Mit dem Fokus auf die Mobilisierung von rechts liefert Kristina Stoeckl Antworten auf bisher kaum untersuchte und immer lauter werdende Fragen zur Polarisierung der Gesellschaft. © Universität Innsbruck

FWF: Sie untersuchen am Beispiel der Russisch Orthodoxen Kirche, wie Religion in das gesellschaftliche und politische Leben eingreift. Wie kam es zu dem Fokus auf Russland? Kristina Stoeckl: Ich habe in Innsbruck Vergleichende Literaturwissenschaften, Germanistik und Russisch studiert. Wenn man russische Philosophie studiert, kommt man an der Religionsphilosophie nicht vorbei. Dieses Thema hat mich interessiert. Meine Doktorarbeit habe ich dann über religiöse Dissidenten in der späten Sowjetzeit geschrieben. 2014 ist schließlich mein Buch über die Menschenrechtsdebatte in der Russisch Orthodoxen Kirche erschienen. Dieses Thema wurde 2008 aktuell als die Kirche ein Dokument über die Würde, Freiheit und Rechte des Menschen veröffentlichte. Ein solches Statement war ein Novum in der orthodoxen Welt. Ich habe mich daher mit der Frage beschäftigt, woher dieser Wandel gekommen ist. Das war der Ausgangspunkt für meinen aktuellen Forschungsfokus auf postsäkulare Konflikte. Diesen Begriff habe ich aus der von Jürgen Habermas beschriebenen postsäkularen Gesellschaft heraus entwickelt, in der Religion nicht aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen ist, sondern als Werteressource verstanden wird. FWF: Was hat die Russisch Orthodoxen zu der Auseinandersetzung mit den Menschenrechten veranlasst? Stoeckl: 2009 wurde der jetzige Patriarch Kyrill gewählt, der stark außenpolitisch wirkt. Und 2012 wurde Putin zum dritten Mal im Amt bestätigt. Ab diesem Zeitpunkt ist in Russland eine konservative Wende erfolgt, die sich auf „traditionelle Werte“ beruft. Die Russisch Orthodoxe Kirche nützt den politischen Moment und macht nun das, was etwa bei den christlichen Rechten in Amerika seit Langem verfolgt werden kann. Sie verwendet säkulare Argumente für religiöse Anliegen und versucht, die eigenen Anliegen in Gesetze zu übersetzen. Das passiert zum Beispiel in der Abtreibungsdebatte, wo mit dem Recht auf Leben oder mit dem Recht Dritter auf Verweigerung aus Gewissensgründen argumentiert wird. Letzteres betrifft beispielsweise medizinisches Personal, das Abtreibungen durchführt, oder sogar den Steuerzahler, dessen Steuergeld – wie in Russland derzeit – Abtreibungen in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge mitfinanziert. Diese Übersetzung eines religiösen Anliegens in die säkulare Sprache des Rechts führt jedoch nicht zu mehr Konsens im Habermas’schen Sinne, sondern zu mehr Konflikt. FWF: Welche Rolle spielt dabei die Beziehung von Politik und Kirche? 

„Dass die Kirche moralkonservative Ideen vertritt, muss nicht überraschen, aber jetzt sind sie russische Außenpolitik geworden.“ Kristina Stoeckl

