Die ukrainischen Wissenschaftlerinnen Svitlana Pochepnia, Olena Bilous und Julia Strikovska sind vor dem Krieg nach Wien geflohen. (v.l.) © Luiza Puiu/FWF

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022 setzte eine Fluchtbewegung ein: Millionen von Ukrainer:innen verließen ihr Heimatland, vor allem in Richtung Westen. Für manche waren Staaten wie Polen oder Österreich nur eine Transitstation vor der Weiterreise, andere bleiben auf unbestimmte Zeit. Darunter auch zahlreiche Forschende. Um ihnen zu helfen, hob der FWF kurzerhand ein Unterstützungsangebot aus der Taufe: Projektleiter:innen von bereits laufenden FWF-Projekten konnten einen Antrag stellen, um Geflüchtete oder Ukrainer:innen, die seit maximal zwei Jahren in Österreich sind, für zwölf Monate in ein Projekt aufzunehmen. Drei Fälle, die zeigen, wie reibungslos die Integration von Expertise gelingen kann.

Die Lunge lehren

Maschinen sind dem Menschen in vielen Dingen überlegen. In einem Bereich liegen sie allerdings noch meilenweit hinten: Sie sind wenig adaptiv. Während es für den Menschen kein Problem ist, einen Busch in Form eines Elefanten von einem echten Elefanten zu unterscheiden, stoßen Computer bei solchen Problemen schon mal an ihre Grenzen.

Ein Grund, weswegen Maschinen in der Medizin zwar breit zum Einsatz kommen, die Diagnose selbst aber immer noch in der Hand von Ärzt:innen liegt. Krankheiten sind komplex. Das weiß auch die Radiologin Svitlana Pochepnia. „Es ist nicht so, dass eine Krankheit auf einer Röntgen- oder MRT-Aufnahme immer gleich ausschaut“, sagt sie. „Es gibt Indizien, aber oft braucht es einen oder sogar mehrere erfahrene Blicke, um eine Diagnose zu stellen.“

Die Radiologin Svitlana Pochepnia arbeitete bis zum Ausbruch des Krieges an einer Privatklinik in Kiew. Schon davor hatte sie Kooperationen mit Fachkolleg:innen in Wien. Im Frühjahr 2022 ist sie nach Österreich zurückgekehrt. Sie rechnet damit, dass sie dieses Mal länger hier sein wird. © Luiza Puiu/FWF

Ein Weg, die Analysefähigkeit der Computer zu verbessern, ist Machine Learning. Ein einfaches Beispiel: Menschliche Ärzt:innen spielen Tausende Fotos von Muttermalen, die sie vorher in „problematisch/unproblematisch“ eingeteilt haben, in ein Programm ein. So lernt dieses Programm mit jedem Foto ein bisschen mehr, wie ein Muttermal aussieht, das einer genaueren Untersuchung bedarf. „Wir sind quasi Lehrer:innen für den Computer“, sagt Pochepnia. „Der Gedanke dahinter ist: Maschinen sollen die einfachen und klare Fälle bearbeiten, damit Ärzt:innen mehr Zeit für die komplizierten haben.“ Zeit ist auch allgemein ein Faktor: Eine frühe Diagnose verbessert in vielen Fällen die Prognose.

In Kiew hat Pochepnia als Radiologin in einer Privatklinik gearbeitet. Dort war sie nicht auf die Lunge spezialisiert. Also eigentlich nicht. „Die vergangenen drei Jahre haben alle Radiolog:innen zu Expert:innen für Lungenkrankheiten gemacht“, erzählt sie. Man habe einfach sehr viele Covid-19-Patient:innen behandeln müssen. Seit ihrer Flucht im Frühjahr ist Pochepnia Teil des Projekts „Detektion neu entstehender infektiöser Lungenkrankheiten“ am CIR Lab der Medizinischen Universität Wien. Dabei geht es – grob gesagt – um das automatische Erkennen von infektiösen Lungenkrankheiten mittels Machine Learning. Pochepnia arbeitet im medizinischen Teil, sprich, sie sichtet jeden Tag bis zu 200 echte Lungenröntgenaufnahmen und klassifiziert sie nach Krankheitsbildern. „In komplizierten Fällen stimme ich mich mit der Projektleitung ab, damit die Entscheidung mit vier Augen getroffen wird.“ Das Programm „lernt“ mit diesen Bildern dann in vielen, vielen Schritten, wie – in der Fachsprache würde man sagen: an welchen Markern – man einzelne infektiöse Lungenkrankheiten erkennen kann. Solche Programme sollen dann dauerhaft auch in der Lage sein, bisher unbekannte Marker und Muster zu finden und die Mediziner:innen auf neu entstehende Phänotypen oder sogar ganz neue Lungenkrankheiten aufmerksam machen. „Dann kann uns der Computer auch etwas beibringen“, meint Pochepnia lächelnd.

