Die Stigmatisierte Maria Domenica Lazzeri aus Capriana/Trentino in der ehemals habsburgischen Provinz Tirol 1834. © uantwerpenstigmatics

Sie ist bis heute eine der grĂ¶ĂŸten Errungenschaften der Medizingeschichte, die Erfindung der Narkose. Ihre Geburtsstunde liegt im Jahr 1846 als der amerikanische Zahnarzt William Thomas Green Morton eine Kieferoperation durchfĂŒhrte, nachdem er seinen Patienten mit Äther betĂ€ubt hatte. In den kommenden Jahrzehnten folgten laufende Verbesserungen der Narkosemittel und -methoden. Der Weg war frei fĂŒr den Siegeszug der Schmerzlinderung in der Medizin. Doch nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen war man im 19. Jahrhundert vom Credo der Schmerzvermeidung ĂŒberzeugt, im Gegenteil. In etwa zeitgleich, gab es ein schon ĂŒberholt geglaubtes Aufleben von Frömmigkeitsformen, die dem Leid und dem Schmerz einen hohen Stellenwert beimaßen. „Das kann man auch auf die Verunsicherung am Übergang in die Moderne zurĂŒckfĂŒhren“, erklĂ€rt die Historikerin Maria Heidegger von der UniversitĂ€t Innsbruck. Tirol ist hier ein besonders interessantes Fallbeispiel fĂŒr die Wissenschaftlerin, die aktuell mit UnterstĂŒtzung des Wissenschaftsfonds FWF ĂŒber Schmerz im Katholizismus des 19. Jahrhunderts forscht. Noch bis zum Protestantenpatent 1861 bzw. bis zur GrĂŒndung der ersten evangelischen Gemeinden im Kurort Meran und in Innsbruck 1876 war Tirol ausschließlich katholisch, 1837 wurden Protestanten aus dem Zillertal vertrieben, bis 1867 war es Juden nicht erlaubt, sich in Tirol anzusiedeln. Das Land wurde mit dem Label „heiliges Land“ versehen.

Stigmatisierte und Helfende

Folgendes Beispiel verbildlicht diesen Ruf Tirols: Zwischen Juli und Oktober 1833 pilgerten 40.000 GlĂ€ubige in den kleinen Ort Kaltern in SĂŒdtirol, um die junge Maria von Mörl zu sehen. Sie ist eine von mehreren bekannten stigmatisierten Jungfrauen im damaligen Tirol, deren Leid stellvertretend fĂŒr den Leidensweg Jesus stand und von der sich die Menschen Erlösung erhofften. Doch nicht nur die glĂ€ubigen Katholiken, auch die Medizin interessierte sich fĂŒr die „Stigmatisierten“. „Rund um sie gab es viel Ă€rztliche Betreuung, sie waren oft auch in der Pflege von Orden“, berichtet Maria Heidegger. Und so fanden sich die Betroffenen in einer Doppelrolle als Heldinnen (in Tirol waren es ausschließlich Frauen) und Kranke wieder, die ĂŒbrigens auch von manchen religiösen Vertretern durchaus skeptisch betrachtet und zum Teil im Kontext von Hysterie gesehen wurden. An diesem Grenzbereich von Religion und Medizin in Bezug auf das PhĂ€nomen Schmerz setzt auch das Forschungsinteresse der Innsbrucker Historikerin an, denn so Heidegger: „WĂ€hrend eine relativ kleine und elitĂ€re Schicht Passionen pflegte, waren katholische Initiativen, karitative Organisationen sowie Orden und KrankenhĂ€user aktiv daran beteiligt, Schmerzen zu lindern.“ Anhand von verschiedenen Personengruppen – dazu zĂ€hlen die Stigmatisierten, Patientinnen und Patienten von LandĂ€rzten, psychisch Erkrankte und Angehörige der Barmherzigen Schwestern – zeigt das Forscherteam ein differenziertes Bild vom Umgang mit Schmerz in der katholischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf, das nicht im Widerspruch zur medizinischen Auffassung von Schmerzvermeidung stand.

