Ein Modell für Hangrutschungen aus Wasser und Gestein
Extreme Naturereignisse nehmen zu, zugleich wird der Planet immer dichter besiedelt. Damit steigt das Risiko von Katastrophen und die Notwendigkeit für Prävention. Dämme, Lawinenverbauungen und andere Schutzmaßnahmen wollen aber richtig platziert sein. Seit vielen Jahren werden Computerprogramme dazu verwendet, Hangrutschungen zu simulieren. Dabei wird aber in Bewegung geratenes Material in Muren oder Lawinen stark vereinfacht dargestellt, was ein Problem sein kann, wie der Geograph Martin Mergili von der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) erklärt. Zu einfache Modelle werden der komplexen Realität damit oft nicht gerecht. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt hat eine Forschungsgruppe um Mergili nun eine Simulationsumgebung entwickelt, die ein realistischeres Bild von rutschendem oder fließendem Material zeichnen soll.
Komplexe Prozesse
Muren oder Lawinen seien generell schwierig zu simulieren, erklärt Mergili: „Da sind komplexe physikalische Prozesse im Spiel. Man hat Material von verschiedener Korngröße – von ganz feinem Schlamm bis hin zu großen Felsbrocken –, dazu Wasser, im Extremfall Eis und Schnee. Es gibt also viele Materialien, die zusammenwirken und sich als Gemisch zu Tal bewegen.“ Es gebe zwar einige Modelle auf dem Markt, um solche Prozesse von Lawinen über Muren bis hin zur Felslawine zu modellieren, doch: „Die meisten Modelle verwenden ein sogenanntes Ein-Phasen-Modell. Das Wasser, der Schutt, das wird alles zusammengefasst und als homogene Masse berechnet.“ Viele Naturereignisse ließen sich so aber kaum simulieren. Als Beispiel nennt Mergili den Bergrutsch von Bondo in der Schweiz vor einem Jahr, wo mehrere Millionen Kubikmeter Gestein abrutschten und schließlich als gewaltige Mure den Ort verwüsteten. Gestein und Wasser spielten hier zusammen, was bisherige Berechnungsmethoden an ihre Grenzen bringt.
Flüssige und feste Bestandteile in Muren
Ein weiteres, besonders komplexes Ereignis gab es in Peru, im Santa-Cruz-Tal des Cordillera-Blanca-Gebirges. Dabei rutschte ein Hang in einen See hinein und löste eine Flutwelle aus. „Der See ist dann übergelaufen und die Flutwelle hat einen tiefer gelegenen See erreicht“, erklärt Mergili. „So ist auch der See unterhalb übergeflossen und hat sehr viel an Lockermaterial erodiert. Das Ergebnis war eine Mure mit viel Wasser und losem Material, die sich noch einige Kilometer weit abwärts bewegt hat, bis sie einen dritten See erreicht hat, wo sie zum Stillstand kam.“ Für solche Phänomene würden bisherige Ein-Phasen-Modelle laut Mergili nicht genügen. „Genau für so komplexe Vorgänge braucht man ein Zwei-Phasen-Modell, damit Wasser und Schutt auch getrennt berücksichtigt werden“, erklärt der Forscher. Ein solches Modell entstand in einer internationalen Zusammenarbeit zwischen deutschen und österreichischen Universitäten unter der Leitung von Martin Mergili von der BOKU. Während in Deutschland die physikalischen Grundlagen ausgearbeitet wurden, war Mergilis Gruppe für die Einbindung realer Geländedaten zuständig. Den österreichischen Teil des Gemeinschaftsprojekts finanzierte der FWF.
Gute Übereinstimmung mit realen Naturereignissen
Um das neue Modell zu evaluieren, wurden Ereignisse wie jenes in Santa Cruz durchgerechnet. Der Verlauf der Santa-Cruz-Prozesskette habe sich mit den neuen Tools gut reproduzieren lassen, zeigte sich Mergili zufrieden. „Es stellte sich aber heraus, dass es nicht einfach ist, die Parameter so zu kalibrieren und zu optimieren, dass das Modell für Voraussagen verwendet werden kann.“ Dazu sei es nötig, möglichst viele ähnliche, gut dokumentierte Ereignisse durchzurechnen. Die Daten für die Simulationen stammen aus einem geografischen Informationssystem, kurz „GIS“ genannt. Solche Systeme enthalten im Prinzip elektronische Karten mit genauen Geländedaten. Österreich etwa ist bis auf einen Quadratmeter genau dreidimensional kartiert. Die neue Simulationsumgebung, mit dem Namen „r.avaflow“, ist direkt in ein GIS eingebunden. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Simulationsumgebung Open Source ist. „Sie ist frei verfügbar, auch gewisse Testdaten sind frei verfügbar zum Herunterladen. Sie ist auf Eigenverantwortung zu verwenden“, sagt Mergili. Derzeit wird r.avaflow international getestet und adaptiert.
Modell wird bereits angewandt
Der Übergang in die Praxis vollzog sich schneller als erwartet, erzählt Mergili: „Es ist fast mehr im Einsatz, als ich mir das momentan wünschen würde. Das Programm wird bereits für den Ernstfall verwendet. Mir wäre lieber, wenn es noch etwas länger getestet würde.“ Mehr Rückmeldungen zu möglichen Schwächen und genauere Parametersätze seien wünschenswert, bevor es wirklich für den Ernstfall eingesetzt wird. „In der Schweiz etwa wird das neue Modell aber bereits für tatsächliche Gefahrenabschätzungen verwendet“, berichtet der Forscher.
Zur Person Martin Mergili ist Geomorphologe an der Universität für Bodenkultur Wien und der Universität Wien. Er interessiert sich für die Entwicklung von Simulationstools für Hangrutschungen, regionale und nationale Gefahrenanalyse sowie Umweltveränderungen im Hochgebirge und die damit verbundenen Risiken.
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