Ergebnisoffenes Taumeln

„Beruflich ist das für mich eigentlich ein Traum“, sagt Julia Strikovska. Die Möglichkeit, sich ohne Zwang zu Ergebnissen und Publikationen künstlerisch und theoretisch mit einem Thema beschäftigen zu können, sei eine großartige Chance. „Auch wenn der Grund für meinen Aufenthalt in Wien kein schöner ist.“

Strikovska kommt aus Kiew. Sie ist ausgebildete Anwältin und hat in der Ukraine insbesondere im Bereich des Wirtschaftsrechts gearbeitet. Daneben ist sie seit über einem Jahrzehnt Künstlerin. Die Kombination wirkt auf den ersten Blick von außen seltsam, für Strikovska ergibt sie aber Sinn. „Das Recht ist eine Möglichkeit, soziale Beziehungen zu regeln und zu kodifizieren“, sagt sie. „Auch Kunst ist letztlich eine Möglichkeit, miteinander in einem sozialen Gefüge zu kommunizieren.“

Julia Strikovska ist eine Künstlerin, Kuratorin und Juristin aus Kiew. Im März 2022 flüchtete sie vor dem Angriffskrieg auf ihr Heimtland nach Wien, wo sie ihre interdisziplinären Erfahrungen in ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt über Taumel einbringt. © Luiza Puiu/FWF

Seit Anfang Mai ist Strikovska Mitarbeiterin im Projekt „Navigating Dizziness Together“, dem Nachfolgeprojekt von „Dizziness – A Resource“, an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. In der zusammenhängenden Projektreihe geht es um den Taumel als Phänomen: als Ressource für künstlerisches Schaffen ebenso wie als Einfluss auf den Menschen im Alltag. „Der Ansatz ist sehr weit gefasst“, erklärt Strikovska. „Es fängt mit einem physischen Zustand an – also taumelnden, fallenden Körpern –, erforscht das Phänomen aber auch in einem sozialen und politischen Kontext.“ Ein ganzheitlicher Blick auf den Schwindel also.

Das Projekt ist in der Abteilung „Art and Research“ der Angewandten angesiedelt. Es ist also kein Projekt mit dem Ziel, angewandte Kunst herzustellen, sondern ein Forschungsprojekt. Künstlerische Forschung ist nur bedingt vergleichbar mit Forschung in anderen Disziplinen. Sie ist freier, weniger starr. Der klassische Ablauf – Hypothesen generieren, sie empirisch abtesten und eventuell falsifizieren – kommt nicht zur Anwendung. Stattdessen werden inter- und transdisziplinär theoretische Rahmengebäude entwickelt, Begriffe aus ungewöhnlicher Perspektive interpretiert und es wird nach Wegen gesucht, die entstehenden Irritationen produktiv zu nutzen. Spezialist:innen aus verschiedensten Gebieten arbeiten zusammen und bringen ihre Perspektive ein. „In meinem Fall versuche ich, die Bereiche Kunst, Wirtschaft und Recht zusammenzubringen“, sagt Strikovska. Das sei nicht einfach, aber das Projekt sei für alle möglichen Ergebnisse offen. „Das ist das Tolle daran: Ich kann heute auch noch nicht sagen, was dabei herauskommen wird.“

Algen in den Donauauen

„Meine Expertise sind Algen“, sagt Olena Bilous, „ihre Taxonomie, ihre Ökologie, ihre Lebensräume.“ Aus der Sicht eines Laien mag das Forschungsfeld der Hydrobiologie unspektakulär erscheinen. Aber eigentlich fängt quasi alles mit der Alge an, zumindest im Wasser. „Algen sind die Basis für Ökosysteme“, so Bilous. Sie betreiben Photosynthese und stehen damit am Anfang der Nahrungskette.

