Ab 1938 wurden jüdische Bibliotheken und Sammlungen systematisch beschlagnahmt und teilweise in den Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek aufgenommen. Hier werden Bücher aus dem Prunksaal in Schutzräume gebracht, um sie vor den Luftangriffen der Alliierten zu sichern. © Österreichische Nationalbibliothek

„Uns wird jetzt nach drei Jahren bewusst, wie groß das Feld ist, das wir aufgemacht haben und wie wenig wir darüber wussten“, erzählt Larisa Schippel. Die Wissenschaftlerin der Universität Wien hat sich die vergangenen drei Jahre intensiv mit einem dunklen und vergessenen Kapitel der NS-Geschichte beschäftigt. Gemeinsam mit den Universitäten Lausanne und Mainz/Germersheim initiierte Schippel mit einem Team in Wien das Projekt Exil:Trans. Es widmet sich dem Schicksal und Wirken von durch den Nationalsozialismus verfolgten und ins Exil vertriebenen Übersetzer:innen.

Viele Vorarbeiten und eine Reihe von Anknüpfungspunkten rund um das Thema hatten das Forschungsinteresse der drei Projektteams geweckt. Ein auslösendes Moment sollte vor Jahren eine „Lange Nacht der Wissenschaften“ in Berlin werden, wie Schippel erzählt. Sie fiel mit dem 75. Jahrestag der großen Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 zusammen. „Aus diesem Anlass veranstalteten wir eine Lesung aus Übersetzungen von namhaften Autor:innen, die neben den deutschen Schriftsteller:innen auf dem Scheiterhaufen landeten, darunter Jack London, John Dos Passos, Henri Barbusse und viele russische Autor:innen. Wir fragten uns, was aus den Übersetzer:innen geworden ist.“

Öffentliche Onlinedatenbank bündelt Ergebnisse

Seither ist viel passiert, Drittmittel wurden erfolgreich in Österreich, Deutschland und der Schweiz eingeworben, die jeweiligen Teams verteilten ihre Schwerpunkte auf unterschiedliche Räume und Tätigkeitsfelder und 2019 startete das erste gemeinsame Forschungsprojekt. In Mainz und Lausanne liegt der Fokus auf literarischen Übersetzungen und Archiven – die meisten der ohnehin wenigen Übersetzer:innennachlässe gibt es in der Schweiz – in Wien richtet man den Blick auf wissenschaftliche Übersetzungen. Inzwischen wurden etliche Studienergebnisse publiziert, der erste von drei Bänden liegt vor – mit Porträts zu einzelnen ausgewählten Übersetzer:innen sowie den Bibliografien ihres übersetzerischen Werks, die sukzessive in der Digital Library and Bibliography of Literature in Translation an der Universität Wien wie auch im Germersheimer Übersetzerlexikon veröffentlicht werden. Vor Kurzem ist außerdem die frei zugängliche Exil:Trans-Datenbank online gegangen, in der man Informationen zu den Biografien, den übersetzerischen Tätigkeiten und zu den oft über viele Stationen zurückgelegten Exilwegen der Übersetzer:innen findet.

Wer waren die Übersetzer:innen, die in die Flucht getrieben wurden und wohin führten ihre Wege? Eine Datenbank liefert Informationen zu den Biografien, Arbeiten und verzweigten Exilwegen der Betroffenen. Die neu erhobenen Forschungsdaten sind frei zugänglich. © exiltrans.univie.ac.at/Screenshot

Aufwendige biografische Recherchen

Alle diese Daten trugen die Forschenden in mühsamer Kleinarbeit zusammen. Gesucht wurde in Archiven von Moskau bis New York. Auch in den Sperrlisten des NS-Regimes wurden die Forschenden fündig. Manchmal half der Zufall weiter, ein Kontakt hier, ein Name dort, Hinterbliebene wurden ausfindig gemacht, wie im Fall von Harry Zohn. Der Literaturhistoriker floh 1938 von Wien über London nach Boston und übersetzte u. a. Texte von Karl Kraus, Walter Benjamin und Martin Buber ins Englische. „Die Schwierigkeit ist“, sagt Schippel, „dass Translation und alles, was damit zusammenhängt, kein Archivgegenstand ist. Wir müssen uns also quer zur Archivstruktur durcharbeiten.“ Doch das ändert sich langsam ebenfalls. Mittlerweile richtet auch das Literaturarchiv in Marbach seinen Blick auf Übersetzer:innen und ihre Nachlässe.

