Die Arbeit der Historikerin Kerstin S. Jobst ist unmittelbar von den Folgen des Ukraine-Krieges betroffen. Eine ihrer Mitarbeiterinnen am Wiener Institut fĂŒr OsteuropĂ€ische Geschichte ist Ukrainerin, eine andere russischstĂ€mmig. Die Menschen haben Angst um ihre Familien und sind erschĂŒttert ĂŒber den Abbruch der wissenschaftlichen Kontakte. © Luiza Puiu/FWF

Der Krieg in der Ukraine dominiert die mediale Berichterstattung. Was dabei kaum beachtet wird, sind die Folgen des Konflikts auf die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. „Selbst wir, die Community, die sich seit Jahrzehnten mit der Ukraine und Russland befasst, wir hĂ€tten das mehrheitlich nicht fĂŒr möglich gehalten“, erinnert sich Kerstin S. Jobst an den 24. Februar 2022, als das russische MilitĂ€r in die Ukraine einmarschierte.

Arbeit mit Behinderungen

Die Osteuropahistorikerin der UniversitĂ€t Wien hat gemeinsam mit der Zeithistorikerin Kerstin von Lingen ein laufendes internationales Projekt, das seit MĂ€rz 2021 vom Wissenschaftsfonds FWF und der Russian Foundation for Basic Research (RFBR) finanziert wird. Gemeinsam mit ihren russischen Kolleg:innen möchte sie die Folgen des Ersten Weltkrieges auf die Umwelt und das Leben der Bevölkerung im damaligen habsburgischen Galizien – dem heutigen SĂŒdpolen und der Westukraine – untersuchen. Das erste grĂ¶ĂŸere Treffen der beteiligten Wissenschaftler:innen, das in Wien geplant war, konnte immerhin per Zoom stattfinden.

Das Projekt ist zwar nicht gefĂ€hrdet, doch die Arbeit ist von den Folgen des Krieges unmittelbar betroffen. Eine ihrer Mitarbeiterinnen am Wiener Institut fĂŒr OsteuropĂ€ische Geschichte ist Ukrainerin, eine andere russischstĂ€mmig. Die Menschen haben Angst um ihre Familien und sind erschĂŒttert ĂŒber den Abbruch der wissenschaftlichen Kontakte. „Unsere gemeinsame Arbeit fĂŒr die nĂ€chsten drei Jahre war durchgetaktet. Konferenzen und Treffen hier in Wien wie auch in Russland waren schon geplant. Nun muss man flexibel sein“, sagt die Historikerin. Zumal die Probleme ja schon mit der Pandemie begonnen hatten: „Reisen konnten nicht stattfinden, weil die beiden LĂ€nder Österreich und Russland die Impfungen gegenseitig nicht anerkannt haben“, nennt Jobst ein Beispiel fĂŒr die Behinderungen.

Annexion der Krim militÀrischer Testfall

Warum Wladimir Putin gerade jetzt diesen Krieg begonnen hat, erklĂ€rt sich die Expertin aus mehreren UmstĂ€nden. In den letzten 15 Jahren sei es Russland gelungen, in einigen – lange verloren geglaubten Gebieten – wieder Boden gut zu machen. Unter anderem, was den Zustand der StreitkrĂ€fte anbelange. „Nach dem Georgienkrieg 2008 hat man festgestellt, wo die Defizite in der russischen Armee liegen, was AusrĂŒstung, Ausbildung, aber auch die soft skills anbelangt, und erfolgreich nachgelegt“, schildert die Historikerin und beurteilt die Annexion der Krim 2014 als einen militĂ€rischen Testfall.

„Putin fĂŒhlte sich damals im Zenit der Macht.“ Kerstin Jobst

Damals habe Russland ganz besonders auf die Reaktion des Westens geachtet. SpĂŒrbare Konsequenzen blieben aus. „In den letzten Jahren fĂŒhlte sich Putin im Zenit der Macht“, stellt Jobst fest. Es gab „erfolgreiche“ Aktionen in Syrien, der neue US-PrĂ€sident Joe Biden wurde als wenig gefĂ€hrlich eingestuft und die Welt ist seit zwei Jahren mit der Coronapandemie beschĂ€ftigt. Lauter Faktoren, die laut Jobst eine Rolle spielen. „Dieses Zeitfenster hat Putin genutzt“, sagt die Historikerin.