Das Projekt „eDNA Analyse von Vertebraten Metacommunities in Flussauen“ (RIMECO) an der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), an dem Bilous mitarbeitet, basiert auf dem Konzept von Metagemeinschaften und deren Dynamik. Lokale Gemeinschaften in einem Habitat stehen mit Gemeinschaften in anderen Habitaten in einem Austausch. Es reicht also nicht, sich nur anzusehen, wie eine Gemeinschaft auf Änderungen der lokalen Umweltbedingungen reagiert, auch die Konnektivität zwischen Habitaten spielt für die Verbreitung von Arten eine Rolle. Die Einbeziehung der Algen ermöglicht, neben Umweltänderungen auch Interaktionen zwischen Organismengruppen zu betrachten. Das Projekt am Institut für Hydrobiologie und Gewässermanagement fügt mit dem Faktor Zeit eine weitere Komponente hinzu: Wie entwickeln sich die Metagemeinschaft und ihre Umwelt im zeitlichen Verlauf?

Die Hydrobiologin Olena Bilous forscht seit 2009 an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine in Kiew. Seit dem Frühjahr 2022 ist sie in Wien, wo ihr der Ukraine-Support des FWF ermöglichte, ihre wissenschaftliche Arbeit temporär fortzuführen. © Luiza Puiu/FWF

„Es ist spannend, weil ich noch nie in einem Nationalpark gearbeitet habe“, sagt Bilous. Das Projekt umfasst auch Arbeit im Feld: Regelmäßig erkunden die Wissenschaftler:innen mit dem Boot oder zu Fuß den Nationalpark Donauauen und nehmen Proben, die später im Labor analysiert werden. Diese Arbeitsweise ist der Hydrobiologin nicht fremd: In Kiew erforschte sie Flüsse und war dafür auch häufig draußen im Feld.

Algen sind eine große kollektive Gruppe von Organismen, die mehr als 45.000 Arten umfasst. Es handelt sich demnach nicht um eine einzelne, eng verwandte taxonomische Gruppe, sondern um eine Organismengruppe mit der gleichen Lebensweise. „Zu den Algen gehören traditionell zum Beispiel auch „Cyanobakterien“, so Bilous. Dies sind prokaryotische Organismen (also ohne definierten Zellkern), von denen bekannt ist, dass sie auch Lebensräume mit extremen Umweltbedingungen besiedeln.

Das vom FWF geförderte Projekt RIMECO konzentriert sich eigentlich auf Fische und Amphibien. Aber ganzheitlich betrachtet macht es natürlich Sinn, auch die Algen mit zu untersuchen. „Algen sind nicht nur eine Futterressource für die Vertebraten“, erläutert Bilous. Sie seien auch gute Indikatoren und Marker: Die Anwesenheit von bestimmten Algen kann Wissenschaftler:innen Hinweise auf die Wasserqualität und andere Eigenschaften des untersuchten Ökosystems geben. „Ich hoffe, dass meine Expertise für das Projekt hilfreich ist.“

Pläne für eine ungewisse Zukunft

Wie wird es nach den zwölf Monaten im FWF-Projekt weitergehen? Alle drei sind sich einig: Vorerst gibt es kein Zurück in ein Land, in dem Krieg herrscht. „Ich will hierbleiben, bis es Frieden im ganzen Land gibt, auch auf der Krim und in den anderen besetzten Gebieten“, sagt Bilous. Nach Möglichkeit wollen die Wissenschaftlerinnen auf den Kooperationen mit den Wiener Forschungsgruppen aufbauen und in Österreich ihre Expertise einbringen. Um im Exil beruflich richtig Fuß zu fassen, bemüht sich Svitlana Pochepnia neben ihrer Forschungsarbeit derzeit um ihre Anerkennung als Ärztin. Dafür müsse sie unter anderem ihre Deutschkenntnisse noch aufbessern, schmunzelt sie. Obwohl im Team fast nur Englisch gesprochen wird, ist Pochepnia zuversichtlich. Eine Deutsch-Lehrerin aus der Ukraine unterstützt sie beim Lernen.


Krisenunterstützung für ukrainische Forschende