Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer in ihrer Wohnung in Graz. Im Hintergrund mit zahlreichen Kunstwerken, die biblische Szenen zeigen.
Die Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer erforscht die Rezeptionsgeschichte der Bibel in Bezug auf die Frauen. Ihre Publikationsreihe „Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche EnzyklopĂ€die “ ist weltweit das erste und einzige Projekt, das eine durchgehende Auslegungsgeschichte erarbeitet, in der Frauen und die Genderfrage im Zentrum stehen. © Sabine Hoffmann

Dezember 2019. Schauspielhaus Graz. Knapp 30 Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen und Schauspielerinnen lesen fĂŒnf Stunden lang aus Texten, die als „programmatisch fĂŒr eine Gleichbehandlung aller Geschlechter zu verstehen sind“. Von der EuropĂ€ischen MenschenrechtserklĂ€rung, ĂŒber Gedanken aus Simone de Beauvoirs feministischem Klassiker „Das andere Geschlecht“ bis zu Passagen aus der Nationalratsdebatte zur 2011 gegenderten österreichischen Nationalhymne spannt sich der Bogen. Mit dieser „Langen Nacht der Genderlesung“ will die Organisatorin und feministische Theologin Irmtraud Fischer ein Zeichen setzen gegen den „Rechtsruck in Europa, der die gesellschaftlichen BemĂŒhungen um die Gleichbehandlung aller Geschlechter wenn nicht gar rĂŒckgĂ€ngig, so doch zumindest lĂ€cherlich zu machen versucht“.

25 Jahre „Theologische Frauen- und Geschlechterforschung“

Gleichzeitig bildete die Lesung den Auftakt zu einer JubilĂ€umsfeier der Katholisch-Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Graz: Vor 25 Jahren wurde hier der Schwerpunkt „Theologische Frauen- und Geschlechterforschung“ eingerichtet. Zu verdanken ist das der Bibelwissenschaftlerin der UniversitĂ€t Graz – und einem Zufall, den sie als Chance erkannte: Am 22. Mai 1994 wurde eine ErklĂ€rung des damaligen Papstes Johannes Paul II zur Priesterweihe veröffentlicht. „Frauen wurden darin nur zum Kinderkriegen und als geweihte Jungfrauen gesehen“, bringt die Professorin es auf den Punkt. Das Dokument fĂŒhrte in der Katholisch-Theologischen FakultĂ€t zu einer Diskussion, in der einige Kolleginnen und Kollegen zu einer PresseerklĂ€rung drĂ€ngten. „Das war aber mehrere Wochen nach der ErklĂ€rung und wĂ€re deshalb lĂ€cherlich gewesen“, erinnert sich Fischer. Sie schlug stattdessen vor, mit Frauenförderung zu reagieren. „Alle Anwesenden waren froh, dass die PresseerklĂ€rung vom Tisch war“, erzĂ€hlt Fischer und fĂŒgt hinzu: „HĂ€tte ich ein zig-seitiges Konvolut vorbereitet und darin genau begrĂŒndet, warum wir Frauen- und Geschlechterforschung brauchen, wĂ€re das sicher nicht durchgegangen.“

„Ohne interdisziplinĂ€re Vernetzung verliert die Theologie ihre gesellschaftliche Relevanz.“ Irmtraud Fischer

Religion und Geschlechterkonstruktion

Der folglich an der Uni Graz etablierte Schwerpunkt „Theologische Frauen- und Geschlechterforschung“ widmet sich unterschiedlichen Themengebieten. Neben der Frage, welchen Anteil Religionen an der Konstruktion von Geschlechterrollen haben, wird der nicht ĂŒberlieferte weibliche Teil der Geschichte im Christentum erforscht. So wird etwa auch die Vermittlung von Religion in der Gegenwart untersucht, und welche Rolle spezifische Geschlechterbilder im Schulunterricht oder in der pastoralen Arbeit in der Pfarre spielen. Eine durch und durch interdisziplinĂ€re Forschung. Und mit der Ansiedlung an einer Katholisch-Theologischen FakultĂ€t bisher österreichweit einzigartig. In dieser InterdisziplinaritĂ€t sieht Fischer auch eine der wichtigsten Aufgaben der Theologie: „Ohne interdisziplinĂ€re Vernetzung verliert die Theologie ihre gesellschaftliche Relevanz.“

