FWF: Herr Professor Mittelstraß, wie zufrieden waren Sie mit der Veranstaltung „Exzellenz in der Wissenschaft“? Wie würden Sie diese beurteilen? Jürgen Mittelstraß: Was die Beurteilung unserer Veranstaltung betrifft, ist man als Veranstalter gewissermaßen die falsche Adresse; man sollte die Beurteilung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern überlassen. Ich denke aber, dass das Thema zur richtigen Zeit kam, dass wir sehr gute, pointierte Beiträge hatten, ein gutes Panel und vor allem deutlich mehr Zeit als sonst, um zu diskutieren. Die Diskussionen waren sehr ergiebig. Im Kontext der Regierungsverhandlungen war es, so glaube ich, genau die richtige Veranstaltung. FWF: Ein positives Fazit? Mittelstraß: Ja, ein positives Fazit. FWF: Sie sind schon geraume Zeit im wissenschaftspolitischen Beratungsgeschäft. Hat es in dieser Zeit Momente gegeben, in denen Sie auf ein derart hohes Maß an Beratungsresistenz gestoßen sind, das Sie veranlasst hat, ernsthaft darüber nachzudenken, das wissenschaftspolitische Beraten sein zu lassen? Mittelstraß: Oh ja, diese Momente gab es. Wer berät, berät ziemlich häufig erfolglos. Das ist einfach mit der Beratungstätigkeit verbunden, allerdings mitunter schwer zu ertragen. Vor allem, wenn es um die Wissenschaft geht. Man versucht, der Wissenschaft eine Stimme zu geben, und sie wird nicht gehört. Ich bin mit dieser Erfahrung nicht alleine. Sie macht jeder, der sich in diesem Bereich betätigt, der sich der Bedürfnisse und der Repräsentation der Wissenschaft im politischen Raum annimmt. Man darf allerdings nicht übersehen, dass mancherlei Enttäuschung dem Umstand geschuldet ist, dass man einen Beratungserfolg sofort erwartet. Es zeigt sich immer wieder, dass dieser auch zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt eintreten kann. Auch ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass Empfehlungen zunächst in der Schublade verschwinden, um zu einem späteren Zeitpunkt selbiger wieder entnommen zu werden, und diese dann ihre Wirkung entfalten. Man muss in der Wissenschaftspolitikberatung einen langen Atem haben. FWF: Geduld ist eine Tugend. Mittelstraß: Geduld ist eine Tugend – (schmunzelnd) in allen Lebenslagen. FWF: Eine Tugend, die fallweise überstrapaziert wird? Mittelstraß: Ja, wer oft vergeblich rät, der neigt dazu, sein Geschäft selber nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Das heißt dann, Geduld walten zu lassen auf eine Weise, wie sie nicht sein sollte. Man wird sanft, versteht alles, auch, warum man keinen Erfolg hat, und wird damit letztlich zu einem bequemen Partner. Das

„Wissenschaft nicht zu fördern hieße, ein falsches Signal zu senden.“ Jürgen Mittelstraß

sollte nicht sein. Man sollte sich seine eher der Jugend zugeschriebene Eigenschaft, nämlich ein gerüttelt Maß an Unzufriedenheit bewahren, sich Ungeduld und Beharrlichkeit nicht nehmen lassen. FWF: Sehen Sie die (zunehmende) Beratungsresistenz als Entwicklung, die einer schwächer werdenden Anschlussfähigkeit der politischen Eliten geschuldet ist? MittelstrassMittelstraß: Nein, ich glaube nicht, dass man in diesem Zusammenhang von einer Entwicklung zur Beratungsresistenz sprechen kann. Man erfährt ja glücklicherweise auch immer wieder, dass man gehört wird, dass Empfehlungen, die von wissenschaftlicher Seite formuliert werden, von der Politik verstanden werden. Man lebt in Wechselbädern der Gefühle. Mal scheint alles zu gelingen, mal scheint alles zu misslingen. Dass dahinter eine Tendenz in Richtung „Misslingen“ liegen könnte, glaube ich nicht. Aus meiner Erfahrung schöpfend gibt es immer wieder Momente, wo man die Wissenschaftspolitik plötzlich auf seiner Seite sieht. Politiker wechseln und mitunter trifft man dann eben doch auf solche, die sich für die Wissenschaft tatsächlich interessieren, die auch viel von der Wissenschaft verstehen. Allerdings gibt es eben auch andere, die nämlich Wissenschaft und die Beratung durch Wissenschaft für etwas Vernachlässigbares halten. Das erleben wir gegenwärtig in Österreich, wo mit dem Gedanken gespielt wird, die Wissenschaft beziehungsweise die Verantwortlichkeit für Wissenschaft irgendwo, zum Beispiel bei der Wirtschaft, anzusiedeln. Das zeugt doch von gewaltigen Missverständnissen und führt zu einer Marginalisierung von Wissenschaft und Forschung, wie sie sich eine moderne Gesellschaft einfach nicht leisten kann. FWF: Wissenschaft als Luxus ... Mittelstraß: Ja, und dann kommt noch hinzu: Wenn Wissenschaft und Forschung, dann bitte im anwendungsnahen und Verwertungsbereich. Es heißt dann: Warum brauchen wir so etwas, das man Grundlagenforschung nennt? Das machen andere, und gegebenenfalls kauft man es einfach zu. Übersehen wird, dass nur aus der Grundlagenforschung das wirklich Neue, die wesentliche Innovation kommt. FWF: Eine Geringschätzung des intellektuellen Strebens in Österreich? Mittelstraß: Vielleicht, jedenfalls kein angenehmer Gedanke. Der wissenschaftliche Diskurs fände dann woanders statt. Das wäre misslich. Österreich sollte ein Ort der Wissenschaft sein und ist dies ja auch. Nur sollte das auch die Wissenschaftspolitik so sehen. Exzellenz zieht Exzellenz an. Und ebendies macht

