Erste Schritte wagen: Das 1000-Ideen-Programm unterstützt gänzlich neue und riskante Forschungsideen. © Shutterstock

Bei dem Biologen Ingo Grunwald war es ein Meereskrebs mit enormem Haftvermögen, der die Neugier des Forschers am Fraunhofer-Institut weckte. Der Zufall wollte es, dass Grunwald das winzige Tier während eines Urlaubs an der Nordsee entdeckte. Fördermittel internationaler Geldgeber, darunter des Wissenschaftsfonds FWF, ermöglichten es schließlich einer interdisziplinären Forschergruppe, sich dem bisher unbeachteten Krebs zu widmen und herauszufinden, wie dieser seinen „Superkleber“ produziert. Der Stoff könnte ein viel versprechender Kandidat für Medizin und Technik werden, überall dort, wo wasserfestes, dämpfendes Material gebraucht wird. Als der Zeithistoriker Dirk Rupnow 2015 einen Forschungsschwerpunkt für Migrationsgeschichte an der Universität Innsbruck etablierte, fügte er nicht nur der österreichischen Geschichtsschreibung ein neues Kapitel hinzu, sondern betrat Neuland in seiner Disziplin. Rupnow widmete sich erstmals umfassend der Geschichte der „Gastarbeiter“ der 1960er und 70er Jahre, die Österreich schon damals zu einem Einwanderungsland machten. Dass genau in diesem Jahr etwas mehr als eine Million Menschen nach Europa flüchteten, um hier Schutz zu suchen, war ein Zufall, den das Leben diktierte. Wie sich solche prägenden Ereignisse auf die Gesellschaft auswirken, wird die Migrationsforschung jedenfalls noch lange beschäftigen. Sie festzuhalten und aufzuarbeiten, ist wichtig für das kollektive Gedächtnis. Denn nur so kann es gelingen, komplexe Phänomene zu verstehen, sie einzuordnen und zu akzeptieren. Am Österreichischen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (OFAI) wiederum wird Robotern menschliches Verhalten beigebracht. Auf Basis enormer Datenmengen lernen Computer ihr Wissen selbstständig zu erweitern. Ob diese Versuche erfolgreich sind, oder ob sie einmal zur Anwendung kommen werden, steht heute noch nicht fest. Dass sie hohes innovatives Potential besitzen, ist offensichtlich.

Ohne Grundlagenforschung nichts Neues

Alle hier genannten Forschenden können dank öffentlicher Unterstützung von Neugier getriebene Grundlagenforschung betreiben. Neue Erkenntnisse, Einsichten oder Aha-Erlebnisse, die womöglich vorhandenes Wissen infrage stellen und neue Wege auf der Suche nach Antworten eröffnen, stehen im Fokus. Dafür benötigen Forschende drei Dinge: Freiraum, Zeit und die nötigen Mittel, um unabhängig von Interessen arbeiten zu können. Dass diese Grundlagenarbeit trotz ihres ungewissen Ausgangs unverzichtbar ist, zeigen Hunderte von Beispielen von der zufälligen Entdeckung des Penicillins über die Entwicklung des Internets bis hin zur Weltraumforschung, die unter anderem Technologien wie GPS und Digitalkameras ermöglicht hat. „Ohne Grundlagenforschung würden sich die Anwendungen nicht verändern“, bringt es die Informatikerin und Forscherin am OFAI, Brigitte Krenn, auf den Punkt.