Kollaboration von Religion- und Medizingeschichte

In dem Projekt arbeitet das Team in Innsbruck, wo sich in den vergangenen Jahren eine Expertise zu Medizingeschichte etablierte, mit Tine Van Osselaer und ihren Kolleginnen und Kollegen am Ruusbroec Institute der UniversitĂ€t Antwerpen zusammen. Heidegger freut sich ĂŒber diese einmalige Kooperation. Denn in Antwerpen gĂ€be es lebhafte religionsgeschichtliche Forschungen zu Stigmatisierten und Passionen in ganz Europa. Deren Ergebnisse laufen aktuell in die Mediahaven-Stigmatics-Datenbank ein, die nun auch Österreich miteinschließen wird, das laut der Historikerin aus wissenschaftlicher Sicht bis jetzt ein blinder Fleck war. In Innsbruck widmen sich Heidegger und ihr Team parallel dazu den medizinischen Aspekten der Kulturgeschichte des Schmerzes, dabei ziehen die Forschenden drei Quellen heran. Eine von ihnen ist das umfangreiche Material des Landarztes Franz von Ottenthal, der in nicht weniger als 87.000 kurzen EintrĂ€gen seine Patientengeschichten festhielt. „Hier finden wir eine Vielzahl von Metaphern, wie ĂŒber Schmerz gesprochen wurde“, sagt Heidegger, davon sei viel verlorengegangen. Auch Visualisierungen dienten zur Darstellung von Schmerz, die man an GesichtszĂŒgen zu erkennen glaubte. „Die gewissermaßen geschwĂ€tzigsten Quellen sind die Krankenakten aus dem Archiv des psychiatrischen Landeskrankenhauses Tirol“, so die Wissenschaftlerin. Die damals sogenannte „Irrenanstalt Hall“ wurde 1830 gegrĂŒndet. Aus dem umfangreichen Bestand erschließt sich, wie Betroffene, Ärzte und Pflegende ĂŒber seelischen und körperlichen Schmerz kommunizierten, welche Rolle Erfahrung und die Verbindung zwischen verschiedenen Sinnen spielte. „In der Psychiatrie haben wir zum Beispiel aus forensischen Berichten erfahren, dass das laute Klagen eher verdĂ€chtig wurde, simuliert zu sein, wĂ€hrend man annahm, dass ein stilles gequĂ€ltes Gesicht echt sein muss. Das sind interessante Zuschreibungen und Klischees.“

Umgang mit Schmerz in der Gesellschaft

Die Erschließung der dritten Quelle steht in dem Projekt nun noch aus. Behandlungsprotokolle der OrdensspitĂ€ler der Barmherzigen Schwestern sollen Einblick darĂŒber geben, ob und wie das medizinische Wissen auch in der Pflege umgesetzt wurde. Dass zwischen Medizin und Religion bis heute enge Verbindungen bestehen, zeigt die Bedeutung von karitativen Einrichtungen. Dabei kann die Seelsorge Betroffene und Angehörige unterstĂŒtzen, Hoffnung spenden oder Heilung befördern. „Das so genannte ‚GestĂ€ndnis‘ hat in der frĂŒhen Psychiatrie eine wichtige Rolle gespielt und ist auch heute noch von Bedeutung, indem man versucht, dem Leiden auf den Grund zu gehen“, bestĂ€tigt Heidegger. Der Umgang mit Schmerz zeigt ganz unterschiedliche Facetten. Ihn positiv zu deuten kann etwa dann helfen, wenn er nicht gelindert werden kann. DafĂŒr dienen im Katholizismus die MĂ€rtyrerlegenden als Anleitung, auch Passionen sind bis heute gelebte Praxis, gerade um Ostern. „Diese Bilder von katholischen Schmerzpraktiken sind nach wie vor sehr prĂ€sent, auch wenn es sich nur um Randgruppen handelt“, bestĂ€tigt die Forscherin. Das ist aus Sicht der Wissenschaft ein wichtiger Aspekt, da die Formen des Schmerzkultivierens tief in die MentalitĂ€ten der Bevölkerung eingreifen. Die Frage, wie eine Gesellschaft mit Schmerzerfahrungen umgeht, ist immer auch eine Frage von Empathie und Sympathie, etwas, das Religion und Medizin verbindet.


Zur Person Maria Heidegger forscht am Institut fĂŒr Geschichtswissenschaften und EuropĂ€ische Ethnologie der UniversitĂ€t Innsbruck, dort u.a. im interdisziplinĂ€ren Forschungszentrum Medical Humanities. Die Historikerin fĂŒr Wirtschafts- und Sozialgeschichte beschĂ€ftigt sich mit den Schwerpunkten Psychiatrie und Religion, Medizin- und Schmerzgeschichte sowie Geschlechterbeziehungen.


Publikationen

Maria Heidegger, Tine Van Osselaer: Patient*innen und Passionen. Eine Schmerzgeschichte des Katholizismus in Österreich im 19. Jahrhundert – Ein Kooperationsprojekt an den UniversitĂ€ten Innsbruck und Antwerpen (2018-2022), in: Virus. BeitrĂ€ge zur Sozialgeschichte der Medizin 18, 351-357, 2019
Tine Van Osselaer, Leonardo Rossi, Kristof Smeyers, Merlijn Gabel: Wonde(r ): de fascinatie voor het lijdende lichaam/Wonde(r ): the fascination with the suffering body, Leuven 2019
Maria Heidegger: The Devil in the Madhouse. On the Treatment of Religious Pathologies in Early Psychiatry, Tyrol, 1830–1850, in: Tine Van Osselaer, Henk de Smaele, Kaat Wils (Hg.), Sign or Symptom? Exceptional Corporeal Phenomena in Religion and Medicine in the 19th and 20th Centuries, 23–42, Leuven 2017