Woher der Kampfgeist der Ukraine kommt

Dass der russische Staatschef einige Faktoren falsch eingeschĂ€tzt hat, davon ist die Expertin ĂŒberzeugt. Zum einen habe Putin den Widerstand in der Ukraine unterschĂ€tzt. Aber woher kommt deren Kampfgeist? Nomen est omen. Ukraina heißt u. a. „am Rande“. Es ist geografisch und topografisch ein Gebiet, das gut zu durchwandern ist, wo sich immer Menschen getroffen, Handel miteinander getrieben, KĂ€mpfe ausgefochten haben und wieder weitergewandert sind. Weiteres kam hinzu: Seit der frĂŒhen Neuzeit bildete sich in der Ukraine ein Protonationalismus aus.

Diese Entwicklung ist universal. „Eine Nation ist nicht einfach da und sie wĂ€hrt auch nicht ewig“, sagt Jobst. Die römischen Kaiser hatten etwa eine andere Vorstellung davon, was Deutsch ist, als wir das heute haben. Auch der Begriff „Österreich“ hat in der Geschichte einen großen Bedeutungswandel erlebt. Wie wir zu solchen auch nationalen Konstrukten stehen, hat sich mit der Zeit gewandelt. Der Prozess der kollektiven Konstruktion von Großgruppenzugehörigkeit ist komplex und wird manchmal durch Katastrophen wie das Eindringen von Feinden befördert. Das ist es, was jetzt gerade in der Ukraine passiert: „Eine grĂ¶ĂŸere StĂ€rkung des ukrainischen Nationalbewusstseins als durch diesen Unrechtskrieg Putins hĂ€tte es gar nicht geben können“, ist sich die Historikerin sicher.

„Das ukrainische Nationalbewusstsein hĂ€tte nicht mehr gestĂ€rkt werden können als durch diesen Krieg.
“ Kerstin Jobst

Problem Autokratie ohne Korrektiv

Zum anderen habe Putin die StĂ€rke der internationalen Koalition gegen ihn und die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen unterschĂ€tzt und die FĂ€higkeit seines eigenen MilitĂ€rs ĂŒberschĂ€tzt. „Putin hört nur noch, was er hören will“, sagt Jobst und erinnert an Bilder, „wo er seine Berater, seine Hofschranzen, abkanzelt wie Schulbuben.“ Damit ist der Autokrat wohl auch Opfer seines eigenen Machtanspruchs geworden. Einer der profundesten Russlandkenner, der US-Historiker Stephen Kotkin, bekrĂ€ftigt die Meinung von Kerstin S. Jobst. In einem viel beachteten Analyseinterview mit dem New Yorker meint dieser, die Positionierung Russlands sei im Laufe der Geschichte immer schon von einem Großmachtanspruch getragen worden. Mit wenigen Ausnahmen habe man diesen aber nicht erfĂŒllen können. Eines der grĂ¶ĂŸten Probleme sieht der Historiker in der Verbindung vom Staat mit einer einzigen Machtfigur. Eine Autokratie in einer Welt permanenter Modernisierung, Urbanisierung und BildungsschĂŒbe aufrechtzuerhalten, sei zunehmend schwierig, ohne zum Modernisierungsverlierer zu werden. Anders als in der Demokratie fehle laut Kotkin hier das Korrektiv. „Putin hat das Problem, das jedes autoritĂ€re Regime hat: Man fĂŒhlt sich smarter und ĂŒberlegen, hört aber nur auf die Leute, die einem das erzĂ€hlen, was man hören will.“

Die Fachleute sind sich einig, Wladimir Putin habe den Widerstand in der Ukraine unterschĂ€tzt. „Eine grĂ¶ĂŸere StĂ€rkung des ukrainischen Nationalbewusstseins als durch diesen Unrechtskrieg Putins hĂ€tte es gar nicht geben können“, sagt Kerstin S. Jobst. Im Bild: Panzersperren in den Straßen von Odessa. © Sipa Press/Action PressSipa/picturedesk.com

Berater haben Angst, die Wahrheit zu sagen

Diese Beobachtung bestĂ€tigt der Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ, Jeremy Fleming, bei einem Vortrag an einer UniversitĂ€t im australischen Canberra Ende MĂ€rz. Putin werde von seinen Beratern falsch darĂŒber informiert, wie schlecht die russischen StreitkrĂ€fte dastĂŒnden und wie die russische Wirtschaft von Sanktionen lahmgelegt werde, weil seine hohen Berater zu viel Angst hĂ€tten, ihm die Wahrheit zu sagen. „Wir haben gesehen, wie sich russische Soldaten – denen es an Waffen und Moral mangelt – weigern, Befehle auszufĂŒhren, ihre eigene AusrĂŒstung sabotieren und sogar versehentlich ihre eigenen Flugzeuge abschießen“, berichtet Fleming.