Wissenschaftliches Risiko abfedern

Dass Grundlagenforschung mit Risiko verbunden ist, liegt also in ihrer Natur und ist die Voraussetzung für Entwicklung und Innovation. Der FWF unterstützt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Beginn an dabei und gibt ihnen die nötigen Freiräume für exzellente Forschung. Ein neues Förderprogramm des Wissenschaftsfonds soll diesen Leitgedanken nun zusätzlich stärken. Seit Mitte November 2019 kann die Österreichische Wissenschaftsgemeinschaft erstmals im 1000-Ideen-Programm einreichen. Das Ziel ist, besonders mutige Ideen aufzugreifen, die entweder das Potenzial aufweisen, bestehende Forschungsbereiche zu transformieren oder etablierte Paradigmen in Wissenschaft und Forschung infrage zu stellen. Der Mut zum Scheitern ist dabei Teil des Programms. In dem Pilotprojekt stehen jährlich rund drei Millionen Euro für eine Laufzeit von drei Jahren zur Verfügung. Der FWF trägt damit dem Bedürfnis der Wissenschaft Rechnung, in einer ganz frühen Phase zu unterstützen und mutigen Forscherinnen und Forschern die nötigen Mittel als Anschubfinanzierung zu geben. Am Ende stehen die Chancen hoch, dass unkonventionelle Ideen zum Durchbruch kommen und aus den frischen Forschungsansätzen im späteren Verlauf neue Forschungsbereiche erwachsen. Ein Blick auf die Entwicklungen des Wissenschafts- und Fördersystems der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass es gute Gründe dafür gibt, riskante Forschung systematischer im Fördersystem zu verankern, um neben den großen und etablierten Forschungsschwerpunkten, neue Ideen anstoßen zu können. Obwohl sich Letzteres für die Entwicklung von international gesehen hochwertiger Forschung sehr bewährt hat, gibt es doch Limitierungen wenn es um komplett neue Ansätze geht, die quer zum gängigen Wissenschaftsverständnis stehen. Mutige und hoch originelle Ideen haben es auch in der Grundlagenforschung schwer, einen Teil des Förderkuchens abzuholen. Schließlich ist der Wettbewerb groß. Dass der FWF mit dem neu konzipierten 1.000-Ideen-Progamm in Richtung mehr Risiko geht, sieht der Mikrobiologe und aktuelle Wittgenstein-Preisträger Michael Wagner äußerst positiv. „Es muss keine Vorarbeiten geben, das ist sehr gut, denn hier gibt es wirklich eine Lücke.“ Der Schweizer Nationalfonds hat übrigens mit „Spark“ dieses Jahr ein vergleichbares Angebot gestartet.

Welche Ideen fördern?

Doch welche Idee soll unterstützt werden, vor allem dann, wenn der Ausgang ungewiss ist? Diese Frage stellt Gutachterinnen und Gutachter vor Herausforderungen und zeigt auch die Grenzen des traditionellen Auswahlverfahrens – das sogenannte Peer Review – auf, bei dem Gutachten eingeholt werden und Fachgremien die einzelnen Projekte bewerten. Untersuchungen zeigen, dass es für Gutachterinnen und Gutachter immer schwieriger wird, abseits von der Spitze und den Schlusslichtern das breite Mittelfeld zu bewerten. Da könne man eigentlich gleich würfeln, sagt  der deutsche Wissenschaftsforscher Stefan Hornbostel in einem aktuellen Bericht des „Tagesspiegel“ zum Förderprogramm „Experiment!“, dessen erste Evaluierungsergebnisse soeben erschienen sind. 2013 hat die deutsche Volkswagenstiftung dieses Pilotprojekt für „originelle Forschung mit Risikobereitschaft“ gestartet. Seit 2017 wird die Hälfte der Projekte nach einer Vorselektion im Losverfahren ausgewählt. Für den Bereich der Hochrisikoforschung  ist das ein möglicher Ansatz, wenngleich der inhaltlichen Bewertung von Anträgen grundsätzlich der Vorrang zu geben ist. Nichtsdestotrotz muss das derzeitige Begutachtungsverfahren stetig weiterentwickelt werden, wie das folgende Beispiel zeigt. Im Jahr 2018 gingen beim Fonds rund 2.500 Projekteinreichungen ein. Mehrere Tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt bewerten diese Anträge aus der Spitzenforschung ehrenamtlich, bevor sie im Kuratorium des FWF bewilligt oder abgelehnt werden. Die Frage die sich stellt ist, nach welchen Auswahlkriterien vorgegangen werden soll, wenn die Zahl der sehr guten Anträge steigt, aber nur ein Teil davon gefördert werden kann, da die Mittel dafür fehlen? Immer öfter müssen folglich sehr geringe und subtile Unterschiede berücksichtigt werden und die Gefahr ist groß, auf Details zu fokussieren, die womöglich für den Ausgang des Projekts nicht entscheidend sind. So stößt auch der FWF zusehends an die Grenzen eines hoch aufwändigen Evaluierungssystems. Das heißt unter anderem aber auch, dass die Gutachtertätigkeit seitens der Institutionen als Leistung verstärkt anerkannt werden muss, zugleich sind der Innovationsgrad und die Risikobereitschaft seitens der Antragssteller deutlich stärker zu gewichten.

