Warum verwendete der im 19. Jahrhundert lebende Wissenschaftler und Autor Karl Benedikt Hase Altgriechisch für sein Tagebuch? Der Klassische Philologe und START-Preisträger William Barton ist gleich mehreren Rätseln auf der Spur. © Dominik Pfeifer/FWF

Wie lautet die Hauptfrage, die Ihr Projekt beantworten will?

William Barton: Unser Projekt beschäftigt sich mit dem Tagebuch von Karl Benedikt Hase (1780–1864). Er war Hellenist, Autor, Wissenschaftler und in Paris Professor für Neugriechisch und Leiter der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek, der späteren Nationalbibliothek Frankreichs. Wir wollen herausfinden, was in dem Tagebuch steht und was wir daraus lernen können.

Welche Aspekte beinhaltet dieses Thema?

Barton: Es gibt drei Bereiche, die uns besonders interessieren. Hase war nicht nur Professor für Neugriechisch, sondern auch ein Spezialist für byzantinische Texte und für Altgriechisch. Wir wollen wissen, warum er Altgriechisch für sein Tagebuch verwendete. Wurde es als Geheimcode verwendet, um seine persönlichen Daten zu schützen? Wir wollen wissen, wie das Altgriechisch aussah, das er verwendete. Zweitens ist er bekannt dafür, byzantinische Texte gefälscht zu haben. Wir wollen mehr über diese Fälschungen lernen: Wie hat er sie gemacht und warum? Bietet das Tagebuch neue Informationen über Fälschungen, die noch aufgedeckt werden müssen? Drittens kommt dazu, dass Hase als renommierter Experte der griechischen Sprache und Kultur in seiner Zeit einflussreich war. Die europäische philhellenische Bewegung interessierte sich für griechische Politik und die Griechische Revolution (1821–1829). Wir wollen herausfinden, wie Hase seine privilegierte Position für die Griechen in Frankreich einsetzte: politisch, kulturell und humanitär.

Welche Erkenntnisse birgt das Tagebuch über das Leben im Paris des 19. Jahrhunderts?

Barton: In diesem Tagebuch findet sich Hases persönliche Welt. Es bietet eine ganz neue Perspektive, zu der Leser:innen noch keinen Zugang hatten. Wir können so einem Philologen des 19. Jahrhunderts bei seinem Arbeitsleben über die Schulter schauen. Es beinhaltet auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte. Es kann uns Fragen beantworten wie: War die kulturelle Stellung der Professoren eine andere als heute? Wo ging ein Professor für Neugriechisch mit seinen Freund:innen ein Glas Wein trinken?

Wie gelangten Sie zu diesem Tagebuch?

„Nach mehreren Monaten Suche bin ich in einem Archiv in Weimar auf die verloren geglaubten Tagebuchbände gestoßen. “

Barton: Vor vier Jahren habe ich begonnen, mich für die sogenannte neu-altgriechische Literatur, also Texte, die in der Neuzeit auf Altgriechisch verfasst wurden, zu interessieren. Ich bin bei meiner Lektüre über moderne Fälschungen in altgriechischer Sprache auf den Namen Hase gestoßen und habe gelesen, dass er ein geheimes Tagebuch verfasst hätte. Bis dahin hatte man nur Zugang zu einer sehr verkürzten Sammlung von Auszügen eines jüngeren Kollegen von Hase. Man glaubte, die originalen Tagebuchbände wären verloren. Nach sechs Monaten Forschung und der Suche in Archiven bin ich in einem Archiv in Weimar tatsächlich auf die neun erhaltenen Tagebuchbände gestoßen. Im Katalog wurden sie bezeichnet als „Notizkalender:Sprache:Griechisch“.

Wie läuft Ihre Forschung in diesem Projekt ab?

Barton: Hases Aufzeichnungen umfassen insgesamt 2.440 Seiten. Im ersten Teil des START-Projekts lesen wir diese genau und transkribieren sie. Dabei hilft uns das Transkribus-Programm, eine KI-gestützte Handschrifterkennungssoftware. Wir laden Fotos der Textseiten hoch, anhand derer diese nach ausreichend paläografischem Input von Forschenden lernt, Wörter zu erkennen. Mit mehr Training lernt die KI, den Text selbst zu transkribieren. Das gelingt mit über 95-prozentiger Genauigkeit. Wir kontrollieren und korrigieren die Ergebnisse. Außerdem fassen wir die täglichen Tagebucheinträge und Hases Exzerpte zusammen und erklären Fakten, Personen, Orte und Veranstaltungen, die darin vorkommen. Im zweiten Teil des Projekts können wir auf Basis der Textkenntnis unsere Forschungsfragen klären. Im dritten Teil verfasse ich eine intellektuelle Biografie. Darin möchte ich Hases autobiografische Sicht von sich selbst mit äußerlichen Darstellungen und Zuschreibungen zusammenbringen, um die Frage zu beantworten: Wer war dieser Mensch?

Was bedeutet das START-Stipendium für Ihre Forschung?

Barton: Es gibt mir die Chance, mich fast ausschließlich mit diesem wahnsinnig faszinierenden Text auseinanderzusetzen. Das ist ein Privileg. Das START-Programm ist prestigeträchtig. Dass ein Projekt zu Neu-Altgriechisch dieses Stipendium erhalten hat, bedeutet, dass dieses sehr kleine Forschungsfeld Wertschätzung erfährt.

Was interessiert Sie an diesem Forschungsfeld?

Barton: Wenn man Altgriechisch lernt, öffnet sich eine faszinierende Welt von Texten und Gedanken. Aber im Rahmen der klassischen Philologie liest man meist nur Texte von Griechen der Antike und der Welt der Spätantike. Als ich begonnen habe, mit dieser neuzeitlichen Literatur zu arbeiten, habe ich erkannt, dass die Kenntnis dieser alten Sprache ein Fenster zu einem weitaus größeren kulturellen Horizont öffnen kann. Hases Tagebuch ist ein wunderbares Beispiel dafür, welche Literatur es in Neu-Altgriechisch noch zu entdecken gibt.


William Barton arbeitet seit 2017 als Postdoc am Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien in Innsbruck. Der gebürtige Brite studierte Klassische Philologie (Altgriechisch und Latein) am University College London und an der University of Calgary. Im Jahr 2011 kam er für sein Doktoratsprojekt zu neulateinischer Literatur an das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien. 2015 promovierte er am Kingʼs College London. Zuletzt hat William Barton als Postdoc-Teamleader eine kritische Übersetzung inklusive Kommentar von Pascasius Justus Turcqs frühem medizinischen Traktat über problematisches Glücksspiel „De alea“ (1561) erstellt. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt der altgriechischen Literatur seit der Renaissance.


Zum Projekt

Mit dem Forschungsprojekt „Life in Ancient Greek: The Secret Diary of K.B. Hase“ widmen sich William Barton und sein Team dem Tagebuch des in Paris tätigen Hellenisten und Philologen Karl Benedikt Hase (1780–1864). Das Tagebuch eröffnet neue Perspektiven auf die intellektuelle Kultur des 19. Jahrhunderts. Das Projekt verfolgt drei Ziele: die Erstellung einer digitalen Version der Tagebücher und Manuskripte, eine kritische Analyse und das Verfassen einer intellektuellen Biografie von Karl Benedikt Hase.


Der START-Preis

Das Karriereprogramm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Der START-Preis ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.