Propaganda und Konformismus

Laut einer Umfrage des renommierten, unabhĂ€ngigen russischen Meinungsforschungsinstitutes Lewada unterstĂŒtzen zwei Drittel der Russ:innen die aktuelle Politik von Wladimir Putin und die „militĂ€rische Spezialoperation“ in der Ukraine. Nur so darf in Russland bezeichnet werden, was der Rest der Welt einen „Krieg“ nennt. Doch wie sind diese Zahlen einzuordnen? Der Autor der Studie, Lew Gudkow, relativiert in einem ORF-Interview die Aussagekraft dieser auf den ersten Blick klaren Zustimmung der russischen Bevölkerung. Die Haltung hĂ€nge zum einen von den Informationsquellen ab, die die Befragten benĂŒtzen. Jene zwei Drittel, die den „MilitĂ€reinsatz“ befĂŒrworten, seien vor allem jene Bevölkerungsschichten, die ihre Informationen aus den staatlich kontrollierten FernsehkanĂ€len beziehen. Das seien vor allem Ă€ltere Menschen, vom Staat abhĂ€ngige Berufsgruppen und die Bevölkerung in kleinen StĂ€dten und Dörfern der russischen Provinz. Man dĂŒrfe nicht vergessen, dass seit ĂŒber zehn Jahren Propaganda und Zensurgesetze die öffentliche Meinung in Russland manipulieren.

„Viele Russ:innen fĂŒhlen sich vom Westen nicht richtig ernst genommen.“ Kerstin Jobst

Trauma und kollektiver Minderwertigkeitskomplex

Warum die antiwestliche Propaganda bei vielen auf so fruchtbaren Boden fĂ€llt, begrĂŒndet der russische Soziologe Gudkow mit einem wunden Punkt: „Die Bevölkerung leidet noch immer am Trauma des Zerfalls der Sowjetunion und an einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex, es nicht geschafft zu haben, demokratische Reformen durchzufĂŒhren.“ Den Russ:innen sei schmerzlich bewusst, dass ihr Traum von einem Land mit demokratischen Regeln, sozialer Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand unerfĂŒllt geblieben sei. Jobst stimmt dem zu: „Viele Russ:innen – auch nicht Putin-freundliche – haben das GefĂŒhl, vom Westen nicht richtig ernst genommen zu werden, Menschen zweiter Klasse zu sein.“

„Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“, stand auf dem Schild, das die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa Mitte MĂ€rz wĂ€hrend der Hauptnachrichten des russischen Staatsfernsehens ins Bild hielt. Diese Aktion löste weltweit eine Welle der Anerkennung aus. Der Kreml verurteilte Owsjannikowa zunĂ€chst zu einer Geldstrafe. In einem weiteren Verfahren drohen ihr wegen „Diskreditierung der StreitkrĂ€fte Russlands“ bis zu 15 Jahre GefĂ€ngnis. © HANDOUT/AFP/picturedesk.com

Drastische Strafen fĂŒr Kritiker:innen

Russische Kriegsgegner:innen wĂŒrden sich abseits der staatlich kontrollierten Informationsquellen in sozialen Netzwerken und unterschiedlichen Nachrichtenquellen im Internet ein Bild machen. „Diese Menschen befinden sich in einem Zustand des Schocks, der Scham und der Depression“, sagt der russische Soziologe. Sie mĂŒssen mit drastischen Strafen rechnen. Man erinnere sich an die Journalistin Marina Owsjannikowa, die im nationalen Fernsehen ein Plakat mit den Worten „Stoppt den Krieg“ in die Kamera gehalten hat. In einem ersten Verfahren wurde sie zu einer Geldstrafe verurteilt. Nun steht sie erneut vor Gericht. Das Video der russischen KĂŒnstlerin Yevgenia Isayeva ging viral: Sie protestierte in St. Petersburg in einem weißen Kleid, ĂŒbergossen mit Kunstblut und wiederholte ununterbrochen die Worte: „Mein Herz blutet.“ Kurze Zeit spĂ€ter wurde sie von der Polizei abgefĂŒhrt, immer noch die drei Worte rufend. Welche Strafe ihr droht, ist nicht bekannt. Sich öffentlich gegen den Krieg zu Ă€ußern, ist jedenfalls verboten. „Ich möchte im Moment in Russland nicht auf die Straße gehen“, sagt Jobst. Sie versteht die Angst der Menschen. Auch Russ:innen, die im Westen leben, mĂŒssen ihre Worte mit Bedacht wĂ€hlen, um ihre Verwandten zu Hause nicht zu gefĂ€hrden.

