorinformationen zu acht Spieler:innen – zum Beispiel wie risikobereit sie sich selbst einschĂ€tzen –, von denen vier Menschen und vier kĂŒnstliche Intelligenzen sind.

Anschließend wird den Proband:innen ein Kartenblatt und die mathematische Gewinnwahrscheinlichkeit dieses Blatts gezeigt. Die Aufgabe lautet nun: Wie viel Geld hat Spielerin A Ihrer Meinung nach gesetzt, basierend auf der Vorinformation, der Wahrscheinlichkeit zu gewinnen und dem vorherigen Verhalten der Spielerin?

„Wir erwarten, dass unsere Proband:innen ĂŒber die Vorinformationen und durch Beobachtung der einzelnen SpielzĂŒge die wirkliche Risikobereitschaft der einzelnen Akteur:innen abschĂ€tzen“, erklĂ€rt Schuster. „Je nachdem, wie eindeutig die Vorinformation ist, spiegelt die Aufgabe verschiedene Situationen wider – von Menschen, die wir kaum kennen, bis hin zu solchen, deren Verhalten wir gut einschĂ€tzen können.“

Welche Rolle spielt Dopamin?

Im nĂ€chsten Schritt will Schuster den Dopaminspiegel der Proband:innen medikamentös verĂ€ndern und beobachten, ob sich ihre EinschĂ€tzungen verĂ€ndern. „Unsere Medikamentenstudie lĂ€uft aktuell an. Sie dauert rund sechs Monate, danach beginnen wir mit der Auswertung“, berichtet Schuster. Ihre Hypothese ist, dass der Dopaminspiegel beeinflusst, wie gewiss den Proband:innen die Informationen erscheinen und ob sie ihnen vertrauen. „Die Beweislage ist sehr uneindeutig, aber es gibt ein paar Studien, die darauf hinweisen, dass eine Blockade von Dopamin dazu fĂŒhren kann, dass Menschen die Gewissheit verschiedener Informationen weniger gut einschĂ€tzen und gegeneinander abwĂ€gen können.“

Dopamin, oft auch als „GlĂŒckshormon“ bezeichnet, erfĂŒllt viele verschiedene Funktionen im Körper. „Bei Parkinson wissen wir, dass die Bewegungsstörungen dadurch entstehen, dass Dopamin produzierende Zellen absterben“, sagt Schuster. Eine zweite zentrale Aufgabe von Dopamin liegt im Belohnungssystem sowie in der Steuerung der Motivation. Das zeigen Verhaltensstudien, bei denen MĂ€use lernen, dass nach einem Ton eine Zuckerlösung folgt. Mit der Zeit feuern die Dopaminneuronen der Tiere bereits, wenn sie den Ton hören. „Was mich interessiert, ist eine neuere Theorie, nach der Dopamin weniger den Wert einer Belohnung signalisiert, sondern die Wahrscheinlichkeit, mit der wir die Belohnung ĂŒberhaupt erwarten können“, so Schuster.

Was Berechnungen ĂŒber uns verraten

Ein wichtiger Baustein des Projekts ist die Art der Auswertung. „Neben konventionellen statistischen Methoden analysieren wir unsere Daten auch mithilfe von Computational Modeling“, sagt Schuster. Mit solchen Verfahren lassen sich nicht nur Mittelwerte berechnen, sondern auch dynamische VerĂ€nderungen im Verhalten erfassen. „Das Besondere an dieser Methode ist, dass wir subtile Unterschiede ĂŒber die Zeit hinweg und zwischen einzelnen Personen festmachen können, welche durch konventionelle Analysen vielleicht ĂŒbersehen werden. Wir hoffen, damit latente Prozesse sichtbar zu machen – etwa, wie die Menschen verschiedene Ungewissheiten in sozialen Situationen gewichten.“ Langfristig könnte ein solches Modell laut Schuster auch dazu genutzt werden, individuelle KrankheitsverlĂ€ufe oder Reaktionen auf Medikamente zu verfolgen und vorherzusagen.

Ein gemeinsamer Nenner?

Die Psychologin will mit dem Forschungsprojekt grundlegende Muster entschlĂŒsseln, die Erkrankungen wie Parkinson, Depression oder Schizophrenie und neurologische Entwicklungsvarianten wie Autismus vereinen. „Mich interessiert, warum es so viele – zum Teil medizinische – AusprĂ€gungen gibt, bei denen Menschen Schwierigkeiten mit sozialen Situationen haben. Auch wenn die ZustĂ€nde sehr unterschiedlich sind, gibt es teilweise Überlappungen“, sagt sie und fĂŒgt hinzu: „Das ist die Frage, fĂŒr die ich wirklich brenne. FĂŒr mich ist die Freiheit, die mir die FWF-ESPRIT-Förderung gibt, ein großes Privileg. Dadurch kann ich einer Idee nachgehen, die sonst niemand untersucht“, so Schuster.

„Wichtig ist zu betonen, dass diese Prozesse extrem schnell und unbewusst ablaufen und stark durch individuelle Erfahrungen beeinflusst sind. Auch wenn es stimmt, dass wir unsere Umgebung mit statistischen RegularitĂ€ten wahrnehmen und abschĂ€tzen, gibt es viele EinflĂŒsse, die dazu fĂŒhren, dass wir uns nach außen ‚irrational‘ verhalten“, ergĂ€nzt Schuster. Gerade das macht Menschen manchmal so schwer vorhersagbar und soziale Situationen so besonders.

Zur Person

Bianca Schuster forscht am Institut fĂŒr Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der FakultĂ€t fĂŒr Psychologie an der UniversitĂ€t Wien. Zuvor studierte und arbeitete die Psychologin an der UniversitĂ€t Birmingham in Großbritannien sowie an der Waseda-UniversitĂ€t in Japan. Das Projekt „Dopamin und Precision Weighting von sozialen Signalen“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 300.000 Euro gefördert. Es lĂ€uft im ESPRIT-Förderprogramm, das Forschende am Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere bei der DurchfĂŒhrung eines eigenstĂ€ndigen Forschungsprojekts unterstĂŒtzt.

Publikationen

How dopamine shapes trust beliefs, in: Progress in Neuropsychopharmacology & Biological Psychiatry 2025

Disruption of dopamine D2/D3 system function impairs the human ability to understand the mental states of other people, in: PLOS Biology 2024