Schmerzgeschichte zwischen Religion und Medizin

Sie ist bis heute eine der gröĂten Errungenschaften der Medizingeschichte, die Erfindung der Narkose. Ihre Geburtsstunde liegt im Jahr 1846 als der amerikanische Zahnarzt William Thomas Green Morton eine Kieferoperation durchfĂŒhrte, nachdem er seinen Patienten mit Ăther betĂ€ubt hatte. In den kommenden Jahrzehnten folgten laufende Verbesserungen der Narkosemittel und -methoden. Der Weg war frei fĂŒr den Siegeszug der Schmerzlinderung in der Medizin. Doch nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen war man im 19. Jahrhundert vom Credo der Schmerzvermeidung ĂŒberzeugt, im Gegenteil. In etwa zeitgleich, gab es ein schon ĂŒberholt geglaubtes Aufleben von Frömmigkeitsformen, die dem Leid und dem Schmerz einen hohen Stellenwert beimaĂen. âDas kann man auch auf die Verunsicherung am Ăbergang in die Moderne zurĂŒckfĂŒhrenâ, erklĂ€rt die Historikerin Maria Heidegger von der UniversitĂ€t Innsbruck. Tirol ist hier ein besonders interessantes Fallbeispiel fĂŒr die Wissenschaftlerin, die aktuell mit UnterstĂŒtzung des Wissenschaftsfonds FWF ĂŒber Schmerz im Katholizismus des 19. Jahrhunderts forscht. Noch bis zum Protestantenpatent 1861 bzw. bis zur GrĂŒndung der ersten evangelischen Gemeinden im Kurort Meran und in Innsbruck 1876 war Tirol ausschlieĂlich katholisch, 1837 wurden Protestanten aus dem Zillertal vertrieben, bis 1867 war es Juden nicht erlaubt, sich in Tirol anzusiedeln. Das Land wurde mit dem Label âheiliges Landâ versehen.
Stigmatisierte und Helfende
Folgendes Beispiel verbildlicht diesen Ruf Tirols: Zwischen Juli und Oktober 1833 pilgerten 40.000 GlĂ€ubige in den kleinen Ort Kaltern in SĂŒdtirol, um die junge Maria von Mörl zu sehen. Sie ist eine von mehreren bekannten stigmatisierten Jungfrauen im damaligen Tirol, deren Leid stellvertretend fĂŒr den Leidensweg Jesus stand und von der sich die Menschen Erlösung erhofften. Doch nicht nur die glĂ€ubigen Katholiken, auch die Medizin interessierte sich fĂŒr die âStigmatisiertenâ. âRund um sie gab es viel Ă€rztliche Betreuung, sie waren oft auch in der Pflege von Ordenâ, berichtet Maria Heidegger. Und so fanden sich die Betroffenen in einer Doppelrolle als Heldinnen (in Tirol waren es ausschlieĂlich Frauen) und Kranke wieder, die ĂŒbrigens auch von manchen religiösen Vertretern durchaus skeptisch betrachtet und zum Teil im Kontext von Hysterie gesehen wurden. An diesem Grenzbereich von Religion und Medizin in Bezug auf das PhĂ€nomen Schmerz setzt auch das Forschungsinteresse der Innsbrucker Historikerin an, denn so Heidegger: âWĂ€hrend eine relativ kleine und elitĂ€re Schicht Passionen pflegte, waren katholische Initiativen, karitative Organisationen sowie Orden und KrankenhĂ€user aktiv daran beteiligt, Schmerzen zu lindern.â Anhand von verschiedenen Personengruppen â dazu zĂ€hlen die Stigmatisierten, Patientinnen und Patienten von LandĂ€rzten, psychisch Erkrankte und Angehörige der Barmherzigen Schwestern â zeigt das Forscherteam ein differenziertes Bild vom Umgang mit Schmerz in der katholischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf, das nicht im Widerspruch zur medizinischen Auffassung von Schmerzvermeidung stand.
