Mann auf Baustelle.
Unter anderem am Bau kommen viele Arbeitnehmer/innen aus der EU fĂŒr begrenzte Zeit ins Land. Das hat vielfach Sozialdumping am Arbeitsmarkt zur Folge. © Anthony Fomin/unsplash

Alle EU-BĂŒrgerinnen und -BĂŒrger haben das Recht, in einem anderen EU-Land zu leben und zu arbeiten. Gerade mit der Osterweiterung ist diesem Recht auf FreizĂŒgigkeit – eine der wesentlichen Errungenschaften der EuropĂ€ischen Union – auch viel Kritik zuteil geworden. Die Arbeitsmigration aus den „BilliglohnlĂ€ndern“ ermögliche demnach eine Unterminierung der Sozialstandards fĂŒr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sei Ausdruck einer zu wirtschaftsliberalen Schlagseite der Gemeinschaft. Die Übergangsfristen, die zum Schutz der ArbeitsmĂ€rkte der alten EU-LĂ€nder installiert wurden, hĂ€tten letztendlich nur ungenĂŒgenden Schutz geboten. Union und Mitgliedstaaten bemĂŒhen sich deshalb um Nachjustierungen in diesem Bereich, um Sozialdumping durch ScheinselbststĂ€ndigkeit, Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und marginale BeschĂ€ftigungsverhĂ€ltnisse einzudĂ€mmen. 2018 wurde beispielsweise eine dahingehende Neuauflage der EU-Entsenderichtlinie beschlossen, die spĂ€testens mit Juli 2020 in nationales Recht umgesetzt sein muss. „Die Gesetzgeber stehen bei diesen Maßnahmen vor der Herausforderung, FreizĂŒgigkeit und sozialen Schutz gegeneinander abzuwĂ€gen und auszubalancieren“, betont Michael Blauberger, Professor fĂŒr Politik der EuropĂ€ischen Union an der UniversitĂ€t Salzburg.

Soziale Kompromisse im Binnenmarkt

Im Projekt „Rebalancing the enlarged single market“ (RESiM) unterziehen der Politikwissenschaftler und sein Team die neuen sozialen Kompromisse, die die anhaltende HeterogenitĂ€t innerhalb des gemeinsamen Markts notwendig machen, einer eingehenden Analyse. Gemeinsam mit Kolleginnen des Instituts fĂŒr Interkulturelle und Internationale Studien der UniversitĂ€t Bremen wird die Situation in fĂŒnf LĂ€ndern – Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen und Slowenien – unter die Lupe genommen. Der Fokus liegt dabei auf drei wirtschaftlichen Sektoren, die von atypischen BeschĂ€ftigungsmodellen geprĂ€gt sind: der Transportwirtschaft, der 24-Stunden-Pflege und der Fleischindustrie – Bereiche, die auch im Zuge der Corona-Krise verstĂ€rkt in den Blickpunkt gerieten.

Debatte um 24-Stunden-Pflege

Gerade die auslĂ€ndischen PflegekrĂ€fte, die alte Menschen rund um die Uhr versorgen, wurden zum Dauerbrenner in der Debatte um die EU-Arbeitsmigration. „Hier ist etwa interessant, dass die 24-Stunden-Pflege in Deutschland und in Österreich sehr unterschiedlich organisiert ist –, aber schlussendlich zu Ă€hnlichen Ergebnissen fĂŒr die betroffenen PflegekrĂ€fte fĂŒhrt“, gibt Anita Heindlmaier, die als Postdoktorandin an der Uni Salzburg mit Blauberger im Projekt arbeitet, ein Beispiel fĂŒr nationale Spielarten der Problematik. In Österreich werde demnach die Arbeit ĂŒber Agenturen vermittelt, die PflegekrĂ€fte sind formal selbststĂ€ndig – was viele Möglichkeiten fĂŒr die Unterminierung von sozialen Mindeststandards birgt. „Es gibt keine gewerkschaftliche ReprĂ€sentation, sondern Agenturen wie PflegekrĂ€fte werden von der Wirtschaftskammer vertreten“, erlĂ€utert Heindlmaier. Die in Deutschland tĂ€tigen PflegekrĂ€fte sind dagegen meist Angestellte polnischer Agenturen, von denen sie in das Nachbarland entsendet werden. „Damit gilt nicht deutsches, sondern polnisches Sozialrecht, was fĂŒr eine Arbeit in Deutschland mit entsprechenden Nachteilen verbunden ist. Auch bei Löhnen sind die Personen benachteiligt; oft werden VertrĂ€ge konstruiert, bei welchen die Entlohnung nicht dem Mindestlohn entspricht“, erklĂ€rt die Politikwissenschaftlerin.

