Gabriele Bammer setzt sich dafür ein, transdisziplinäre Forschung stärker im akademischen System und Förderwesen zu verankern. © Our Land and Water/Screenshot

FWF: Sie beschäftigen sich seit Längerem mit transdisziplinärer Forschung. Dieser Zugang unterscheidet sich von der klassischen wissenschaftlichen Forschung dadurch, dass er Personen und deren Wissen außerhalb des Wissenschaftssystems miteinbezieht. Wo steht diese Entwicklung derzeit? Gabriele Bammer: Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Probleme besser beziehungsweise umfassender verstanden werden, wenn man sich sowohl mit ihren wissenschaftlichen als auch den gesellschaftlichen Aspekten befasst. Das wiederum eröffnet neue Optionen für wirksames Handeln. Dieser Forschungsansatz wird weltweit mehr und mehr anerkannt. Ein Anzeichen dafür ist die kontinuierliche Zunahme von Publikationen über transdisziplinäre Projekte, Methoden, Prozesse und so weiter. Auch die steigenden Teilnehmerzahlen bei transdisziplinären Konferenzen weisen darauf hin. FWF: Was macht den Kern transdisziplinärer Forschung aus? Bammer: Das Kernstück transdisziplinärer Forschung ist ihre Ausrichtung und Methodik. Dazu gehören eine Reihe von zentralen Aspekten und Ansätzen: Wichtig ist erstens die systemische Sicht von Problemen, weshalb es darum geht, neben den direkten Kausalbeziehungen auch Wechselwirkungen zu untersuchen. Zweitens müssen relevante Stakeholder in die Forschung einbezogen werden – sowohl diejenigen, die von einem Problem betroffen sind als auch jene, die am Problem etwas ändern können. Idealerweise zielt man auf eine Zusammenarbeit ab, bei der die Stakeholder Partner sind, die an der Erarbeitung des Forschungsprojekts und der Umsetzung der Ergebnisse beteiligt sind und in manchen Fällen sogar die Forschung selbst durchführen.

„Transdisziplinäre Forschung profitiert von Diversität auf vielen Ebenen.“ Gabriele Bammer

Transdisziplinäre Forschung profitiert von Diversität auf vielen Ebenen, so im Hinblick auf Wissen, Wissenschaftstheorien, Interessen, Persönlichkeiten, Kulturen und Lebenserfahrungen. Entscheidend ist, wie Diversität integriert wird, das kann beispielsweise durch Dialog oder Erstellung von Modellen erfolgen. Weiters sind solche Projekte handlungsorientiert, das heißt, es geht nicht nur darum, ein Problem besser zu verstehen, sondern auch, Lösungsansätze voranzubringen. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, den Kontext des Problems zu kennen.  Denn ein Umwelt- oder Gesundheitsproblem beispielsweise kann sich in einer bestimmten Region ganz anders auswirken als woanders. Und schließlich hilft es auch, sich stärker bewusst zu sein, was wir alles nicht wissen und bereit zu sein, einige unbekannte Faktoren zu akzeptieren, anstatt sie zu ignorieren. FWF: Wie verlaufen transdisziplinäre Projekt im Idealfall und in welchem Zeitrahmen? Bammer: Es lässt sich nicht vorhersagen, wie eine Forschungsarbeit, die sich mit einer lohnenden Problemstellung befasst, vorankommen wird beziehungsweise wie lange sie dauern wird –, das gilt auch für transdisziplinäre Forschung. Es ist auch schwierig, transdisziplinäre Forschung in das Korsett eines herkömmlichen Finanzierungssystems zu zwängen. Das erklärt sich aus den von mir zuvor beschriebenen Merkmalen der transdisziplinären Forschung. Zum Beispiel ist das Aufbauen von guten, aktiven Beziehungen und das Schaffen einer Vertrauensbasis mit einer Reihe von Stakeholdern eine zeitaufwendige Sache, für die man Unterstützung braucht, sowohl am Anfang als auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Ein weiteres Beispiel ist, dass transdisziplinäre Forschungsarbeit nicht mit der Veröffentlichung von Beiträgen in Fachpublikationen endet. Vielmehr sind die Forschenden aufgefordert, Maßnahmen zur Problemlösung zu unterstützen und zu evaluieren, was einen fortlaufenden Finanzierungsbedarf erfordert. FWF: Was motiviert Forscherinnen und Forscher, transdisziplinär zu arbeiten? Bammer: Dazu wurde vor kurzem eine interessante Studie veröffentlicht, die Forschende in der Schweiz befragte. Grundsätzlich geht es darum, den Mehrwert zu erkennen, den die Einbeziehung von Stakeholdern für die Forschung bringt. Interessanterweise wollen Menschen in der transdisziplinären Forschung arbeiten, obwohl ihnen klar ist, dass ihre Karriere dadurch gebremst oder beeinträchtigt werden könnte. Das bedeutet aber nicht, dass sie mit diesen Nachteilen einverstanden sind. Es wäre ihnen sicher lieber, wenn sie abgebaut würden.

