Neues aus Wittgensteins Denkwelt
Es fügt sich immer mehr zu einem Bild. – Noch Jahrzehnte nach dem Tod eines der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts fördert die Wissenschaft bislang unveröffentlichte Manuskripte aus dem Umfeld Ludwig Wittgensteins zutage. Zeit seines Lebens erschien ein einziges Werk des gebürtigen Wieners (1889), das in berühmt machte: der „Tractatus logico-philosophicus“. Danach kursierten viele seiner Aufzeichnungen in Manuskriptform und wurden erst nach seinem Tod 1951 herausgegeben. Im Wittgenstein-Archiv in Bergen (Norwegen) wird aktuell an einer öffentlich zugänglichen Neuausgabe des Nachlasses gearbeitet: www.wittgensteinsource.org
Edition bisher unveröffentlichter Mitschriften
Volker Munz vom Institut für Philosophie an der Universität in Klagenfurt hat sich dem Werk des Denkers, der die meiste Zeit seines Lebens in Cambridge verbrachte, neu angenähert. Seinen Kontakten, die Munz während eines Auslandsstudiums in den späten 80er-Jahren in Wales zu Nachlassverwaltern Wittgensteins knüpfte, ist es zu verdanken, dass der Wissenschafter in den Besitz von mehr als 2.000 Seiten an Manuskripten und Typoskripten eines Schülers und Freundes von Ludwig Wittgenstein gelangte. Dabei handelt es sich um Mitschriften Yorick Smythies von Vorlesungen, die Wittgenstein zwischen 1938 und 1941 in Cambridge hielt. Mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF hat Volker Munz seit nunmehr 10 Jahren diese Mitschriften, die in unterschiedlicher Form und Qualität vorliegen, gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Bernhard Ritter behutsam redigiert, mit Einleitungen und Verweisen auf Wittgensteins publizierte Schriften versehen und zeitlich eingeordnet. „Die Datierung war eine der größten Herausforderungen, da in den meisten Fällen jeder direkte Hinweis fehlte“, erklärt Munz. Dennoch sei es gelungen, jede einzelne Mitschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Jahr und Semester genau einzuordnen.
Neue Zusammenhänge über zentrale Themen
„Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es aus dieser Zeit außer den Vorlesungen über Ästhetik und über die Grundlagen der Mathematik keine Mitschriften gibt. Daher werfen die Vorlesungsaufzeichnungen auch einen neuen Blick auf die Themen, mit denen sich Wittgenstein in dieser Zeit beschäftigte“, betont Munz. Im Gegensatz zu Wittgenstein hat Smythies allen Vorlesungen Titel gegeben. Hierbei geht es um so zentrale Themen wie Wissen, Glauben, Ähnlichkeit oder Willensfreiheit. Die Mitschriften enthalten auch Diskussionen von Autoren, zu denen sich in Wittgensteins Werk sonst wenig findet. So spricht der Philosoph neben Bertrand Russell, George E. Moore und William James auch über Kurt Gödels Theoreme, über W. E. Johnson und die Frage, ob es unendlich viele Farbtöne gebe, sowie über David Humes Begriff des belief. Die Vorlesungen unterstreichen auch die Wichtigkeit von Bildern und Metaphern in Wittgensteins Denken. Etwa gibt es neue Stellen mit der berühmten Metapher der Fliege im Fliegenglas und an die 70 von Smythies übernommene Tafelzeichnungen. „Viele Beispiele und Themen die in diesen Mitschriften auftauchen, wurden in den veröffentlichten Werken Wittgensteins viel kryptischer diskutiert. Aufgrund des vorliegenden Materials erschließen sich neue Zusammenhänge und Gedankengänge werden stringenter“, verweist Projektleiter Munz auf die Bedeutung der Mitschriften.
Internationale Wittgenstein-Forschung
Ludwigs Wittgensteins Vorlesungen und deren Mitschriften nehmen in der Forschung eine wachsende Bedeutung ein, ebenso wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Generation nach Wittgenstein. Hier finde ein reger Austausch in der internationalen Scientific Community statt, erklärt Volker Munz. Dokumente und Werke von und über Wittgenstein werden in verschiedenen Archiven weltweit bewahrt – an Orten, wo sich der Philosoph zum Teil auch aufgehalten hat. Bekannt sind neben der Bibliothek des Trinity College in Cambridge vor allem das Innsbrucker Brenner-Archiv, das erst vor Kurzem die Originale einiger Briefe Moritz Schlicks an Wittgenstein erwerben konnte, sowie das Archiv an der Universität Bergen in Norwegen. Und auch in der Gemeinde Kirchberg am Wechsel werden Dokumente bewahrt.
Schwerpunkt Österreich
„Bis zu den 70er-Jahren hat Wittgenstein in Österreich kaum eine Rolle gespielt“, betont Munz. Erst der Philosoph Rudolf Haller hat ihn in Österreich bekannt gemacht und 1976 die „Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft“ mitbegründet. Das war auch der Auftakt für ein jährliches Wittgenstein Symposium in Kirchberg. Bis heute ist die Veranstaltung ein Fixpunkt unter Wittgenstein-Forscherinnen und Forschern, mit mehreren hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt. Seit 2009 gibt es in Kirchberg übrigens auch eine Summer School unter der Leitung von Volker Munz, die großes Interesse hervorruft.
Publikation und weitere Projekte
Die Veröffentlichung von Yorick Smythies Mitschriften wird einen wichtigen Beitrag zur Wittgenstein-Rezeption insgesamt leisten und Antrieb für die weitere Auseinandersetzung mit dem bedeutenden Werk des Philosophen geben. Der Band zum Forschungsprojekt des FWF erscheint noch heuer unter dem Titel The Whewell’s Court Lectures, Cambridge 1938 – 1941 von Ludwig Wittgenstein im Verlag Wiley-Blackwell. Die Aufarbeitung ist für Munz mit dieser Publikation jedoch längst nicht abgeschlossen. So habe Smythies selbst eine eigene Philosophie geschrieben, die bis jetzt völlig unbekannt und auch untypisch für die Wittgenstein-Tradition sei, erzählt der Wissenschafter der Uni Klagenfurt über seine weiteren Vorhaben. Zusätzlich gibt es Gedichtbände und ein Vielzahl an Notizbüchern des Wittgenstein-Schülers, die auf den Wissenschafter warten.
Zur Person Volker Munz hat Volkswirtschaft und Philosophie in Mannheim und Swansea (Wales) studiert. An der Karl-Franzens-Universität Graz dissertierte er zur Sprachkonzeption Wittgensteins. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des Geistes und die Sprachphilosophie. Seit 2010 forscht und lehrt Munz am Institut für Philosophie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.