Ein gigantisches Puzzlespiel
In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts fand ein Wiener Teppich- und Kunsthändler auf dem Antiquitätenmarkt in Kairo alte Papyri, die aus antiken Abfallhaufen kamen und schickte einige davon nach Wien. Joseph von Karabacek, der damalige Professor für Geschichte des Orients der Universität Wien und Direktor der Wiener Hofbibliothek (heutige Nationalbibliothek), erkannte die Bedeutung der Papierschnipsel. Erzherzog Rainer, ein Förderer der Wissenschaft, kaufte daraufhin so viel wie möglich auf und schenkte 1899 die Sammlung Kaiser Franz Josef zum Geburtstag. Dass Wien zum Zentrum der Papyrusforschung wurde, ist also ursprünglich einem Zufall zu verdanken.
Gigantisches Puzzlespiel
Heute lagern im Keller der Nationalbibliothek hinter mehreren alarmgesicherten Türen 180.000 Papyri aus Ägypten aus der Zeit zwischen 1.500 vor bis 1.200 nach Christus. Es sind Texte aus dem Alltag: Verwaltungskorrespondenzen, Rechnungen, Pacht- und Eheverträge sowie Privatbriefe; nur eine kleine Minderheit sind literarische Texte. Die größte Sammlung der Welt. Sie zu restaurieren und inhaltlich zu erschließen, ist ein langwieriger Prozess - ein gigantisches Puzzlespiel für die Forscherinnen und Forscher. 1997 konnte der Papyrologe und Leiter der Papyrussammlung Bernhard Palme mit den Mitteln des vom FWF vergebenen START-Preis gemeinsam mit seinem Team mehr als 60.000 Papyri sichten und die Sammlung in der Hofburg aufbauen.
Sensationsfunde
Immer wieder gab es Sensationsfunde. So konnte der Papyrologe Federico Morelli, damals Mitarbeiter im Team von Palme, ein zusammengehöriges Dossier finden – Briefe unter hohen Verwaltungsbeamten aus der früharabischen Zeit Ägyptens. Die Texte erzählen über die Zeit als die Macht am Nil von den Byzantinern auf die Araber überging. Bis 30 v. Chr. ist Ägypten eine griechische Dynastie, dann wird es von den Römern erobert und bleibt bis zum Einmarsch arabischer Truppen 639 n. Chr. Teil des byzantinischen Reiches. Bis dahin ist die Amtssprache Griechisch.
Pragmatische Eroberer
Aus den ersten eineinhalb Jahrhunderten der arabischen Herrschaft ist eine große Anzahl an griechischen Texten auf Papyrus erhalten. Die Texte, die Morelli untersucht hat, zeigen, dass die Islamisierung Ägyptens sehr langsam stattgefunden hat und nicht gewaltsam erzwungen wurde. Lange blieb das Christentum die Religion der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die neuen Herrscher vermieden Übergriffe, übernahmen die sehr gut organisierte Verwaltung und ließen ihren Untertanen viele Freiheiten. „Das war ein sehr pragmatischer Zugang“, sagt der Papyrologe. Das jüngste in Griechisch geschriebene Amtsdokument aus Ägypten, das der gebürtige Italiener entdeckt hat, stammt aus dem Jahr 796 und wurde damit lange nach der Eroberung Ägyptens durch arabische Truppen verfasst. „Bis zum Ende des 7. Jahrhunderts wurden die meisten Texte in Griechisch geschrieben. Es gab also keinerlei Versuch, die eigene Sprache aufzuzwingen“, berichtet der Forscher.
Arabische Eroberer: tolerante Herrscher?