Böser Westen versus böser Osten

Hinzu komme ein historisches Misstrauen zwischen östlicher und westlicher Welt. Jobst sieht die Skepsis gegenĂŒber dem Unbekannten zunĂ€chst einmal als ursprĂŒngliche, menschliche Schutzfunktion. „Man weiß ja zunĂ€chst nicht, ob der Fremde einem wohlgesonnen ist.“ Aber dabei bleibe es nicht. „Zu allen Menschheitszeiten gab es das GefĂŒhl, dass das Andere, das Fremde weniger wert ist“, beurteilt die Historikerin diese Dynamik. In diesem generellen Misstrauen gegenĂŒber dem Fremden sieht sie eine Konstante in der Menschheitsgeschichte. „So gibt es schon in der Antike das Bild der Barbaren, das in Europa seit der AufklĂ€rung gegenĂŒber Russland sehr kultiviert wurde.“ Dem tief verwurzelten russischen Misstrauen gegenĂŒber dem Westen steht so ein ebenso tief verwurzeltes Bild vom „bösen Osten“ gegenĂŒber.

„Seit der Antike gibt es in Europa das Bild des russischen Barbaren.“ Kerstin Jobst

Dieses Schwarz-Weiß-Denken manifestiert sich gegenwĂ€rtig wieder, wenn etwa Kinder von in Wien ansĂ€ssigen Russ:innen am Schulweg angepöbelt werden. Zudem erinnert die gebĂŒrtige Deutsche daran, dass in diesem Konflikt zwei Völker kĂ€mpfen, die sich nicht nĂ€her sein könnten. „Viele sind miteinander verwandt, hatten gemeinsame Urlaube an der SchwarzmeerkĂŒste, haben eine gemeinsame Erinnerung an die Sowjetunion, die ja auch nicht nur schlecht ist. Es gibt ukrainische Patriot:innen, die Russisch als Muttersprache haben“, zĂ€hlt Jobst auf.

Austausch und gemeinsame kulturelle Wurzeln

Wie entsteht nun das historische Bild vom Zusammenleben der Menschen, das die Nachgeborenen haben? Die Geschichte wird geprĂ€gt von den Informationen, die uns zur VerfĂŒgung stehen. Dabei sind gewaltsame Konflikte wesentlich besser ĂŒberliefert als Kooperationen. „Wir wissen mehr ĂŒber große Schlachten als ĂŒber gelungenes Zusammenleben“, argumentiert Jobst. Warum das so ist? „Kriege sind besser zu dokumentieren.“ Bad news waren also schon immer good news. Die Forschung ist in diesem Punkt ganz klar: Die Beziehungen zwischen Westen und Osten waren nicht nur von gewaltsamen Konflikten und gegenseitigem Misstrauen geprĂ€gt, sondern auch von Phasen guter Zusammenarbeit. So pflegte etwa die Habsburgermonarchie gute Beziehungen zu Russland. „Es gab Austausch und gemeinsame kulturelle Wurzeln“, sagt Jobst.

„Kriege sind besser zu dokumentieren als gelungenes Zusammenleben.“ Kerstin Jobst

Polnisch-ukrainische Konflikte

Das ist auch jene Epoche, mit der sich Kerstin Jobst in ihrer Dissertation beschĂ€ftigt hat. Sie untersuchte die Rolle der NationalitĂ€tenfrage im damaligen Galizien. Die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine waren geprĂ€gt von vielen gewaltsamen Konflikten. WĂ€hrend der Habsburgerzeit hatten die Pol:innen versucht, das Gebiet mit dem Argument, man sei kultivierter, zu dominieren. So wurden sie zu einer privilegierten Volksgruppe – zulasten der Ukrainer:innen. Um einen Ausgleich zu schaffen, wurden den Ukrainer:innen seitens der Habsburger Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden. So gab es etwa einen ukrainischen Lehrstuhl an der UniversitĂ€t von Lemberg. „In dieser Zeit hat die ukrainische Nationalbewegung den ersten großen Aufschwung genommen“, erlĂ€utert die Expertin. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie gab es in der Zwischenkriegszeit sehr gewaltsame polnisch-ukrainische Konflikte, die lange nachgewirkt haben. Umso beachtlicher findet Jobst den Umstand, dass in dieser Krise gerade Polen den Ukrainer:innen mit großem Engagement hilft.