„Verhandlungskompetenzen und ganzheitliches Denken sind essenziell.“ Gabriele Bammer

FWF: Je mehr Gruppen involviert sind, umso mehr Interessen sind im Spiel. Ist die Gefahr des Scheiterns in transdisziplinären Projekten besonders groß? Bammer: Das ist sowohl der Reiz als auch die Herausforderung in der transdisziplinären Forschung. Ein Grund, warum Forschende in die Transdisziplinarität gehen, ist, dass sie fasziniert sind von unterschiedlichen Perspektiven, Werten, Interessen und anderen Aspekten der Diversität. Schlüsselfähigkeiten für transdisziplinär Forschende sind, verschiedene Perspektiven zusammenzudenken, mit unterschiedlichen Interessen umzugehen und unterschiedlichen Werten Raum zu geben, damit ein umfassenderes Verständnis komplexer sozialer und ökologischer Probleme und damit eine wirksamere Bearbeitung dieser Probleme ermöglicht wird. Transdisziplinär Forschende müssen auch die entsprechenden Fähigkeiten haben, um zu verhindern, dass Projekte durch Differenzen entgleisen; dazu zählt prinzipienfestes Verhandeln, um mit unterschiedlichen Interessenslagen umzugehen. Die zwei Schlüsselfaktoren, die zum „Scheitern“ führen können, sind der Mangel an solchen Kompetenzen und bewusstes Sabotieren, oft durch einflussreiche Akteure, die sich gegen Ansätze zur Wehr setzen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. FWF: Mit dem Programm #ConnectingMinds fördert der Wissenschaftsfonds FWF erstmals gezielt transdisziplinäre Forschungsprojekte. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an dem neuen Programm? Bammer: Dass der FWF als öffentliche Förderorganisation für Grundlagenforschung, transdisziplinäre Forschung ernst nimmt, hat einen hohen Stellenwert. Fördereinrichtungen zeigen zwar zunehmend Interesse an dieser Art von Forschung, doch der FWF hat sich als eine der wenigen aktiv mit der Frage befasst, wie ein Finanzierungsprogramm an die Erfordernisse der transdisziplinären Forschung angepasst werden kann. Damit ist der FWF ein Vorbild für andere Förderorganisationen, die in diese Richtung gehen. Beispielsweise wurde der Wissenschaftsfonds  in Anerkennung für das (damals) in Entwicklung befindliche Programm eingeladen, einen Beitrag zum dritten Symposium des  Scientific Advisory Committee von Science Europe, der Dachorganisation der europäischen Forschungsförder- und trägerorganisationen,  zu gestalten.


Zur Person Gabriele Bammer ist eine international anerkannte Expertin für transdisziplinäre Forschung am National Centre for Epidemiology and Population Health der Australian National University (ANU). Sie hat die neue Disziplin der Integration and Implementation Sciences (i2S) begründet, um die Stärken der Forschung für die Bearbeitung komplexer realer Probleme auszubauen. Bammer ist Mitglied des internationalen Steering Committee und der Jury für das jüngst angelaufene FWF-Förderprogramm #ConnectingMinds.


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