Sprachkenntnisse als Überlebensvorteil

Generell fehlt das Bewusstsein für die Bedeutung der Übersetzer:innen zum Teil bis heute, auch wenn sich vieles zum Besseren gewendet hat. Oft leben die Menschen in diesem Berufsfeld prekär, mit vielen verschiedenen Tätigkeiten. Und wenngleich die Arbeit als Übersetzer:in im Exil unter Extremsituationen erfolgte, zeigt sie gleichzeitig auf, was Translation im Allgemeinen ausmacht. Sie hängt von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ab und wirkt in die unterschiedlichsten Bereiche hinein. Gerade im Exil waren Übersetzer:innen gefragt, sei es beim Rundfunk, in der Wissenschaft, im Geheimdienst oder bei Behörden. Manche begannen überhaupt erst im Exil als Übersetzer:innen zu arbeiten, ihre Mehrsprachigkeit hatte also Vorteile. Andere wiederum begannen ihre übersetzerische Tätigkeit nach dem Exil. Schon der Weg ins Exil ist mit allerlei translatorischen Tätigkeiten verbunden, beginnend bei der Übersetzung der notwendigen Dokumente, bei der Ankunft im Exilland oder den verschiedenen Exilstationen, in den Internierungslagern, wo viele Emigrant:innen bei Kriegsausbruch landeten. „Exil heißt wirklich Translation, Übersetzen oder auch Übersetzt-Werden, Dolmetschen und Gedolmetscht-Werden“, betont Schippel.

Exilverlage in der Schweiz und der Sowjetunion

Allerdings hatten es literarische Übersetzer:innen (ins Deutsche) laut der Wissenschaftlerin besonders schwer, im Exilland Fuß zu fassen. „Das setzte einen Sprachenwechsel voraus und eine gute Vernetzung vor Ort.“ Das sei nur eingeschränkt über Exilverlage gelungen. Einfacher war es in jenen Ländern, in denen es große deutsche Minderheitengruppen gab, mit eigener Verlagslandschaft und Struktur, so wie zum Beispiel in der Sowjetunion. Dort gab es literarisches Übersetzen in das Deutsche in einem nennenswerten Umfang. Auch in der Schweiz und den dortigen Exilverlagen konnten sich Geflüchtete etablieren. Lucy von Jacobi beispielsweise war dort eine Übersetzerin ins Deutsche, die zunächst aus dem Französischen, später auch aus dem Englischen übersetzte, trotz der prekären Verhältnissen ohne Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltsstatus.

Forschungslücken schließen

Die interdisziplinäre Exilforschung wie auch die einzelnen wissenschaftshistorischen Arbeiten haben hier bereits viel geleistet. Dass ihr Blick nicht mehr nur zufällig auf die Übersetzer:innen fällt, dazu hat das Projekt Exil:Trans wesentlich beigetragen. Erschöpft ist das Thema jedoch noch lange nicht. Die Projektteams haben bereits ein Folgeprojekt geplant, um das Wirken der Übersetzer:innen über die Zeit der NS-Diktatur hinaus zu verfolgen und die Bedeutung des Übersetzens in der Öffentlichkeit zu heben.


Zur Person

Larisa Schippel ist Translationswissenschaftlerin, Linguistin und Übersetzerin. In Deutschland absolvierte sie ein Übersetzerstudium für Russisch und Rumänisch und forschte an der Humboldt-Universität. Ab 2010 war die inzwischen emeritierte Wissenschaftlerin als Universitätsprofessorin für Transkulturelle Kommunikation am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien tätig. Das D-A-CH-Forschungsprojekt „Exil:Trans – Leben und Arbeit verfolgter ÜbersetzerInnen“ (2019–2023) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 387.000 Euro kofinanziert.


Publikationen

Tashinskiy A., Boguna J., Rozmysłowicz T. (Hg.): Translation und Exil (1933–1945): Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens, Bd. I, Frank & Timme 2022

Dietiker P., Rougemont M., Weber-Henking I. (Hg.): Translation und Exil (1933–1945) II. Netzwerke des Exils. (im Druck, Frank & Timme)

Kremmel St., Richter J., Schippel L., unter Mitarbeit von Tomasz Rozmysłowicz (Hg.): Österreichische Übersetzerinnen und Übersetzer im Exil. Wien: nap 2020