Fokus zu geschlechtergerechter Auslegung

Nicht die einzige Pionierleistung der feministischen Theologin: Sie war in Österreich nicht nur die erste Frau, die sich in Katholischer Theologie habilitierte, sondern auch erstmals zu einem feministischen Thema, und sie ist eine der wenigen Personen in diesem Fachgebiet, die aus feministischer Perspektive forschen. Fischer möchte den Fokus in der Bibel und Theologie weglenken von rein androzentrischen Perspektiven hin zu einer geschlechtergerechten Auslegung. Sie selbst nennt es: „Eine andere Brille aufsetzen.“

Ein Bild aus Irmtraud Fischers GemĂ€ldesammlung von Bibelszenen aus dem Alten Testament: Es zeigt Judit mit Magd und Kopf des Holofernes, mit dem sie das assyrische Heer wortwörtlich kopflos machte. „Dies ist ein typisches Motiv und zeigt, dass sich Gott zur Befreiung einer Frau bedient und nicht einem Heer professioneller Soldaten“, erklĂ€rt die Bibelwissenschaftlerin.

Erzeltern statt Patriarchen-ErzÀhlungen

Durch diese andere Brille war Irmtraud Fischer aufgefallen, dass unter den sogenannten „Patriarchen-ErzĂ€hlungen“ jeder zweite Text ein Frauentext ist. „In den Kirchen werden aber nur MĂ€nnertexte gelesen“, weist sie auf eine WidersprĂŒchlichkeit hin und erlĂ€utert weiter: „Es geht um die Geschichte der Bibelauslegung, und dabei gab es zu allen Zeiten Frauen, die die Bibel gelesen und ausgelegt haben.“ Mit dem Titel ihrer 1994 erschienene Habilitation „Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Gen 12-36“ war sie begriffsprĂ€gend und beeinflusst nachhaltig die Theologie bis in heutige SchulbĂŒcher und die offizielle katholische deutsche BibelĂŒbersetzung: Heute wird nicht mehr von „Patriarchen-ErzĂ€hlungen“ gesprochen, sondern von „Erzeltern-ErzĂ€hlungen“.

„So wollte ich nie werden“

Wie aber war ihr Weg zur mĂ€nnlich dominierten Theologie? Begonnen hat er zunĂ€chst in einer absoluten FrauendomĂ€ne: Nach der Matura im Stainacher Gymnasium geht die Bad Ausseerin an die PĂ€dagogische Akademie in Graz-Eggenberg – mit dem Ziel, Volksschullehrerin zu werden. Allerdings weniger aus persönlicher Neigung als vielmehr um den Berufswunsch ihrer Mutter zu verwirklichen, der diese Ausbildung als Mitglied einer Familie, die nicht bei der NSDAP war, verwehrt blieb. Doch schon in den ersten zwei Ausbildungswochen wĂ€hrend einer Hospitanz in einer Volkschule wird Irmtraud Fischer klar, dass das nichts fĂŒr sie ist: „Die Lehrerin war fĂŒr mich ein abschreckendes Beispiel, so wollte ich niemals werden“, erinnert sie sich an das SchlĂŒsselerlebnis. Um ein sicheres Standbein zu haben, schließt sie die Ausbildung trotzdem ab und erweitert ihre Lehrbefugnis zum Religionsunterricht.

