Forschung auf der Flucht

Nach dem Ăberfall Russlands auf die Ukraine im FrĂŒhjahr 2022 setzte eine Fluchtbewegung ein: Millionen von Ukrainer:innen verlieĂen ihr Heimatland, vor allem in Richtung Westen. FĂŒr manche waren Staaten wie Polen oder Ăsterreich nur eine Transitstation vor der Weiterreise, andere bleiben auf unbestimmte Zeit. Darunter auch zahlreiche Forschende. Um ihnen zu helfen, hob der FWF kurzerhand ein UnterstĂŒtzungsangebot aus der Taufe: Projektleiter:innen von bereits laufenden FWF-Projekten konnten einen Antrag stellen, um GeflĂŒchtete oder Ukrainer:innen, die seit maximal zwei Jahren in Ăsterreich sind, fĂŒr zwölf Monate in ein Projekt aufzunehmen. Drei FĂ€lle, die zeigen, wie reibungslos die Integration von Expertise gelingen kann.
Die Lunge lehren
Maschinen sind dem Menschen in vielen Dingen ĂŒberlegen. In einem Bereich liegen sie allerdings noch meilenweit hinten: Sie sind wenig adaptiv. WĂ€hrend es fĂŒr den Menschen kein Problem ist, einen Busch in Form eines Elefanten von einem echten Elefanten zu unterscheiden, stoĂen Computer bei solchen Problemen schon mal an ihre Grenzen.
Ein Grund, weswegen Maschinen in der Medizin zwar breit zum Einsatz kommen, die Diagnose selbst aber immer noch in der Hand von Ărzt:innen liegt. Krankheiten sind komplex. Das weiĂ auch die Radiologin Svitlana Pochepnia. âEs ist nicht so, dass eine Krankheit auf einer Röntgen- oder MRT-Aufnahme immer gleich ausschautâ, sagt sie. âEs gibt Indizien, aber oft braucht es einen oder sogar mehrere erfahrene Blicke, um eine Diagnose zu stellen.â

Ein Weg, die AnalysefĂ€higkeit der Computer zu verbessern, ist Machine Learning. Ein einfaches Beispiel: Menschliche Ărzt:innen spielen Tausende Fotos von Muttermalen, die sie vorher in âproblematisch/unproblematischâ eingeteilt haben, in ein Programm ein. So lernt dieses Programm mit jedem Foto ein bisschen mehr, wie ein Muttermal aussieht, das einer genaueren Untersuchung bedarf. âWir sind quasi Lehrer:innen fĂŒr den Computerâ, sagt Pochepnia. âDer Gedanke dahinter ist: Maschinen sollen die einfachen und klare FĂ€lle bearbeiten, damit Ărzt:innen mehr Zeit fĂŒr die komplizierten haben.â Zeit ist auch allgemein ein Faktor: Eine frĂŒhe Diagnose verbessert in vielen FĂ€llen die Prognose.
In Kiew hat Pochepnia als Radiologin in einer Privatklinik gearbeitet. Dort war sie nicht auf die Lunge spezialisiert. Also eigentlich nicht. âDie vergangenen drei Jahre haben alle Radiolog:innen zu Expert:innen fĂŒr Lungenkrankheiten gemachtâ, erzĂ€hlt sie. Man habe einfach sehr viele Covid-19-Patient:innen behandeln mĂŒssen. Seit ihrer Flucht im FrĂŒhjahr ist Pochepnia Teil des Projekts âDetektion neu entstehender infektiöser Lungenkrankheitenâ am CIR Lab der Medizinischen UniversitĂ€t Wien. Dabei geht es â grob gesagt â um das automatische Erkennen von infektiösen Lungenkrankheiten mittels Machine Learning. Pochepnia arbeitet im medizinischen Teil, sprich, sie sichtet jeden Tag bis zu 200 echte Lungenröntgenaufnahmen und klassifiziert sie nach Krankheitsbildern. âIn komplizierten FĂ€llen stimme ich mich mit der Projektleitung ab, damit die Entscheidung mit vier Augen getroffen wird.â Das Programm âlerntâ mit diesen Bildern dann in vielen, vielen Schritten, wie â in der Fachsprache wĂŒrde man sagen: an welchen Markern â man einzelne infektiöse Lungenkrankheiten erkennen kann. Solche Programme sollen dann dauerhaft auch in der Lage sein, bisher unbekannte Marker und Muster zu finden und die Mediziner:innen auf neu entstehende PhĂ€notypen oder sogar ganz neue Lungenkrankheiten aufmerksam machen. âDann kann uns der Computer auch etwas beibringenâ, meint Pochepnia lĂ€chelnd.