EuropÀischer Gerichtshof und politische Gesetzgebung

Auf politischer Ebene sind die verschiedenen Formen der Arbeitsmigration lĂ€ngst ein Kampfplatz, sei es beim Export von Familienbeihilfe ins EU-Ausland, der in Österreich polarisiert, oder bei den polnischen ArbeitskrĂ€ften in Großbritannien, die als Argument fĂŒr den EU-Austritt herhalten mussten. WĂ€hrend Ă€hnliche Studien auf die Gesetzgebungsprozesse in diesem Bereich abzielen, ist die Perspektive des RESiM-Projekts breiter gefasst. „Von anderen Projekten hebt uns ab, dass wir uns mit der Politik auch die Rechtsprechung des EuropĂ€ischen Gerichtshofs (EuGH) ansehen, von der sie geprĂ€gt ist“, erklĂ€rt Blauberger. Der EuGH trifft in seinen Urteilen oft wichtige Vorentscheidungen, die die Arbeitsmarktintegration wesentlich beeinflussen. Zu den bekanntesten Entscheiden gehören etwa die FĂ€lle Viking und Laval, die das Recht auf gewerkschaftliche Kollektivmaßnahmen in FĂ€llen von lettischen und estnischen Bau- und Schiffsarbeiterinnen und -arbeitern in Schweden und Finnland verhandelten. Hier hat der EuGH das Grundrecht zu Kollektivmaßnahmen zum Schutz vor Sozialdumping zwar anerkannt, die AusĂŒbung dieses Rechts allerdings EinschrĂ€nkungen unterworfen.

Kooperation zwischen nationalen Verwaltungen gefragt

Zur Legislative und Judikative kommt die Exekutive: „Als dritte SphĂ€re untersuchen wir, wie die Richtlinien in den nationalen Verwaltungen umgesetzt werden – was von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfallen kann“, ergĂ€nzt Blauberger. Als etwa eine umfassende Dokumentierung eingefĂŒhrt wurde, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Entsendungen entsprechend auszuweisen, stieg der Verwaltungsaufwand fĂŒr Betriebe, die alles richtig machen wollten, enorm. FĂ€lschungen hĂ€ufen sich. „Eine bessere Kontrolle wĂŒrde eine grenzĂŒbergreifende Kooperationen von Behörden notwendig machen, die aber schwierig umsetzbar ist“, erklĂ€rt Heindlmaier. „Hoffnungen liegen hier auf der 2019 gegrĂŒndeten EuropĂ€ischen Arbeitsmarktbehörde ELA, die aber nur langsam in die GĂ€nge kommt.“ Auch die UmstĂ€nde der Entstehung dieser neuen EU-Agentur sind Gegenstand des Forschungsprojekts. In ihrer empirisch-analytischen Forschung des Zusammenwirkens der drei Regierungsgewalten auf EU- und nationaler Ebene sollen die Mechanismen von Sozialdumping und Ausbeutung offenbar werden. Ergebnisse könnten als Grundlage fĂŒr zukĂŒnftige Maßnahmen in diesem Bereich dienen. FĂŒr Heindlmaier wird die Regulierung von Entsendung, ScheinselbststĂ€ndigkeit & Co nur allzu oft zum Katz- und Maus-Spiel: „Schiebt man einer Form des Sozialdumpings einen Riegel vor, weicht man in der Praxis auf eine neue Form aus.“


Zu den Personen Michael Blauberger befasst sich als Professor fĂŒr die Politik der EuropĂ€ischen Union an der UniversitĂ€t Salzburg mit den Fragen der EU-Integration und der Bedeutung von EU-Recht und Rechtsstaatlichkeit fĂŒr diesen Prozess. Das dreijĂ€hrige Forschungsprojekt „Rebalancing the enlarged single market“ (RESiM) ist ein transnationales Projekt der UniversitĂ€t Salzburg und der UniversitĂ€t Bremen, gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG. Neben Projektmitarbeiterin Anita Heindlmaier (Postdoktorandin) arbeitet auch Carina Kobler, Doktorandin an der Uni Salzburg, als affiliierte Mitarbeiterin am Projekt mit.


Publikationen

Heindlmaier, Anita; Blauberger, Michael: Free Movement of EU Citizens between Law and Politics, in: Paul James Cardwell; Marie-Pierre Granger (Hrsg.): Research Handbook on the Politics of EU Law. Cheltenham: Edward Elgar Publishing, S. 163-180, 2020
Blauberger, Michael; Heindlmaier, Anita; Kobler, Carina: Free Movement of Workers Under Challenge: the Indexation of Family Benefits, in: Comparative European Politics, 2020
Heindlmaier, Anita: Mobile EU Citizens and the "Unreasonable Burden”: How EU Member States Deal with Residence Rights at the Street Level, in: EU Citizenship and Free Movement Rights. Taking Supranational Citizenship Seriously. Leiden: Brill, S. 129-154, 2020
Heindlmaier, Anita: “Social Citizenship" at the Street Level? EU Member State Administrations Setting a Firewall, in: Journal of Common Market Studies, 2020
Lubow, Alexis; Schmidt, Susanne: A hidden champion? The European Court of Justice as an agenda‐setter in the case of posted workers, in: Public Administration, 2019