„Schade, dass du kein Bub bist“

Ihren Wunsch, daraufhin Theologie zu studieren, lehnen die Eltern zunĂ€chst kategorisch ab: „Sie meinten, fĂŒr eine Frau wĂ€ren die hierarchischen VerhĂ€ltnisse in der Theologie nichts.“ Um die Tochter zu ĂŒberzeugen, laden sie sogar den aus Bad Aussee stammenden Kirchenhistoriker der UniversitĂ€t Graz zu sich nachhause ein. „Das erste, was er mir sagte war: Schade, dass du kein Bub bist. An mir ginge sozusagen ein Priester verloren.“ Es wĂ€re nicht die widerspruchsfreudige, mutige und selbstbewusste Irmtraud Fischer, hĂ€tte sie sich von ihrem Weg abbringen lassen. Wobei sie anmerkt, dass sie sich – typisch weiblich – bis zur Dissertation nicht selbstverstĂ€ndlich zugetraut hatte, in die Wissenschaft zu gehen. „Ich habe bis dahin immer gesagt: Wenn es gelingt“, erzĂ€hlt sie – zumal auch die Vorbilder fehlten. „In den 1980er-Jahren war ich eine von zwei Assistentinnen an der Katholisch-Theologischen-FakultĂ€t“, sagt sie.

„In den Kirchen werden nur MĂ€nnertexte gelesen.“ Irmtraud Fischer

Leidensdruck als Motor

Zur feministischen Theologie kommt die Alttestamentlerin durch einen gewissen Leidensdruck, den sie bei katholischen Theologinnen ortet. „Als Laie – und dann noch als Frau – ist man zweite Kategorie. Als Theologiestudent – sofern unverheiratet – ist man potenzieller Priester. Frauen sind vom Weiheamt ausgeschlossen, aber jede Letztentscheidung in der Kirche hĂ€ngt von der Weihe ab.“ Auch wenn eine Frau ein hohes Amt in der Kirche innehat, kann sie deshalb jederzeit von einem Geweihten ĂŒberstimmt werden.“

GeprĂ€gt haben sie auf ihrem Weg Pionierinnen der feministischen Theologie, allen voran die US-amerikanische katholische Bibelwissenschaftlerin Elisabeth SchĂŒller Fiorenza, die lange an der UniversitĂ€t Harvard lehrte. Von ihren rund 20 BĂŒchern ist das 1983 erschienene und in mehr als zehn Sprachen ĂŒbersetzte Werk „In Memory of her“(„Zu ihrem GedĂ€chtnis“) am bekanntesten. Darin verbindet SchĂŒssler Fiorenza die Methoden historischer Textkritik mit den theologischen Zielen der Befreiungstheologie, um Frauen zum Subjekt der Offenbarung zu machen. Als Fischer das Buch liest, ist ihr klar: „So geht es! Wir mĂŒssen die Bibel mit dem vorhandenen Handwerkszeug - mit neuer Hermeneutik - auslegen. Und zwar mit einem neuen Blick“, erzĂ€hlt sie von ihrem Erweckungserlebnis.

Am Text bleiben

Unter diesem Einfluss entsteht ihre Habilitation zu den „Erzeltern Israels“, die bei einem der einflussreichsten und bedeutendsten Wissenschaftlern ihres Faches auf reges Interesse stĂ¶ĂŸt: WĂ€hrend ihrer Gastprofessur an der weltweit Ă€ltesten evangelischen FakultĂ€t in Marburg, bittet der damals frisch emeritierte Theologe Otto Kaiser Fischer darum, ihre gerade eingereichte Habilitationsschrift lesen zu dĂŒrfen. „Nach einer Woche rief er mich an und meinte: Wenn das feministische Exegese ist, brauchen wir das! Einem damals70-JĂ€hrigen hat die Notwendigkeit eingeleuchtet – und zwar, weil man am Text arbeitet und nicht nur Forderungen stellt “, erzĂ€hlt sie. Und das ist es, was der Theologin bis heute ein großes Anliegen ist: Strikt am Text bleiben, aber ausloten, ob man den nicht auch anders verstehen kann.

