Solidarität in Zeiten der Krise
Solidarität ist ein Wert, den sich viele auf die Fahnen heften. Stets geht es um Zusammenhalt, Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit in einer Gruppe. Aber wer zu der Gruppe gehört und wer außen vor ist, wird unterschiedlich festgelegt. Während rechtspopulistische Gruppierungen eher auf Solidarität innerhalb einer national-ethnisch einheitlichen Gruppe pochen, kämpfen junge Bewegungen wie PODEMOS in Spanien für soziale Gerechtigkeit, die demokratische Verbesserung des Systems und Solidarität für Menschen, die soziale Parameter und ein gemeinsames Schicksal einen. 2001 bis 2004 – also drei Jahre vor der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2007 – wurde das Projekt SIREN unter der Leitung des Soziologen Jörg Flecker abgeschlossen. Das europäische Forschungsprojekt SIREN (Socio-economic change, individual reactions and the appeal of the extreme right) untersuchte für acht europäische Länder, ob und wie der Zulauf zu rechtspopulistischen oder rechtsextremen Gruppierungen mit damals schon spürbaren Veränderungen der Arbeitswelt und der Lebensbedingungen zusammenhängen könnte. „Der Modernisierungsverlierer als Wähler war als Erklärungsmodell en vogue. Die Ergebnisse waren aber differenzierter. Beide Gruppen, soziale Absteiger und Aufsteiger, fühlten sich angesprochen von rechtsextremen Bewegungen“, erläutert Jörg Flecker im Gespräch mit scilog. Gesellschaftlicher Umbruch förderte seit 2008 aber auch soziale Bewegungen mit demokratisch-inklusiver Orientierung, die transnationale Solidarität hochhalten. Es stellte sich also die Frage, wieso Menschen in vergleichbarer Lage so unterschiedlich auf Krisenfolgen und gesellschaftliche Herausforderungen reagieren.
Symbolischer Kampf um Solidaritätsbegriff
Das Folge-Projekt SOCRIS (Solidarität in Zeiten der Krise) untersucht bis 2019 die Auswirkungen des beschleunigten sozioökonomischen Wandels auf die politische Orientierung in Österreich und Ungarn. Im Mittelpunkt stehen unterschiedliche Sichtweisen auf einen umkämpften Begriff: „Es läuft vor unseren Augen ein symbolischer Kampf ab, was Solidarität ist und sein soll. Auch rechtsextreme und rechtspopulistische Bewegungen reklamieren Solidarität für sich. Noch gibt es ein Gleichgewicht der Sichtweisen“, betont der Soziologe Jörg Flecker. Verglichen werden die zwei Länder, weil sie vieles gemeinsam haben, aber unterschiedlich stark und intensiv von den Folgen der Wirtschaftskrise betroffen waren. Der Wissenschaftsfonds FWF unterstützt die bilaterale Forschungskooperation der Teams um Istvan Grajczjár von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie Jörg Flecker vom Institut für Soziologie der Universität Wien und der Forschungs- und Beratungsstelle für die Arbeitswelt (FORBA) in Wien. „Die FPÖ in Österreich und Jobbik in Ungarn wollen eine imaginäre nationale beziehungsweise völkische Identität gegen interne Bedrohung durch Immigration und gegen externe Bedrohungen durch Europäisierung und Globalisierung schützen“, erklärt der Soziologe. Gleichzeitig zeigte sich in Österreich nationalitätsübergreifende Solidarisierung im Rahmen der Flüchtlingsbewegung 2015. In Ungarn sind seit Jahren Selbsthilfegruppen aktiv, die Krisenfolgen zivilgesellschaftlich abfedern. Es geht bei SOCRIS um die Frage, wie Menschen im erwerbs- und wahlfähigen Alter die Krisenfolgen und den sozioökonomischen Wandel wahrnehmen und warum sie in vergleichbarer Situation dennoch unterschiedlich reagieren. Die Treiber und Prozesse hinter den Ausrichtungen von Solidarität sollen in dem aktuellen FWF-Projekt identifiziert werden.
Wer gehört dazu?
Für SOCRIS werden in drei Schritten qualitative und quantitative Daten für den räumlichen (Österreich/Ungarn) und zeitlichen (SIREN/SOCRIS) Vergleich zusammengeführt. Die Literaturrecherche über den Forschungsstand zu Formen der Solidarität, Einfluss und Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Österreich und Ungarn von 2008 bis 2016, Attraktivität politisch rechter Parteien, Wirtschaft und Arbeitsmarkt wurde Ende 2016 abgeschlossen. Die quantitative Erhebung mittels Telefonbefragung in beiden Ländern ist vorbereitet und soll im Juni 2017 durchgeführt werden. Es werden je 1000 Menschen zwischen 18 und 65 befragt (i.e. ein repräsentatives Sample für die Gesamtbevölkerung), verstärkt um Interviews mit je 250 Arbeitslosen. Dann folgen je 40 vertiefte qualitative Interviews, die Veränderungen im Leben der Menschen in den Fokus nehmen mit Themen wie Arbeitsmarkt, Preissteigerung, Hilfe für Flüchtlinge, Asyl, Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik, bis zur politischen Orientierung und Meinung zu aktuell diskutierten Themen. In der anschließenden Interpretation werden die kausalen Zusammenhänge ergründet: Von welchen Konzepten fühlen sich die Menschen angesprochen und welche Sichtweise unterstützen sie aus welchen Gründen? „Wenn geklärt ist, wer warum als zugehörig und unterstützungswürdig angesehen wird, lassen sich Rückschlüsse auf die Grundlagen vieler gesellschaftlicher Fragen ziehen, die aktuell verhandelt werden: Arbeitsmarktzugang, Schließung der Grenze oder bedarfsorientierte Mindestsicherung“, so Jörg Flecker.
Zur Person Jörg Flecker ist Professor für Allgemeine Soziologie, Leiter des Instituts für Soziologie der Universität Wien und Obmann der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA). Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Arbeit & Beschäftigung, Digitalisierung & Arbeit sowie sozio-ökonomischer Wandel & die extreme politische Rechte. 2001 bis 2004 leitete Flecker das europäische Forschungsprojekt SIREN über den Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa.
Top Citizen Science (TCS) Aufbauend auf das Grundlagenprojekt SOCRIS startete 2018 das Citizen Science Projekt "Getrennte Welten? Solidaritätskonzepte und politische Orientierungen in sozialen Medien". In dem Projekt analysieren Menschen verschiedener sozialer und politischer Milieus ihre eigenen Blasen, in dem sie auf ihren Facebook-Seiten mit Freund/inn/en Diskussionen zu politischen Themen führen und bewusster durchleuten. Förderinitiative Top Citizen Science
Publikationen und Beiträge