In den Texten erfährt man viel über die Beziehungen zwischen einheimischen Christen und Arabern. „Religion kommt aber kaum vor. Die Islamisierung fand erst spät und langsam statt. Konvertierungen hatten eher steuerliche Gründe als religiöse, weil Christen und Juden höhere Abgaben leisten mussten.“ Waren die arabischen Eroberer also tolerante Herrscher? „Aus meiner Sicht schon“, stimmt Morelli zu. „Die Papyri geben kein negatives Bild. Das Zusammenleben scheint gut funktioniert zu haben.“ Was kann das für die Sicht auf den heutigen Islam bedeuten? „Das ist eine heikle Frage“, gibt sich der Wissenschaftler vorsichtig. „Erzeugt man ein Bild, bei dem die Araber zu positiv gezeichnet sind, kann das auch manchen missfallen. Ich lese und interpretiere die Texte, aber ich bewerte nicht.“
„Die Papyri sind direkte Zeugnisse der Zeit.“
Direkte Zeugnisse der Geschichte
Die Originaldokumente, die Morelli in seinem aktuellen vom FWF geförderten Projekt „Zwischen zwei Welten. Griechische Papyri aus dem früharabischen Ägypten“ untersucht, hält er für historisch äußerst relevant, denn sie seien die einzigen direkten Zeugnisse aus der Zeit der großen arabischen Ausbreitung und seien deshalb grundlegend für unser Verständnis der Umwandlung der östlichen und südlichen Teile der antiken/christlichen Welt in islamisch/arabische Gebiete. „Sie spiegeln den Standpunkt der Untertanen wider, der sich oft von erhaltenen historiographischen Quellen unterscheidet und ergänzen und korrigieren somit das oft einseitige Bild, das wir aus der späteren Geschichtsschreibung haben.“
Mühsame Kleinarbeit
Es bedeutet mühsame Kleinarbeit, uralte Papierschnitzel zu übersetzen, richtig einzuordnen und mit bereits bestehenden Funden zu verknüpfen –, dazu sind weltweit nur wenige Dutzend Personen in der Lage. Und dafür benötigt es enormes Hintergrundwissen verschiedener Disziplinen. Von den 60.000 griechischen Texten sind bisher nur 5.000 editiert. „Die Texte wurden undifferenziert gekauft“, sagt Morelli. So ist zum Beispiel die Korrespondenz unter hohen Beamten zerstreut über die ganze Sammlung. Jeder Text hat eine Nummer, aber den Inhalt kennt man nicht. „Da hat vielleicht der linke Teil die Nummer 1525, der mittlere 30060 und der rechte 52796“, veranschaulicht der Italiener die Herausforderung.
Zwiespalt Interdisziplinarität
Die Interdisziplinarität, in der sich der Altertumswissenschaftler mit der Erforschung dieser Texte bewegt, sieht er auch als einen Grund dafür an, weshalb die Aufarbeitung lange Zeit etwas vernachlässigt wurde. „Ein Papyrologe kommt entweder aus der Klassischen Philologie wie ich oder aus der Alten Geschichte. Texte aus dem 7./8. Jahrhundert gehören in keine dieser Disziplinen. Aber auch Arabisten beschäftigen sich nicht mit ihnen, weil sie in Griechisch geschrieben sind.“ Dass er sich auf diese Forschungsnische spezialisiert hat, bezeichnet Morelli als „karrieretechnisch selbstmörderisch“. „Wenn Sie sich damit auf eine Professur bewerben, sind Sie zu speziell, Sie arbeiten zwischen den Disziplinen“, erzählt der 55-Jährige.
Papyri zeigen das wirkliche Leben
Nach der Matura in Florenz will der junge Morelli eigentlich Jazzgitarrist werden, doch er entscheidet sich für einen anderen Weg: Weil er in der Schule sehr gut in Latein und Griechisch war, studiert er Altertumswissenschaften (Klassische Philologie) an der Universität Florenz. Das Studium literarischer Texte erscheint ihm allerdings zu selektiv. „Man hat den Eindruck, die Leute gingen in der früh ins Theater, haben dann Homer gelesen und sind am Nachmittag philosophierend herumspaziert. Die Papyri erzählen, wie die Leute wirklich gelebt haben. Das interessierte mich mehr“, zeichnet er seinen Weg zur Papyrologie. Nach mehreren Grabungs- und Forschungsaufenthalten in Ägypten und an der Universität Heidelberg, wird der junge Postdoc 1998 für das vom FWF geförderte START-Projekt von Bernhard Palme nach Wien geholt.
Wissenschaft und Familie schwer vereinbar
Dass sich nach den sechs Jahren für den angesehenen Wissenschaftler keine Fixstelle ergab, sieht er in mehreren Problemen des Systems begründet. So findet der zweifache Familienvater es schwierig, mit zunehmendem Alter die geforderte Mobilität aufzubringen: „Ich wollte weder meine Familie verlassen, noch jede Woche zwischen Wien und einer anderen Stadt hin- und herfliegen. Das finde ich auch ökologisch schwer vertretbar.“
Wer betreibt die Forschung?