Ergebnisoffenes Taumeln
âBeruflich ist das fĂŒr mich eigentlich ein Traumâ, sagt Julia Strikovska. Die Möglichkeit, sich ohne Zwang zu Ergebnissen und Publikationen kĂŒnstlerisch und theoretisch mit einem Thema beschĂ€ftigen zu können, sei eine groĂartige Chance. âAuch wenn der Grund fĂŒr meinen Aufenthalt in Wien kein schöner ist.â
Strikovska kommt aus Kiew. Sie ist ausgebildete AnwĂ€ltin und hat in der Ukraine insbesondere im Bereich des Wirtschaftsrechts gearbeitet. Daneben ist sie seit ĂŒber einem Jahrzehnt KĂŒnstlerin. Die Kombination wirkt auf den ersten Blick von auĂen seltsam, fĂŒr Strikovska ergibt sie aber Sinn. âDas Recht ist eine Möglichkeit, soziale Beziehungen zu regeln und zu kodifizierenâ, sagt sie. âAuch Kunst ist letztlich eine Möglichkeit, miteinander in einem sozialen GefĂŒge zu kommunizieren.â

Seit Anfang Mai ist Strikovska Mitarbeiterin im Projekt âNavigating Dizziness Togetherâ, dem Nachfolgeprojekt von âDizziness â A Resourceâ, an der UniversitĂ€t fĂŒr Angewandte Kunst in Wien. In der zusammenhĂ€ngenden Projektreihe geht es um den Taumel als PhĂ€nomen: als Ressource fĂŒr kĂŒnstlerisches Schaffen ebenso wie als Einfluss auf den Menschen im Alltag. âDer Ansatz ist sehr weit gefasstâ, erklĂ€rt Strikovska. âEs fĂ€ngt mit einem physischen Zustand an â also taumelnden, fallenden Körpern â, erforscht das PhĂ€nomen aber auch in einem sozialen und politischen Kontext.â Ein ganzheitlicher Blick auf den Schwindel also.
Das Projekt ist in der Abteilung âArt and Researchâ der Angewandten angesiedelt. Es ist also kein Projekt mit dem Ziel, angewandte Kunst herzustellen, sondern ein Forschungsprojekt. KĂŒnstlerische Forschung ist nur bedingt vergleichbar mit Forschung in anderen Disziplinen. Sie ist freier, weniger starr. Der klassische Ablauf â Hypothesen generieren, sie empirisch abtesten und eventuell falsifizieren â kommt nicht zur Anwendung. Stattdessen werden inter- und transdisziplinĂ€r theoretische RahmengebĂ€ude entwickelt, Begriffe aus ungewöhnlicher Perspektive interpretiert und es wird nach Wegen gesucht, die entstehenden Irritationen produktiv zu nutzen. Spezialist:innen aus verschiedensten Gebieten arbeiten zusammen und bringen ihre Perspektive ein. âIn meinem Fall versuche ich, die Bereiche Kunst, Wirtschaft und Recht zusammenzubringenâ, sagt Strikovska. Das sei nicht einfach, aber das Projekt sei fĂŒr alle möglichen Ergebnisse offen. âDas ist das Tolle daran: Ich kann heute auch noch nicht sagen, was dabei herauskommen wird.â
Algen in den Donauauen
âMeine Expertise sind Algenâ, sagt Olena Bilous, âihre Taxonomie, ihre Ăkologie, ihre LebensrĂ€ume.â Aus der Sicht eines Laien mag das Forschungsfeld der Hydrobiologie unspektakulĂ€r erscheinen. Aber eigentlich fĂ€ngt quasi alles mit der Alge an, zumindest im Wasser. âAlgen sind die Basis fĂŒr Ăkosystemeâ, so Bilous. Sie betreiben Photosynthese und stehen damit am Anfang der Nahrungskette.
