EU-Arbeitsmigration ohne Sozialdumping
Alle EU-Bürgerinnen und -Bürger haben das Recht, in einem anderen EU-Land zu leben und zu arbeiten. Gerade mit der Osterweiterung ist diesem Recht auf Freizügigkeit – eine der wesentlichen Errungenschaften der Europäischen Union – auch viel Kritik zuteil geworden. Die Arbeitsmigration aus den „Billiglohnländern“ ermögliche demnach eine Unterminierung der Sozialstandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sei Ausdruck einer zu wirtschaftsliberalen Schlagseite der Gemeinschaft. Die Übergangsfristen, die zum Schutz der Arbeitsmärkte der alten EU-Länder installiert wurden, hätten letztendlich nur ungenügenden Schutz geboten. Union und Mitgliedstaaten bemühen sich deshalb um Nachjustierungen in diesem Bereich, um Sozialdumping durch Scheinselbstständigkeit, Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und marginale Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen. 2018 wurde beispielsweise eine dahingehende Neuauflage der EU-Entsenderichtlinie beschlossen, die spätestens mit Juli 2020 in nationales Recht umgesetzt sein muss. „Die Gesetzgeber stehen bei diesen Maßnahmen vor der Herausforderung, Freizügigkeit und sozialen Schutz gegeneinander abzuwägen und auszubalancieren“, betont Michael Blauberger, Professor für Politik der Europäischen Union an der Universität Salzburg.
Soziale Kompromisse im Binnenmarkt
Im Projekt „Rebalancing the enlarged single market“ (RESiM) unterziehen der Politikwissenschaftler und sein Team die neuen sozialen Kompromisse, die die anhaltende Heterogenität innerhalb des gemeinsamen Markts notwendig machen, einer eingehenden Analyse. Gemeinsam mit Kolleginnen des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen wird die Situation in fünf Ländern – Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen und Slowenien – unter die Lupe genommen. Der Fokus liegt dabei auf drei wirtschaftlichen Sektoren, die von atypischen Beschäftigungsmodellen geprägt sind: der Transportwirtschaft, der 24-Stunden-Pflege und der Fleischindustrie – Bereiche, die auch im Zuge der Corona-Krise verstärkt in den Blickpunkt gerieten.
Debatte um 24-Stunden-Pflege
Gerade die ausländischen Pflegekräfte, die alte Menschen rund um die Uhr versorgen, wurden zum Dauerbrenner in der Debatte um die EU-Arbeitsmigration. „Hier ist etwa interessant, dass die 24-Stunden-Pflege in Deutschland und in Österreich sehr unterschiedlich organisiert ist –, aber schlussendlich zu ähnlichen Ergebnissen für die betroffenen Pflegekräfte führt“, gibt Anita Heindlmaier, die als Postdoktorandin an der Uni Salzburg mit Blauberger im Projekt arbeitet, ein Beispiel für nationale Spielarten der Problematik. In Österreich werde demnach die Arbeit über Agenturen vermittelt, die Pflegekräfte sind formal selbstständig – was viele Möglichkeiten für die Unterminierung von sozialen Mindeststandards birgt. „Es gibt keine gewerkschaftliche Repräsentation, sondern Agenturen wie Pflegekräfte werden von der Wirtschaftskammer vertreten“, erläutert Heindlmaier. Die in Deutschland tätigen Pflegekräfte sind dagegen meist Angestellte polnischer Agenturen, von denen sie in das Nachbarland entsendet werden. „Damit gilt nicht deutsches, sondern polnisches Sozialrecht, was für eine Arbeit in Deutschland mit entsprechenden Nachteilen verbunden ist. Auch bei Löhnen sind die Personen benachteiligt; oft werden Verträge konstruiert, bei welchen die Entlohnung nicht dem Mindestlohn entspricht“, erklärt die Politikwissenschaftlerin.
Europäischer Gerichtshof und politische Gesetzgebung
Auf politischer Ebene sind die verschiedenen Formen der Arbeitsmigration längst ein Kampfplatz, sei es beim Export von Familienbeihilfe ins EU-Ausland, der in Österreich polarisiert, oder bei den polnischen Arbeitskräften in Großbritannien, die als Argument für den EU-Austritt herhalten mussten. Während ähnliche Studien auf die Gesetzgebungsprozesse in diesem Bereich abzielen, ist die Perspektive des RESiM-Projekts breiter gefasst. „Von anderen Projekten hebt uns ab, dass wir uns mit der Politik auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ansehen, von der sie geprägt ist“, erklärt Blauberger. Der EuGH trifft in seinen Urteilen oft wichtige Vorentscheidungen, die die Arbeitsmarktintegration wesentlich beeinflussen. Zu den bekanntesten Entscheiden gehören etwa die Fälle Viking und Laval, die das Recht auf gewerkschaftliche Kollektivmaßnahmen in Fällen von lettischen und estnischen Bau- und Schiffsarbeiterinnen und -arbeitern in Schweden und Finnland verhandelten. Hier hat der EuGH das Grundrecht zu Kollektivmaßnahmen zum Schutz vor Sozialdumping zwar anerkannt, die Ausübung dieses Rechts allerdings Einschränkungen unterworfen.
Kooperation zwischen nationalen Verwaltungen gefragt
Zur Legislative und Judikative kommt die Exekutive: „Als dritte Sphäre untersuchen wir, wie die Richtlinien in den nationalen Verwaltungen umgesetzt werden – was von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfallen kann“, ergänzt Blauberger. Als etwa eine umfassende Dokumentierung eingeführt wurde, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Entsendungen entsprechend auszuweisen, stieg der Verwaltungsaufwand für Betriebe, die alles richtig machen wollten, enorm. Fälschungen häufen sich. „Eine bessere Kontrolle würde eine grenzübergreifende Kooperationen von Behörden notwendig machen, die aber schwierig umsetzbar ist“, erklärt Heindlmaier. „Hoffnungen liegen hier auf der 2019 gegründeten Europäischen Arbeitsmarktbehörde ELA, die aber nur langsam in die Gänge kommt.“ Auch die Umstände der Entstehung dieser neuen EU-Agentur sind Gegenstand des Forschungsprojekts. In ihrer empirisch-analytischen Forschung des Zusammenwirkens der drei Regierungsgewalten auf EU- und nationaler Ebene sollen die Mechanismen von Sozialdumping und Ausbeutung offenbar werden. Ergebnisse könnten als Grundlage für zukünftige Maßnahmen in diesem Bereich dienen. Für Heindlmaier wird die Regulierung von Entsendung, Scheinselbstständigkeit & Co nur allzu oft zum Katz- und Maus-Spiel: „Schiebt man einer Form des Sozialdumpings einen Riegel vor, weicht man in der Praxis auf eine neue Form aus.“
Zu den Personen Michael Blauberger befasst sich als Professor für die Politik der Europäischen Union an der Universität Salzburg mit den Fragen der EU-Integration und der Bedeutung von EU-Recht und Rechtsstaatlichkeit für diesen Prozess. Das dreijährige Forschungsprojekt „Rebalancing the enlarged single market“ (RESiM) ist ein transnationales Projekt der Universität Salzburg und der Universität Bremen, gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG. Neben Projektmitarbeiterin Anita Heindlmaier (Postdoktorandin) arbeitet auch Carina Kobler, Doktorandin an der Uni Salzburg, als affiliierte Mitarbeiterin am Projekt mit.
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