Rolle der Frau in der Bibel anders als tradiert

Seit 2005 ist Irmtraud Fischer koordinierende Herausgeberin der Publikationsreihe „Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche EnzyklopĂ€die“, die in 21 BĂ€nden und vier Sprachen gleichzeitig erscheint und im Deutschen bislang zwölf BĂ€nde umfasst. Im Zentrum des Forschungsprojekts, das sie als ihr „Lebenswerk“ bezeichnet, stehen Frauenfiguren der Bibel, deren Rezeption in der Tradition der Bibelauslegung, aber auch Frauen, die selbst die Bibel ausgelegt haben sowie gender-relevante Themen und deren Rezeption – auch in der Kunst. „Hier geht es nicht um die Rolle von Frauen in der Bibel, denn in der Bibelwissenschaft ist es akzeptiertes Wissen, dass diese eine andere war, als die Tradition darzustellen versucht“, sagt sie und nennt dazu ein Beispiel: „Im Neuen Testament hat es keine Ämter gegeben, wie wir sie zurĂŒck-projizieren, diese sind viel spĂ€ter entstanden. Deshalb kann man auch nicht aus der Bibel legitimieren, dass Jesus keine Priesterinnen berufen hat, weil er ĂŒberhaupt keine Priester berufen hat, weder MĂ€nner noch Frauen.“

Weltweit einzigartig: Genderfrage in Auslegungsgeschichte

„DiesbezĂŒglich ist die Bibel gut erforscht“, stellt Fischer fest. „Aber neu ist die Rezeptionsgeschichte, die solche Dinge je lĂ€nger, desto steifer behauptet – gerade in Bezug auf Frauen. Unser Projekt ist weltweit das erste und einzige, das eine durchgehende Auslegungsgeschichte erarbeitet, in der Frauen und die Genderfrage im Zentrum stehen“, sagt die Wissenschaftlerin. Dabei beobachtet sie, dass bei gewissen Texten die Art, wie man sie ĂŒber Jahrhunderte gelesen hat, viel bekannter sei, als der Text selbst.

Eva, die VerfĂŒhrerin?

Als berĂŒhmtes Beispiel nennt Fischer „Adam und Eva“: Die Geschichte, die bereits zu einem kulturellen Code geworden ist, kennt jeder: eine VerfĂŒhrungsgeschichte, Eva die klassische VerfĂŒhrerin. „Aber das ist nicht der Bibeltext selbst, sondern die Auslegung, die sich im Lauf der Zeit entwickelt hat. Deshalb ist es wichtig, zu wissen, wie die Tradition historisch gewachsen ist, denn zu allen Zeiten wurde die Bibel auch von Frauen ausgelegt und anders ausgelegt.“

„Das ist gezieltes Vergessenmachen“

An der EnzyklopĂ€die, die insgesamt 21 BĂ€nde umfassen wird, arbeiten mehr als 300 Menschen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen mit. Fischer freut sich auf weitere Entdeckungen in den noch vielen verschlossenen Archiven. So konnte zum Beispiel die italienische Historikerin Adriana Valerio, wie Fischer Hauptherausgeberin der Reihe, nachweisen, dass eine Nonne Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte Bibel kommentiert hat. Zu einer Zeit, als Frauen im katholischen Bereich verboten war, die gesamte Bibel ohne Anleitung eines Priesters zu lesen. Der Kommentar der Nonne wurde publiziert, geriet aber danach in Vergessenheit. „Das ist ein gezieltes Vergessenmachen einer patriarchalen Gesellschaft, wo MĂ€nner in der Hand haben, was als offizielle Tradition weitergeht“, sagt die Expertin und nimmt hier auch die Frauen in die Verantwortung: „Frauen mĂŒssen ermĂ€chtigt werden, selber Texte zu schreiben und Publikationen von Frauen als eigene Tradition zu lesen, um sie nicht vergessen zu machen“.