„Übersehen wird, dass nur aus der Grundlagenforschung das wirklich Neue, die wesentliche Innovation kommt.“ Jürgen Mittelstraß

intellektuell und auch wirtschaftlich die Wissenschaft für ein Land so attraktiv. Wissenschaft nicht zu fördern hieße, ein falsches Signal zu senden. Es hieße in einem Land zu leben, das weiß, dass es in seiner Entwicklung von Wissenschaft und Forschung abhängt, das aber daraus nicht den Schluss zieht, dass es dafür auch etwas tun muss. FWF: Wenn man davon ausgeht, dass die Politik nur das widerspiegelt, was in der Gesellschaft an Einschätzungen und Einstellungen vorhanden ist, was müsste die Wissenschaft tun, damit sich dieser – aus Sicht der Wissenschaft – unbefriedigende Zustand ändert? Mittelstraß: Auch die Wissenschaft hat gelernt. Sie hat gelernt, dass sie das, was sie tut, der Gesellschaft verständlich machen muss. Deswegen geht es übrigens auch um mehr als um bloße Politikberatung. Es geht um Gesellschaftsberatung. Und diese muss auf verständliche Weise daherkommen. Wissenschaft sollte ganz einfach ihr Geschäft verstehen, wenn es darum geht, sich verständlich zu machen und ihre Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung hervorzuheben. Es geht im besten Sinne um Aufklärung der Gesellschaft, nicht alleine um Aufklärung der Politik. FWF: Es handelt sich Ihrer Überzeugung nach um eine Übung, die im Sinne der Aufklärung weiter geführt werden sollte. Mittelstraß: Das ist richtig. Allerdings mit der Einschränkung, dass die Wissenschaft nicht alle Fragen beantworten, nicht alle Probleme lösen kann. Dass sie das nicht kann, hat sie gelernt. Insofern haben wir ein Stück Naivität, die ursprünglich mit der historischen Aufklärung verbunden war, wie ich hoffe, hinter uns gelassen. FWF: Wir sprechen von intensiven kommunikativen Austauschprozessen. Mittelstraß: Oh ja. Es ist gar nicht so lange her, da musste sich der Wissenschafter ausschließlich dem Wissenschafter verständlich machen. Jetzt ist es, wie gesagt, so – und das ist eine gute Entwicklung –, dass man sich auch gegenüber dem Nichtwissenschafter verständlich machen muss. Schließlich finanziert die Gesellschaft die Wissenschaft und will dann zu Recht auch wissen, was die Wissenschaft der Gesellschaft bringt. FWF: Ist das nicht eine vergleichsweise passive Haltung, eine Art Rechtfertigungszirkel? Mittelstraß: Nein. Die Wissenschaft hat es zunehmend mit Problemen zu tun, die sie nicht selbst „erfindet“, sondern die die Welt hat und die die Welt ohne Mitwirkung der Wissenschaft nicht lösen kann. Nehmen Sie die Umweltprobleme, die Gesundheitsprobleme, das Energieproblem; das sind alles Probleme, die die Welt stellt, die nicht die Wissenschaft – gleichsam zu ihren eigenen Zwecken – erfindet. Derartige selbst gestellte Probleme gibt es selbstverständlich auch.