Ein weiteres großes Problem ortet er darin, dass es kaum unbefristete Fixstellen jenseits der Professur gebe: Erreiche man die Spitze und werde Professor, habe man wegen vieler anderer Aufgaben in der Lehre, in Komitees und Gremien kaum mehr Zeit für die Forschung, die in die Hände junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelegt werde. „Es braucht aber auch erfahrene Leute, die wirklich die aktive Forschung als Hauptaufgabe haben“, stellt er fest.
Problem Sechs-Jahres-Regel
Die Sechs-Jahres-Regel, die ursprünglich zum Schutz junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gedacht war, um nicht in befristeten Verträgen stecken zu bleiben, sieht Morelli als weiteres großes Problem im universitären System und bringt einen pointierten Vergleich: „Das ist, wie wenn man als Billa-Kassier entweder nach sechs Jahren Filialleiter ist oder die Filiale verlassen muss.“
„Bildung und Kultur sind die Grundlagen für eine offene Gesellschaft.“
Befristung hemmt die Kritik
In Befristungen generell – auch außerhalb der Wissenschaft – sieht der kritische Geist ein Instrument zur Unterdrückung von Kritik: „Arbeiterrechte, die man sich über fast 200 Jahre erkämpft hat, werden entweder abgebaut oder man bringt die Menschen in eine Situation, wo sie ihren Rechten nicht nachgehen, weil sie in Unsicherheit sind.“
Bildung für eine offene Gesellschaft
Eine weitere bedenkliche Entwicklung sieht der Forscher in der Marginalisierung der Geisteswissenschaften im österreichischen Schulsystem: „Griechische Philosophie, Demokratie, Römisches Recht, Renaissance, Aufklärung und so weiter. Das sind die Grundlagen unserer Zivilisation“, führt Morelli aus. „Wie kann man von Werten reden und gleichzeitig die Grundlagen aus der Schulbildung verschwinden lassen? Wir brauchen Bildung für eine offene Gesellschaft und für Integration. Integration heißt nicht, die Nationalhymne singen zu können und Wiener Schnitzel zu essen.“ Dazu erzählt Federico Morelli eine Geschichte: Seine Frau, eine Restauratorin im Kunsthistorischen Museum, habe die Lehrerin der gemeinsamen Tochter zu einem Schulbesuch des Museums bewegen wollen. Vergeblich. „Die Klasse hat stattdessen ein bekanntes Straßenbauunternehmen besucht“, erzählt Morelli händeringend und stellt die Frage: „Straßenbau? Sind das unsere Werte?“
„Die Bestände aufzuarbeiten wäre wissenschaftlich notwendig. “
5 Grundlagenprojekte in 13 Jahren
Die Relevanz und hohe Qualität der Forschungstätigkeit von Federico Morelli zeigt sich in seiner äußerst erfolgreichen Einwerbung von Drittmitteln beim FWF, den er als “Retter der Edition der Wiener Papyri“ bezeichnet. Seit 2005 hat er insgesamt fünf je dreijährige Forschungsprojekte als Selbstantragsteller beim FWF erhalten. Arbeit gibt es noch genug in der Papyrussammlung, die Frage ist nur, wer sie finanzieren wird. „Die Bestände aufzuarbeiten, wäre wissenschaftlich wirklich notwendig. Aber als Projekt riskiert eine Edition nicht finanziert zu werden, weil das nicht innovativ genug ist. Die Professoren haben auch viele andere Aufgaben. So bleibt es liegen“, erläutert der Papyrologe das Dilemma. Derweil schlummern im Keller noch tausende Texte in Kartons, fein säuberlich in Kuverts sortiert. Bei konstanter Temperatur und trockenem Klima harren sie – wie einst in Ägypten – ihrer Entdeckung.
Zur Person
Federico Morelli studierte Altertumswissenschaften (Klassische Philologie) und Papyrologie an der Universität Florenz. Nach mehreren Grabungs- und Forschungsaufenthalten in Ägypten und Heidelberg kam der gebürtige Italiener 1998 nach Wien an die Akademie der Wissenschaften, wo er mit der Edition griechischer Papyri aus der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek begann. Ab 2005 war er Postdoc und seit 2008 Senior Postdoc am Institut für Alte Geschichte der Universität Wien. Der Wissenschaftler ist im Steuerungskomitee der internationalen Gesellschaft der Papyrologen, dem weltweit 12 Personen angehören. Seine Forschungsschwerpunkte sind griechische Urkunden aus der Spätantike und aus der früharabischen Zeit, Wirtschaftsgeschichte, Paläographie und literarische Papyrologie.