„Heute kann man nicht mehr von der NormativitĂ€t der HeterosexualitĂ€t sprechen.“ Irmtraud Fischer

SexualitÀt nicht auf Fortpflanzung gerichtet

Zurzeit arbeitet Fischer an einem Buch ĂŒber SexualitĂ€t im Alten Testament und widerlegt auch dabei ĂŒberlieferte Normen: Sie kann aus dem Text der Paradiesgeschichte argumentieren, dass SexualitĂ€t – im Gegensatz zur Überlieferung – nicht nur auf Nachkommenschaft gerichtet ist, sondern auch auf das gemeinschaftliche Leben, die Geschlechterbeziehung. „Ein Thema, das fĂŒr die Geschlechterfrage von enormer Bedeutung ist“, sagt sie.

Keine NormativitÀt von HeterosexualitÀt

Eine weitere Auslegung, die gesellschaftlich von großer Relevanz ist, betrifft die Schöpfungsgeschichte. Mit den beiden Polen „mĂ€nnlich und weiblich“ hatte man lange die NormativitĂ€t von HeterosexualitĂ€t argumentiert. „Aber der gesamte Text ist polar angelegt: Himmel und Erde, Licht und Finsternis etc. Man kann aber nicht behaupten, Gott hĂ€tte die DĂ€mmerung nicht erschaffen. MĂ€nnlich und weiblich sind also nur die Ă€ußersten Pole, und alle anderen AusprĂ€gungen des Geschlechtlichen sind selbstverstĂ€ndlich auch von Gott geschaffen. Heute kann man nicht mehr von der exklusiven NormativitĂ€t der HeterosexualitĂ€t sprechen.“

Theologie ist nicht Kirche

Dass die Kirche hier andere Positionen vertritt, sieht die Wissenschaftlerin in deren Erstarrung begrĂŒndet: „In diesen Punkten ist die Kirche im 19. Jahrhundert geblieben.“ So oft Fischer zu kirchlichen Themen befragt wird, so sehr ist es ihr wichtig, festzustellen, dass die an UniversitĂ€ten betriebene Theologie als Wissenschaft der Freiheit der Forschung verpflichtet sei und nicht den kirchlichen Vorgaben. „Theologie ist nicht Kirche!“ postuliert sie. „Die Theologie hat ein völlig anderes Level des Denkens und hĂ€lt andere Dinge fĂŒr wichtig, als jene, die gerade in der Kirche diskutiert werden und was davon wiederum durch den Filter der Medien an die Öffentlichkeit kommt.“

„Die Kirche ist mittlerweile im freien Fall. “ Irmtraud Fischer

Kirche im freien Fall

2019 stiegen österreichweit die Austritte aus der römisch-katholischen Kirche um knappe 15 Prozent. In KĂ€rnten gar um knappe 64 Prozent, was mit dem Korruptionsfall um den ehemaligen Bischof Alois Schwarz in Zusammenhang gebracht wird. „Die Kirche ist mittlerweile im freien Fall“, kommentiert die Bibelwissenschaftlerin diese Zahlen und ortet das Hauptproblem darin, dass sie sich zu sehr auf die Strukturen konzentriere. „Das Priestertum wurde unter Papst Johannes Paul zu einer Ideologie hochstilisiert. Die Menschen haben spirituelle BedĂŒrfnisse, aber die Kirche ist nicht mehr fĂ€hig, diese zu bedienen, obwohl sie ĂŒber eine reiche spirituelle Tradition verfĂŒgt. Hier hĂ€tte die Kirche eine wirkliche Chance.“ Außerdem vermisst Fischer eine „jetzige“ VerkĂŒndigung, die die Menschen erreicht: „Wir haben mit der Bibel kanonische Texte, die in sich abgeschlossen sind, aber der Kommentar dazu kann nicht flexibel genug sein. Sie haben jeder Generation etwas Neues zu sagen. Die KanonizitĂ€t besteht gerade darin, dass man den Sinn jeweils auf die neue Generation, eine neue Epoche anpasst. Heute muss das heißen: in westliche Geschlechterdemokratien inkulturieren. Das passiert aber nicht.“

In Schreibpausen nĂ€ht die Wissenschaftlerin. Deshalb kann man auch an ihrer Garderobe den Schreib-Output messen, denn kreative SchĂŒbe drĂŒcken sich in beiden Bereichen parallel aus. „FĂ€llt mir nichts beim Schreiben ein, komme ich auch beim NĂ€hen nicht weiter“, so Fischer. © Sabine Hoffmann