GeprÀgt vom Kalten Krieg

Kerstin S. Jobst hat selbst viele persönliche AnknĂŒpfungspunkte zum osteuropĂ€ischen Raum. Ihre Betroffenheit speist sich nicht nur aus ihren vielzĂ€hligen Kontakten zu Freund:innen und Kolleg:innen aus der Ukraine und Russland. Auch in ihrer Biografie sind Querverweise zu finden. Aufgewachsen im geteilten Deutschland, 64 Kilometer von der Zonengrenze zur DDR entfernt, bezeichnet sich die gebĂŒrtige Hamburgerin als „Kind des Kalten Krieges“ – allerdings mit dem Hinweis, dass ihre gesamte Kindheit bereits von der Entspannungspolitik, wie etwa unter Willy Brandt, und der Aufbruchstimmung in ihrem Elternhaus geprĂ€gt war. Kindheitserinnerungen an Besuche bei den Verwandten in der DDR sind geprĂ€gt von den spĂŒrbaren Unterschieden. Ihr Großvater, ĂŒberzeugter Kommunist, der ursprĂŒnglich aus dem Erzgebirge kam, kehrte nach dem Mauerbau in den Osten zurĂŒck, um dort den Sozialismus mitaufzubauen, wĂ€hrend der andere Teil der Verwandtschaft antikommunistisch war.

„Was heute in der Ukraine passiert, ist eine weltpolitische ZĂ€sur.“ Kerstin Jobst

Schon als Kind die Erfahrung zu machen, dass es verschiedene LebensentwĂŒrfe gibt, hat Jobst stark geprĂ€gt und schließlich auch ihr Interesse fĂŒr die Geschichte Osteuropas geweckt. „Ich wĂ€re nicht Historikerin geworden, wenn mir Austausch und Kommunikation nicht wichtig wĂ€ren“, sagt sie. Was ihre alte Heimat anbelangt, nimmt sie zumindest in ihrer Generation noch immer ein gewisses ÜberlegenheitsgefĂŒhl der Wessis gegenĂŒber den Ossis wahr. „Da sollten viele Westdeutsche abrĂŒsten“, sagt die Wahlwienerin und fĂŒgt hinzu, „diese Überheblichkeit zeigen Deutsche teilweise ja auch gegenĂŒber Österreicher:innen.“ Jobst lebt seit beinahe zehn Jahren in Wien und fĂŒhlt sich sowohl Deutschland als auch Österreich gleichermaßen verbunden. Umso mehr bedauert sie, dass sie nach österreichischem Recht keine DoppelstaatsbĂŒrgerschaft haben kann.

Dieser Krieg ist eine ZĂ€sur

Die 58-JĂ€hrige hat in ihrem Leben schon einige weltverĂ€ndernde Momente erlebt: 9/11, Tschernobyl, Glasnost, den Mauerfall – Momente, die auch ihr Interesse an Osteuropa maßgeblich verstĂ€rkt haben. Wie sich der aktuelle Konflikt entwickelt, kann niemand voraussagen, aber in einem ist sich die Historikerin völlig sicher: „Auch was heute in der Ukraine passiert, ist eine weltpolitische ZĂ€sur.“

Zur Person

Kerstin Susanne Jobst ist Professorin am Institut fĂŒr OsteuropĂ€ische Geschichte der UniversitĂ€t Wien. Sie studierte Geschichtswissenschaften, Psychologie, Literaturwissenschaften, Finno-Ugristik und Slawistik an den UniversitĂ€ten Hamburg, Mainz, Krakau und Wien. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Ostmittel- und Osteuropas, Vergleichende Imperiums- und Kolonialismusforschung, Religionsgeschichte und Hagiografie, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Tourismusgeschichte des östlichen Europas sowie Katastrophenforschung.