„Die Zeitskalen der Wissenschaft und die der Politik sind nicht die gleichen.“ Jürgen Mittelstraß

Wir sprechen dann von Grundlagenforschung. Dieser Forschung verdanken wir sehr viel, allerdings oft in der Weise, dass ihre förderlichen Wirkungen erst spät zu Tage treten. Die verbreitete Vorstellung in Politik und Gesellschaft, die Wissenschaft müsse mit ihren Ergebnissen und ihrem Tun sofort Wirkung entfalten, übersieht das. Diese Naivität zu überwinden, ist ebenfalls ein Gebot der Stunde. Auch die Wissenschaft braucht einen langen Atem. FWF: … und damit auch die Politik … Mittelstraß: … auch sie sollte einen langen Atem haben, den sie in der Regel aber nicht hat. FWF: … und damit gibt es größere Synchronisierungsprobleme als in anderen Bereichen. Mittelstraß: Oh ja, die Zeitskalen der Wissenschaft und die der Politik sind nicht die gleichen. FWF: Die Wissenschaft im Zwiespalt zwischen notwendigen Freiräumen, Vielfältigkeit, ja Unverbindlichkeit und dem Andienen als Problemlösungsmaschine, Stichwort „Grand Challenges“? Mittelstraß: Das ist wahrlich ein Dilemma, in dem sich die Wissenschaft befindet. Vereinfacht kann man sagen: sie auf bestimmte Programme, Forschungsprogramme, festzulegen, ist Gift für die Wissenschaft. Es sind Programme, die in der Regel nicht die eigenen sind. Andererseits sieht sich auch die Wissenschaft einer gewissen Rhetorik verpflichtet, wenn sie für sich selbst etwas erreichen will – nicht nur Anerkennung, sondern auch Ressourcen. Da muss man in das Geheul der Wölfe einstimmen und selbst dort, wo man ganz anders denkt, Programmen das Wort reden, die vermutlich wenig bringen werden. Zig Milliarden in die Neuro-Forschung stecken, wie das Brüssel derzeit tut, ist vermutlich Blödsinn. Das bringt mehr Bürokratie als Forschungsergebnisse. Köpfe, Talente soll man, auf überschaubare Weise, fördern; Das weiß glücklicherweise dann auch Brüssel und lässt den ERC arbeiten. FWF: Wie viel Fachwissen und Kenntnis der Materie braucht ein Bundesminister, eine Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung? Mittelstraß: Gegenwärtig haben wir einen Minister, der sehr genau weiß, wie die Wissenschaft tickt, und das ist wichtig. Das wiederum könnte ihn in der

„Es geht in Österreich wirklich darum, der Wissenschaft und – mit ihr verbunden – der akademischen Lehre den richtigen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen: Sie muss in die politische Mitte rücken.“ Jürgen Mittelstraß

politischen Szene verdächtig machen, weil er ausschließlich als Anwalt der Wissenschaft gesehen wird. Insofern ist es ein Lehrstück, dem wir im Augenblick im Rahmen der Koalitionsverhandlungen in Österreich beiwohnen. So wünschenswert es aus Sicht der Wissenschaft ist, dass sie auf Bundesministerebene durch wirklichen Sachverstand vertreten ist, so misslich ist gegebenenfalls der Umstand, dass genau dies seine Wirkung im politischen Bereich einschränken könnte. Wie man dem wehren kann, weiß ich nicht. Immerhin äußert sich die österreichische Wissenschaft durch ihre Organisationen derzeit deutlich, und dies auf eine vorbildliche Weise, nämlich in einem angenehmen Abstand zu purem Lobbyismus, den es natürlich auch in der Wissenschaft gibt und immer gegeben hat. Es geht in Österreich wirklich darum, der Wissenschaft, der Forschung und – mit ihr verbunden – der akademischen Lehre den richtigen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen: nicht in der Peripherie, sie, das heißt ihre Verantwortung, muss in die politische Mitte rücken. FWF: Wie hoch schätzen Sie die Chance, dass das tatsächlich gelingt? Mittelstraß: Man muss ein unverbesserlicher Optimist sein, um diese Frage positiv zu beantworten. Ich bin ein solcher Optimist und werde wohl auch so, nämlich in der Weise eines Idealisten, gesehen. Wenn ich das nicht wäre, oder wenn sich die Wissenschaft nicht auch in dieser Weise idealistisch verstünde, dann wäre alles verloren. Ich nenne das manchmal – im Kant’schen Geiste – Optimismus aus Pflicht. Das ist mein akademisches Ich.


Jürgen Mittelstraß, geboren 1936 in Düsseldorf, war von 1970 bis 2005 Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie in Konstanz; von 1997 bis 1999 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland und von 2002 bis 2008 Präsident der Academia Europaea (London). Seit 2005 ist Mittelstraß Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrates. Von zahlreichen internationalen Auszeichnungen erhielt er unter anderen 1989 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Von ihm sind zahlreiche Bücher erschienen, unter anderem Der Flug der Eule (1989); Geist, Gehirn, Verhalten (1989, engl. 1991); Leonardo-Welt (1992); Die Häuser des Wissens (1998); Wissen und Grenzen (2001); Leibniz und Kant (2011).