FlexibilitÀt des Geistes

Dass Fischer in dieser MĂ€nnerdomĂ€ne ihren Weg gegangen ist, spricht sie selbst vor allem folgenden Eigenschaften zu: hohe AnsprĂŒche, Durchhaltevermögen und FlexibilitĂ€t des Geistes. Gerade diese FlexibilitĂ€t ist ihr auch bei ihren Studierenden am wichtigsten: „Ich möchte ihnen das Denken beibringen. Denn wer Neues entdecken will, darf nicht in ausgetretenen Bahnen gehen, der muss hinausdenken können.“

Garderobe als Evaluierungsinstrument

Wie stark der Schreib-Output der Vielarbeitenden ist, kann man an ihrer Garderobe messen: Sie nĂ€ht sich beinahe die gesamte Kleidung selbst – und zwar in den Schreibpausen. „In einer Pause nĂ€he ich zwei, drei NĂ€hte und schreibe dann wieder weiter bis zur nĂ€chsten Pause. Das geht parallel“, beschreibt die 62-JĂ€hrige die Dynamik. Beigebracht hat sie sich das Handwerk als Studentin selbst, da sie sich damals die Kleidung, die sie gerne gehabt hĂ€tte, nicht leisten konnte. Allerdings: kreative SchĂŒbe drĂŒcken sich in beiden Bereichen parallel aus: „FĂ€llt mir nichts beim Schreiben ein, komme ich auch beim NĂ€hen nicht weiter“, schmunzelt sie. ErzĂ€hlt sie von ihren PlĂ€nen und weiteren Projekten, kann man ihr nur zur Anschaffung weiterer KleiderkĂ€sten raten. Denn auch darin ist sich die streitbare Wissenschaftlerin sicher: „LĂ€sst der Druck von Frauen auf Gleichbehandlung, gleiches Recht und gleiche Bezahlung nach, geht es sofort wieder zurĂŒck.“ Nicht zuletzt deshalb wird es weitere „Langen NĂ€chte der Genderlesung“ geben.

Zur Person

Die Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer ist seit 2004 Professorin fĂŒr „Alttestamentliche Bibelwissenschaften“ an der Katholisch-Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Graz. Sie war die erste Frau, die sich in katholischer Theologie in Österreich habilitierte – erstmals zu einem feministischen Thema. Von 2007 bis 2011 war sie Vizerektorin fĂŒr Forschung und Weiterbildung. Sie ist seit 2009 Mitglied im Doktoratsprogramm „InterdisziplinĂ€re Geschlechterstudien“ der UniversitĂ€t Graz, seit 2015 dessen Sprecherin. 2016 wurde sie in die „Pionierinnengalerie“ der Stadt Graz aufgenommen; seit 2005 ist Fischer koordinierende Herausgeberin der insgesamt 21-bĂ€ndigen in vier Sprachen erscheinenden Publikationsreihe „Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche EnzyklopĂ€die“, von denen in Deutsch bisher 12 BĂ€nde erschienen sind: www.bibleandwomen.org

Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt Fischer 2017 das Ehrendoktorat fĂŒr Geschichts- und Kulturwissenschaften der UniversitĂ€t Gießen. Sie ist stellvertretende Sprecherin des Internationalen Graduiertenkollegs „Resonante Weltbeziehungen“ an der UniversitĂ€t Graz mit dem Max-Weber-Kolleg in Erfurt, Deutschland. Ein besonderes Anliegen ist Fischer „Science to Public“ und „Science to Professional“. So hĂ€lt sie regelmĂ€ĂŸig Fortbildungen fĂŒr Religionslehrerinnen und -lehrer, organisierte 2019 die „Lange Nacht der Genderlesung“ im Schauspielhaus Graz und grĂŒndete 2008 die sogenannten „Ausseer GesprĂ€che“, die im Juni 2020 zum zwölften Mal stattfanden.