Stoeckl: Sowohl politische wie auch religiöse Kräfte sehen derzeit eine Chance, ihre Werte zu verteidigen. Gleichzeitig fühlen sie sich auch bedroht durch internationale Rechtsinstrumente und  Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, den Europarat oder die UNO. Es geht ihnen daher darum, den nationalen Rechtsrahmen zu verteidigen, indem man die internationalen Instrumente schwächt. Die andere Intention konservativer Kräfte ist, sich als Gegenpol zu einer liberalen Ordnung zu positionieren. Hier kommt ganz stark die russische Politik ins Spiel, die sich global als Gegenspielerin des Westens positionieren will. Dass die Kirche moralkonservative Ideen vertritt, muss nicht überraschen, aber jetzt sind sie russische Außenpolitik geworden. Dauerhaft sehe ich aber diese Verflechtungen von Politik und Religion nicht. Dass in Russland alles so passiert, wie es der Kreml oder Putin will, ist ein Trugschluss des Westens. Die religiösen Gruppen haben ihre eigene Autonomie. FWF: Seit Beginn Ihrer Untersuchungen ist das Thema aktueller und auch komplexer geworden. Es gibt inzwischen länder- und konfessionsübergreifende Koalitionen für traditionelle Werte. Wie funktioniert diese transnationale Vernetzung? Stoeckl: Das Eindringen in internationale Institutionen, etwa durch Akkreditierung als NGO oder durch Beeinflussung von aktiven Diplomaten, ist das eine. Die Wertepolarisierung auf der Ebene der Zivilgesellschaft ist das andere, und diese ist deutlich zu verfolgen. Moralkonservative Gruppierungen vernetzen sich zunehmend und melden sich bei den Themen Familie, Abtreibung und Religionsfreiheit zu Wort. Als 2013 in Frankreich die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe debattiert wurde, hat die ganze christliche Rechte in Europa und Amerika teilgenommen und kommentiert. Auch der Moskauer Patriarch hat eine Unterstützungserklärung abgegeben. Die christlichen Rechten waren natürlich nicht die ersten, die NGOs zur Vernetzung und für Lobbyismus geschaffen haben, aber wir beobachten, dass sie vermehrt als professionelle norm entrepreneurs auftreten. FWF: Russland spielt wieder eine größere Rolle in diesem globalen Kontext? Stoeckl: Das ist richtig. Bis 2012 war Russland nicht sehr aktiv. Seitdem unterstützen Geschäftsleute aus dem Umfeld Putins religiöse Akteure verstärkt auch finanziell. Damit können unter anderem transnationale Kongresse wie der Weltfamilienkongress ausgerichtet werden. Das ist eine international agierende NGO, die 1997 von einem Russen und Amerikaner gegründet wurde. Gewissen Gruppen innerhalb der orthodoxen Kirche erleichtert das die transnationale Vernetzung. FWF: Wie wirkt sich diese Wertepolarisierung auf Europa aus?

„Hier wird die ideologische Geschichte des 20. Jahrhunderts neu geschrieben.“ Kristina Stoeckl

Stoeckl: Sie führt zu einer zivilgesellschaftlichen Spaltung, denn Konflikte über Werte polarisieren enorm. Folglich stehen die Normen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens auf dem Prüfstand. Wir erleben gerade eine massive gesellschaftliche Aktivierung der Rechten, die gezielt alternative Erzählungen entwerfen. Das Ziel unserer Forschung ist, die Mechanismen zu verstehen, die diese Polarisierungen erzeugen. Eine überraschende erste Erkenntnis für mich ist, dass es zu einer Art von ideologischer West-Ost-Umkehrung gekommen ist. Was damals im Kommunismus abgelehnt wurde, wie die Unterdrückung der Religion, internationale Solidarität und so fort, wird heute auf Brüssel übertragen. Dadurch kann man besser verstehen, wie zum Beispiel Ungarn oder Polen agieren. Die Rechten bezeichnen den Westen sogar als Diktatur des Säkularen. Hier wird die ideologische Geschichte des 20. Jahrhunderts neu geschrieben.

Weltweit bilden sich antiliberale Allianzen, wie hier bei Demonstrationen in Frankreich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. © Wikimedia Commons

FWF: Wie können liberale Demokratien darauf antworten? Stoeckl: Nehmen wir das Beispiel Österreich und Deutschland, wo der religiöse Diskurs noch stark in den Händen der Kirchen und nicht etwa radikaler Graswurzelbewegungen ist. Meiner Ansicht nach ist das gut so. Es gibt einen institutionellen Diskurs auf Augenhöhe. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, wie im politischen System mit gewissen Themen umgegangen wird. In Deutschland wurde die zunächst lange Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe schließlich innerhalb von zwei Wochen abgewickelt und das Gesetz zur Einführung der Ehe für alle beschlossen. Wenngleich Bundeskanzlerin Merkel in der öffentlichen Abstimmung dagegen stimmte, zog das keine großen Reaktionen nach sich. In liberalen Systemen gilt es, unterschiedliche Positionen zu tolerieren. Und es gibt politische Lösungen, um Polarisierung zu vermeiden. Man muss diese aber auch beschreiten wollen. FWF: Birgt der „Kampf um traditionelle Werte“, wie es die Russisch Orthodoxe Kirche ausdrückt, auch Konfliktpotenzial für Wissenschaft und Forschung? Stoeckl: Um für Russland zu sprechen, so ist mein Eindruck, dass die Rede von den „traditionellen Werten“ vor allem ein politisches Phänomen ist. Der traditionelle Wertediskurs ist zwar als Thema en vogue, das spürt man dann auch in der Wissenschaft, aber er kann durchaus kritische soziologische Forschung nicht stoppen. Russische Wissenschaftler haben vielmehr großen Druck, in westlichen Zeitschriften zu publizieren. Als Peer Reviewerin versuche ich, junge Forscher zu unterstützen, damit sie internationale Standards erfüllen und im Westen gelesen werden. Wenn man diese Nachwuchsforscherinnen und -forscher frustriert, dann werden sie irgendwann nicht mehr für den Westen publizieren und das wäre fatal. FWF: Arbeiten Sie im Rahmen Ihrer Forschung auch mit russischen Partnern zusammen?

