Soziologie als Schulfach würde den Kindern helfen, Zusammenhänge zu sehen, ist die Soziologin Hilde Weiss überzeugt. © H. Weiss

„Was ist eine gute, integrierte Gesellschaft? Welchen Rahmen für die Gesellschaft benötigen wir? Wo sind die großen gesellschaftlichen Probleme und welche Lösungen gibt es?“ Das sind jene großen Fragen, mit denen sich Hilde Weiss schon lange beschäftigt. Deshalb entschied sich die Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien nach ihrer Schulzeit für ebendiese Fachrichtung. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit hat Hilde Weiss den Fokus auf Themen wie Ethnische Minderheiten, Migration, Antisemitismus, nationale Stereotype und politische Soziologie gerichtet. Erst vor kurzem konnte sie das vom FWF geförderte Forschungsprojekt „Religiöse Orientierungen und Lebensstile von Muslimen im Generationenwandel“ abschließen. Dabei führte sie mit insgesamt 400 Eltern-Kind-Paaren sogenannte Familiengespräche. Wobei die Eltern nicht in Österreich geboren wurden, und die Kinder ab sechs Jahren eine österreichische Schule besucht hatten.

Deutlicher Wertewandel

Religiosität wird bei Migrantinnen und Migranten – insbesondere unter Musliminnen und Muslimen – im Vergleich zum säkularen Mainstream der österreichischen Jugend stark weitergegeben. Überrascht hat Hilde Weiss, dass es einen großen Wandel zwischen den Generationen bei Normen wie der Gleichberechtigung der Geschlechter gibt. „Dass Frauen ein Recht auf Bildung haben und Männer sich zuhause engagieren, darüber besteht Konsens“, nennt die Soziologin ein Beispiel. „Männer sind zwar insgesamt konservativer als Frauen aber es gibt einen deutlichen Wertewandel zu den noch konservativeren Vätern. Was andere Normen anbelangt, wie die Einstellung zu Sexualität, ist der Wandel nicht so stark. Da finden wir ein Sexual- und Moralbild wie im Österreich der 1950er Jahre“, schildert die Soziologin ihre Forschungsergebnisse.

Privat reist die Soziologin gerne. „Immer studentisch, was auch zum Fach passt, damit man sieht, wie die Menschen leben“. Die Armut, die Weiss dabei sieht, schockiert sie immer wieder. © Hilde Weiss

Vielseitigkeit der Soziologie

In einem Wiener Mädchengymnasium genoss die heute 66-Jährige sehr guten humanistischen Unterricht, in dem viele politische und gesellschaftliche Themen diskutiert wurden. Das bildete die Basis für ihr Interesse an jenen Fragen, die sie schließlich auch zur Soziologie geführt haben. Von dem umfassenden Curriculum habe sie sehr profitiert, betont Weiss. Damals musste sie für ihr Diplom Prüfungen bei Juristen und Ökonomen ablegen. „Ich weiß, welche Bedeutung die in der Verfassung festgeschriebenen Grundnormen für eine Gesellschaft haben, und was eine keynesianische Wirtschaftspolitik bedeutet“, erläutert sie. Diese Vielfalt vermisst die Soziologin heute. „Durch die neue Aufstellung der Fakultät haben sich die Disziplinen voneinander abgeschottet“, erklärt Hilde Weiss. Ökonomie ist heute beispielsweise nur mehr ein Wahlfach. Aus ihrer Sicht ist die Soziologie zu wenig abgegrenzt von der Ethnografie. „In der Soziologie haben wir ein viel breiteres Methodenspektrum. Keine Methode sagt alles.“ Außerdem wünscht sich die Soziologin mehr nationenspezifischeForschung.

„Man muss über den Tellerrand Europas hinaussehen. Wir haben Kriegsgebiete rundum", sagt Hilde Weiss. © Shutterstock.com/Thomas Koch

Politische Bildung

Spezifisch österreichische Themen sieht Hilde Weiss in Demokratieskepsis und Demokratieverdrossenheit. „Aus meiner Sicht zieht sich durch die österreichische Geschichte das Erbe, als kollektive Problembewältigungsstrategie immer Feindbilder zu schaffen“. Eine der Ursachen für die Demokratieverdrossenheit sieht sie darin, dass „politische Bildung“ ausgedünnt worden ist. „Soziologie gehört bereits in die Hauptschulen und Gymnasien damit die Schüler lernen, Zusammenhänge zu sehen. Es gibt viele Erkenntnisse. Die sollten in die Bildung Eingang finden“, fordert Weiss. Als wichtigste Themen für einen solchen Unterricht sieht Hilde Weiss Fragen wie: Was ist der Wert der Demokratie und warum wollen wir keine Leader und einfachen Programme? Warum lässt sich Gesellschaft nicht einfach erklären? Was bedeutet Ungleichheit, und was sind ihre Folgen? Wann ist eine Gesellschaft eine gute Gesellschaft? „Eine gute Gesellschaft ist zum Beispiel eine mit möglichst wenig Kriminalität, wenigen Gefängnissen, wenigen physischen und psychischen Erkrankungen. Bei diesen Faktoren liegt die skandinavische Gesellschaft ganz weit oben, die USA unten und Österreich im oberen Mittelfeld“, erklärt Weiss.

„Feld der Kämpfe“

Der Weg in die Wissenschaft war für die Professorin ein ganz logischer. Zielstrebig ist sie ihrer Forschung nachgegangen, war immer inhaltlich, niemals karriereorientiert. „Die Karriere hat sich ergeben. Dass dann die eine oder andere Stelle kam, war Zufall“. Der FWF spielte dabei eine Schlüsselrolle. „Auch weil er der renommierteste Forschungsförderungsfonds ist, den ich kenne, mit dem transparentesten Entscheidungsverfahren“, so die Wissenschafterin. Was man in der Wissenschaft, auf dem „Feld der Kämpfe“ braucht? „Disziplin, Kampftauglichkeit und eine dicke Haut, denn man wird permanent kritisiert“, reflektiert Hilde Weiss. Für sie ist ihre Arbeit auch Leidenschaft. Deshalb tun ihr Studierende heute leid. „Sie können sich nicht in ihre Arbeit vertiefen, sondern müssen schnell Ergebnisse liefern. Die Fristen werden immer kürzer. Die existenzielle Unsicherheit ist gewachsen. Dieses Umsatzdenken schadet den Wissenschaften“, bedauert die Soziologin.


Hilde Weiss ist Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien. In ihren Forschungsprojekten beschäftigt sie sich mit aktuellen Themen wie der Integration ausländischer Jugendlicher an österreichischen Schulen, Stereotypen ethnischer Gruppen in Österreich, Antisemitismus, Konfliktwahrnehmung und Gerechtigkeitsvorstellungen in sozialen Milieus sowie der Armutsentwicklung in Österreich.  


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Buchtipp: Hilde Weiss: Leben in zwei Welten, Springer Verlag 2007
FWF-Projekt Leben in zwei Welten - Ausländerkinder der zweiten Generation, 2003