Kollaboration von Religion- und Medizingeschichte
In dem Projekt arbeitet das Team in Innsbruck, wo sich in den vergangenen Jahren eine Expertise zu Medizingeschichte etablierte, mit Tine Van Osselaer und ihren Kolleginnen und Kollegen am Ruusbroec Institute der UniversitĂ€t Antwerpen zusammen. Heidegger freut sich ĂŒber diese einmalige Kooperation. Denn in Antwerpen gĂ€be es lebhafte religionsgeschichtliche Forschungen zu Stigmatisierten und Passionen in ganz Europa. Deren Ergebnisse laufen aktuell in die Mediahaven-Stigmatics-Datenbank ein, die nun auch Ăsterreich miteinschlieĂen wird, das laut der Historikerin aus wissenschaftlicher Sicht bis jetzt ein blinder Fleck war. In Innsbruck widmen sich Heidegger und ihr Team parallel dazu den medizinischen Aspekten der Kulturgeschichte des Schmerzes, dabei ziehen die Forschenden drei Quellen heran. Eine von ihnen ist das umfangreiche Material des Landarztes Franz von Ottenthal, der in nicht weniger als 87.000 kurzen EintrĂ€gen seine Patientengeschichten festhielt. âHier finden wir eine Vielzahl von Metaphern, wie ĂŒber Schmerz gesprochen wurdeâ, sagt Heidegger, davon sei viel verlorengegangen. Auch Visualisierungen dienten zur Darstellung von Schmerz, die man an GesichtszĂŒgen zu erkennen glaubte. âDie gewissermaĂen geschwĂ€tzigsten Quellen sind die Krankenakten aus dem Archiv des psychiatrischen Landeskrankenhauses Tirolâ, so die Wissenschaftlerin. Die damals sogenannte âIrrenanstalt Hallâ wurde 1830 gegrĂŒndet. Aus dem umfangreichen Bestand erschlieĂt sich, wie Betroffene, Ărzte und Pflegende ĂŒber seelischen und körperlichen Schmerz kommunizierten, welche Rolle Erfahrung und die Verbindung zwischen verschiedenen Sinnen spielte. âIn der Psychiatrie haben wir zum Beispiel aus forensischen Berichten erfahren, dass das laute Klagen eher verdĂ€chtig wurde, simuliert zu sein, wĂ€hrend man annahm, dass ein stilles gequĂ€ltes Gesicht echt sein muss. Das sind interessante Zuschreibungen und Klischees.â
Umgang mit Schmerz in der Gesellschaft
Die ErschlieĂung der dritten Quelle steht in dem Projekt nun noch aus. Behandlungsprotokolle der OrdensspitĂ€ler der Barmherzigen Schwestern sollen Einblick darĂŒber geben, ob und wie das medizinische Wissen auch in der Pflege umgesetzt wurde. Dass zwischen Medizin und Religion bis heute enge Verbindungen bestehen, zeigt die Bedeutung von karitativen Einrichtungen. Dabei kann die Seelsorge Betroffene und Angehörige unterstĂŒtzen, Hoffnung spenden oder Heilung befördern. âDas so genannte âGestĂ€ndnisâ hat in der frĂŒhen Psychiatrie eine wichtige Rolle gespielt und ist auch heute noch von Bedeutung, indem man versucht, dem Leiden auf den Grund zu gehenâ, bestĂ€tigt Heidegger. Der Umgang mit Schmerz zeigt ganz unterschiedliche Facetten. Ihn positiv zu deuten kann etwa dann helfen, wenn er nicht gelindert werden kann. DafĂŒr dienen im Katholizismus die MĂ€rtyrerlegenden als Anleitung, auch Passionen sind bis heute gelebte Praxis, gerade um Ostern. âDiese Bilder von katholischen Schmerzpraktiken sind nach wie vor sehr prĂ€sent, auch wenn es sich nur um Randgruppen handeltâ, bestĂ€tigt die Forscherin. Das ist aus Sicht der Wissenschaft ein wichtiger Aspekt, da die Formen des Schmerzkultivierens tief in die MentalitĂ€ten der Bevölkerung eingreifen. Die Frage, wie eine Gesellschaft mit Schmerzerfahrungen umgeht, ist immer auch eine Frage von Empathie und Sympathie, etwas, das Religion und Medizin verbindet.
Zur Person Maria Heidegger forscht am Institut fĂŒr Geschichtswissenschaften und EuropĂ€ische Ethnologie der UniversitĂ€t Innsbruck, dort u.a. im interdisziplinĂ€ren Forschungszentrum Medical Humanities. Die Historikerin fĂŒr Wirtschafts- und Sozialgeschichte beschĂ€ftigt sich mit den Schwerpunkten Psychiatrie und Religion, Medizin- und Schmerzgeschichte sowie Geschlechterbeziehungen.
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