„Unsere Untersuchungen zeigen, dass wir es eher mit einzelnen Akteuren zu tun haben.“ Kristina Stoeckl

Stoeckl: Seit der Arbeit im Rahmen meiner Dissertation habe ich ein gutes Netzwerk aufbauen können. Ich habe inzwischen zahlreiche Interviews mit russischen Akteuren aus moralkonservativen Kreisen geführt und habe auch Zugang zu Vertretern des Moskauer Patriarchats. Unser Team, in dem auch ein russischer Soziologe mitarbeitet, ist derzeit dabei noch mehr Personen dieser Gruppierungen auch aus Europa und Amerika zu interviewen. Wir versuchen ganz nah dran zu sein und zu verstehen, wer diese Leute sind, wo sie stehen, wie mächtig sie sind und mit wem sie reden. Unsere bisherigen Untersuchungen zeigen, dass wir es eher mit einzelnen Akteuren zu tun haben, die transnational aktiv und sichtbar sind, innerhalb der eigenen Kirchenhierarchie oft aber kaum wahrgenommen werden. Verschiedene Gruppen konkurrieren außerdem miteinander um Ressourcen und Einflussnahme. FWF: Sie haben zuletzt zwei hochdotierte Forschungsstipendien des FWF und Europäischen Forschungsrats erhalten. Besonders die Phase vom Doktorat zum Postdoc ist für viele schwierig. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Stoeckl: Ich hatte eine sehr prekäre Postdoc-Phase. In dieser Zeit habe ich zudem den Schritt von der Geistes- zur Sozialwissenschaft gemacht. Ich hatte aber das Glück, verschiedene Stipendien zu bekommen, die mich auch ins Ausland brachten. Im Nachhinein betrachtet sehe ich es als positiv, dass ich in dieser Phase keine prekäre, kompromissreiche Unistelle hatte, sondern eigenständig durch Drittmittel meine eigene Forschung verfolgen konnte. Dennoch war der Druck extrem groß. Die Preise habe nun alles geändert. Auf einmal endet das akademische Prekariat. Für mich ist das immer noch unglaublich.

„Ganz früh das eigene zu machen erfordert viel Mut, aber es kann sich lohnen.“ Kristina Stoeckl

FWF: Gibt es ein Erfolgsrezept? Stoeckl: Planen lässt sich so etwas nicht. In Österreich ist die Stellensituation an den Universitäten nicht rosig, dafür aber die Fördersituation recht gut. Postdoc-Programme sind besonders wichtig. Für mich war es rückblickend betrachtet ein Vorteil, an meinem Thema der russischen Orthodoxie festzuhalten, in einer Zeit, in der alle zu mir sagten: "Wenn du Religion und Politik machen willst, dann mach‘ doch Islam." Ich fühlte mich dafür jedoch nicht kompetent. Ganz früh das eigene zu machen erfordert viel Mut, aber es kann sich lohnen. Die universitäre Forschungslandschaft, die immer noch stark von Professoren gesteuert wird, lenkt aus meiner Sicht junge Postdocs oft von den eigenen Zielen und Stärken ab. Auch die Auslandserfahrungen waren Augenöffner für mich. In Florenz hatte ich zum Beispiel mit vielen ERC-Preisträgern zu tun. Daraus ist ein Netzwerk aus Kontakten und Vorbildern gewachsen. Das wäre in Österreich so nicht möglich gewesen.


Kristina Stoeckl ist assoziierte Professorin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Die Religionssoziologin beschäftigt sich mit Fragen zum Einfluss von Religionen auf Politik und Gesellschaft am Beispiel der Russischen Orthodoxen Kirche. Stoeckl hat am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und war unter anderem Marie-Curie-Fellow an der Universität Rom Tor Vergata und APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Wien. Für ihr Forschungsprojekt zu postsäkularen Konflikten erhielt sie 2015 den START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF für Nachwuchsforscherinnen und -forscher sowie den ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrates.


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