Neues Förderprogramm für frische Ideen

Mit dem 1000-Ideen-Programm geht der FWF als erste öffentlich finanzierte Förderungsorganisation im deutschsprachigen Raum mit einem qualifizierten Los- und Doppelblind-Auswahlverfahren einen alternativen Weg in der Antragstellung, um die Forschungsidee in den Mittelpunkt zu stellen und ihre Förderung zu ermöglichen. Die Beschreibung der Projektidee und deren geplante Umsetzung sind auf nur maximal sieben Seiten und anonym zu verfassen, inklusive einer Selbsteinschätzung zu den riskantesten Aspekten sowie zu möglichen Lerneffekten im Falle des Scheiterns. Förderungswürdige Projekte sollen so ausschließlich auf der Grundlage der Projektidee und der schlüssigen Beschreibung ihrer Realisierung identifiziert werden. Übliche Bewertungskriterien wie der Publikationserfolg oder die Reputation der Forscherin, des Forschers kommen nicht ins Spiel.

Neue Wege im Auswahlverfahren

50 Prozent der maximal 30 Projekte, die gefördert werden können, werden aus einem Pool, den das FWF-Kuratorium nach strengen Kriterien vorselektiert und der anschließend durch ein interdisziplinäres Expertengremium begutachtet wird, per Losverfahren vergeben, die andere Hälfte auf Basis der Empfehlungen der Jury. Pro Projekt stehen bis zu 150.000 Euro zur Verfügung. Und sollte ein einzelnes Jury-Mitglied ein Projekt als besonders innovativ ansehen, kann sich aber mit dieser Meinung beim Rest des Gremiums nicht durchsetzen, so kann sie oder er eine „Wildcard“, einen Joker, einsetzen, um es in die Schlussrunde zu bringen. Denn wer weiß, was der Zufall möglich machen könnte. Wichtig ist: Es kommen nur die allerbesten Ideen in die Schlussrunde, und erst dann kommt das Losverfahren zur Anwendung. Somit wird auch das Auswahlverfahren zum Experiment, von dem der FWF lernen kann. Dieser Art des qualifizierten Losverfahrens kann Wittgenstein-Preisträger Michael Wagner vieles abgewinnen, denn als Gutachter weiß auch er, dass sich in einer Evaluation zwar die sehr guten Anträge und die schlechten feststellen lassen, dazwischen aber ein gewisser Graubereich bleibt. „Hier wäre es manchmal fairer, den Zufall entscheiden zu lassen“, sagt Wagner.

Mut zu mehr Risiko wird begrüßt

Den Wunsch nach mehr Platz für Zufall und der Möglichkeit, unerwarteten Resultaten nachgehen zu können, gibt es jedenfalls in der Community. Allein im Programm der Volkswagenstiftung werden pro Ausschreibung rund 600 Projekte eingereicht. Auch die Bevölkerung unterstützt übrigens die Offenheit für Risiko und neue Zugänge in der Wissenschaft, wie eine aktuelle Umfrage in Deutschland zeigt:  61 Prozent der Befragten sind demnach der Meinung, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst entscheiden dürfen sollten, woran sie forschen. Für Fördergeber ist die Zeit reif, so scheint es, im Rahmen der Weiterentwicklung ihrer Evaluationsverfahren und Auswahlprozesse neue Wege in bestimmten Bereichen wie der Hochrisikoforschung und bei Anschubfinanzierungen einzuschlagen. Die Auswahlhürde muss dabei auch weiterhin ausgesprochen hoch sein, dann aber muss der Freiheit größter Raum eingeräumt werden. Denn einerseits gab es noch nie so viel Wissen wie heute, andererseits steht die Gesellschaft vor vielen ungelösten Fragen. „Wir leben in einer Zeit, in der es schwieriger wird, etwas völlig Neues zu entdecken“, bestätigt Helga Nowotny in „Der Standard“ anlässlich der Veröffentlichung ihres Buches The Cunning of Uncertainty (Die List der Ungewissheit), in dem sich die Wissenschaftsforscherin und ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats mit den Facetten des Risikos und Zufalls intensiv auseinandersetzt. Klar ist, wer ein Risiko eingeht, erhöht die Chance für neue Erkenntnisse, und wer dabei scheitert, lernt aus den Fehlern – auch jener der anderen. Von einem solchen „Datenaustausch“ könnte die Wissenschaft enorm profitieren, eben auch dann, wenn die Resultate negativ sind.

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