Das Projekt âeDNA Analyse von Vertebraten Metacommunities in Flussauenâ (RIMECO) an der UniversitĂ€t fĂŒr Bodenkultur Wien (BOKU), an dem Bilous mitarbeitet, basiert auf dem Konzept von Metagemeinschaften und deren Dynamik. Lokale Gemeinschaften in einem Habitat stehen mit Gemeinschaften in anderen Habitaten in einem Austausch. Es reicht also nicht, sich nur anzusehen, wie eine Gemeinschaft auf Ănderungen der lokalen Umweltbedingungen reagiert, auch die KonnektivitĂ€t zwischen Habitaten spielt fĂŒr die Verbreitung von Arten eine Rolle. Die Einbeziehung der Algen ermöglicht, neben UmweltĂ€nderungen auch Interaktionen zwischen Organismengruppen zu betrachten. Das Projekt am Institut fĂŒr Hydrobiologie und GewĂ€ssermanagement fĂŒgt mit dem Faktor Zeit eine weitere Komponente hinzu: Wie entwickeln sich die Metagemeinschaft und ihre Umwelt im zeitlichen Verlauf?

âEs ist spannend, weil ich noch nie in einem Nationalpark gearbeitet habeâ, sagt Bilous. Das Projekt umfasst auch Arbeit im Feld: RegelmĂ€Ăig erkunden die Wissenschaftler:innen mit dem Boot oder zu FuĂ den Nationalpark Donauauen und nehmen Proben, die spĂ€ter im Labor analysiert werden. Diese Arbeitsweise ist der Hydrobiologin nicht fremd: In Kiew erforschte sie FlĂŒsse und war dafĂŒr auch hĂ€ufig drauĂen im Feld.
Algen sind eine groĂe kollektive Gruppe von Organismen, die mehr als 45.000 Arten umfasst. Es handelt sich demnach nicht um eine einzelne, eng verwandte taxonomische Gruppe, sondern um eine Organismengruppe mit der gleichen Lebensweise. âZu den Algen gehören traditionell zum Beispiel auch âCyanobakterienâ, so Bilous. Dies sind prokaryotische Organismen (also ohne definierten Zellkern), von denen bekannt ist, dass sie auch LebensrĂ€ume mit extremen Umweltbedingungen besiedeln.
Das vom FWF geförderte Projekt RIMECO konzentriert sich eigentlich auf Fische und Amphibien. Aber ganzheitlich betrachtet macht es natĂŒrlich Sinn, auch die Algen mit zu untersuchen. âAlgen sind nicht nur eine Futterressource fĂŒr die Vertebratenâ, erlĂ€utert Bilous. Sie seien auch gute Indikatoren und Marker: Die Anwesenheit von bestimmten Algen kann Wissenschaftler:innen Hinweise auf die WasserqualitĂ€t und andere Eigenschaften des untersuchten Ăkosystems geben. âIch hoffe, dass meine Expertise fĂŒr das Projekt hilfreich ist.â
PlĂ€ne fĂŒr eine ungewisse Zukunft
Wie wird es nach den zwölf Monaten im FWF-Projekt weitergehen? Alle drei sind sich einig: Vorerst gibt es kein ZurĂŒck in ein Land, in dem Krieg herrscht. âIch will hierbleiben, bis es Frieden im ganzen Land gibt, auch auf der Krim und in den anderen besetzten Gebietenâ, sagt Bilous. Nach Möglichkeit wollen die Wissenschaftlerinnen auf den Kooperationen mit den Wiener Forschungsgruppen aufbauen und in Ăsterreich ihre Expertise einbringen. Um im Exil beruflich richtig FuĂ zu fassen, bemĂŒht sich Svitlana Pochepnia neben ihrer Forschungsarbeit derzeit um ihre Anerkennung als Ărztin. DafĂŒr mĂŒsse sie unter anderem ihre Deutschkenntnisse noch aufbessern, schmunzelt sie. Obwohl im Team fast nur Englisch gesprochen wird, ist Pochepnia zuversichtlich. Eine Deutsch-Lehrerin aus der Ukraine unterstĂŒtzt sie beim Lernen.
KrisenunterstĂŒtzung fĂŒr ukrainische Forschende