START-Preisträger J. Lukas Thürmer
Der Psychologe J. Lukas Thürmer erforscht u. a. mithilfe von KI, wie sich Menschen in Gruppen verhalten. Sein Fokus gilt dem abweichenden Verhalten einzelner Mitglieder und wie sich das auf die Dynamik der Gruppe auswirkt. © FWF/Frank Wimmer

Herr Thürmer, das Schlagwort zu Ihrer Forschung ist die Arbeit in Gruppen. Welche Antworten wollen Sie mit Ihrem START-Projekt liefern?

J. Lukas Thürmer: Mich treibt die Frage an, wie Teams ihre Ziele erreichen. Bisher haben wir uns mit der Zielerreichung von Einzelpersonen oder ganzen Gruppen auseinandergesetzt. Jetzt wollen wir untersuchen, welchen Effekt das Ausscheren einzelner Gruppenmitglieder auf die Gruppendynamik hat. Diesen Einfluss konnten wir bislang nicht umfassend erforschen, weil uns die technischen und statistischen Mittel fehlten. Nun wird es erstmals möglich, die Dynamik innerhalb einer Gruppe genau zu modellieren.

Welche Situationen interessieren Sie konkret?

Thürmer: In meiner Forschung untersuche ich, was passiert, wenn ein Gruppenmitglied abweichendes Verhalten zeigt, das für die Leistung der Gruppe relevant ist. Wir nennen das „Aufgaben-Devianz“. Beim START-Projekt habe ich mich für drei prototypische Situationen entschieden. Die erste ist, wenn ein Gruppenmitglied unerwartete Leistungen erbringt, etwa ein Gewicht sehr lange halten kann. Zweitens interessieren mich Gruppenentscheidungen und der Einfluss von Personen, die kontroverse Informationen oder Präferenzen einbringen. Als Drittes möchte ich die gemeinsame Problemlösung untersuchen. Hier können deviante Personen hilfreich sein, weil sie Kritik am aktuellen, suboptimalen Lösungsansatz einbringen.

Weshalb sind gerade diese Aufgaben für die Erforschung von Gruppen relevant?

Thürmer: In jeder der drei Situationen wird ein grundlegendes Ziel bedroht, das wir verfolgen, wenn wir uns zu Gruppen zusammenschließen. Personen, die in ihrer Leistung deviant sind, gefährden das gemeinsame Schaffen. Diejenigen, die von einer Gruppenentscheidung abweichen, bedrohen die gemeinsam geteilte Weltsicht. Und Kritiker:innen stellen ein Problem für das gute Gruppengefühl dar, also die positive Sicht auf die eigene Gruppe. All das führt dazu, dass selbst hilfreiche Beiträge, Informationen oder Ideen ungenutzt bleiben. Meine Hypothese ist, dass die Reaktion einer Gruppe auf deviantes Verhalten davon abhängt, welche Intention gegenüber der Gruppe sie der abweichenden Person zuschreibt. Kurz, will die Person der Gruppe helfen oder nicht?

„In meiner Forschung will ich untersuchen, ab wann Menschen nicht mehr aufeinander achtgeben. “

Welche Schritte möchten Sie setzen, um die Hypothese zu untersuchen?

Thürmer: Den Kern des Projektes stellen interaktive Experimente dar. Dazu stellen wir Versuchspersonen Aufgaben hinsichtlich Leistung, Entscheidung und Problemlösung, die sie als Gruppe bearbeiten. Dabei wird ihr Verhalten gefilmt und mittels künstlicher Intelligenz und spezieller Software ausgewertet. So gewinnen wir detaillierte Daten, beispielsweise über Gesichtsausdrücke und den sprachlichen Austausch. Hinzu kommt, dass die Versuchspersonen Eye-Tracking-Brillen tragen werden, die ihre Augenbewegungen erfassen. Dadurch erhalten wir Einblicke in die nonverbale Kommunikation und sehen, welche Gesichtsbereiche des Gegenübers für die Person von Interesse sind. Die Zusammenführung dieser Datenmengen erlaubt uns zu analysieren, ob sich Variablen ändern, wenn der abweichenden Person eine positive oder negative Intention zugeschrieben wird. Außerdem können wir durch die gestellten Aufgaben den Einfluss auf die Leistung der Gruppe untersuchen.

Welche Bedeutung hat der START-Preis für Ihre Forschungstätigkeit?

Thürmer: Das Projekt wäre ohne den START-Preis nicht durchzuführen, denn in keiner anderen Förderungslinie könnten wir einen derart umfangreichen und systematischen Ansatz verfolgen. Außerdem entsteht aus den Experimenten ein großer Datenschatz, den wir auch über die ursprüngliche Fragestellung hinaus explorativ untersuchen können. Ein anderer spannender Punkt ist, dass wir die Versuche in Österreich durchführen können.

„Das Projekt wäre ohne den START-Preis nicht durchzuführen.“

Erst kürzlich wurde eine Studie publiziert, die 31 Länder daraufhin untersuchte, wie stark die Menschen dort aufeinander achten. Österreich belegte dabei Platz 2. Das ist eine interessante Ausgangslage, denn in meiner Forschung will ich untersuchen, ab wann Menschen nicht mehr aufeinander achtgeben. Wenn wir hier bei uns ausgrenzende Effekte sehen, dann könnten sie in anderen Ländern, die sozial weniger achtsam sind, noch deutlicher durchschlagen.

Gibt es Vorbilder, die Ihre Arbeit geprägt haben?

Thürmer: Ja, zu viele, um sie hier alle zu nennen. Aber einer sticht heraus, der deutsch-amerikanische Psychologe Kurt Lewin. Einerseits ist er inhaltlich ein Vorbild für mich, da die Gruppenforschung von seiner Arbeit ihren Ausgang nahm. Aber auch auf persönlicher Ebene bewundere ich ihn, weil er in seinem Labor ein hochproduktives und diskutierfreudiges Umfeld geschaffen hat, das gleichzeitig sehr inklusiv war. Er hat es geschafft, Akzeptanz für deviante Personen herzustellen – aber leider nicht publiziert, wie das geht.


J. Lukas Thürmer schloss 2013 sein Doktorat in Psychologie an der Universität Konstanz und der New York University ab. Nach Stellen in Pittsburgh und Göttingen sowie etlichen internationalen Forschungsaufenthalten leitet er heute eine Gruppe im Bereich „Politische und Interkulturelle Psychologie“ an der Universität Salzburg. Thürmer erhielt im Laufe seiner Forschungsarbeit mehrere Stipendien, unter anderem das renommierte ERC Marie Skłodowska-Curie Global Fellowship der Europäischen Kommission, in dessen Rahmen er den Grundstein für sein START-Projekt legte.


Zum Projekt

Das Projekt „Deviance in Task Groups“ widmet sich der Frage, weshalb Gruppen oft daran scheitern, abweichende Leistungen, Informationen und Kritik zu nutzen. Untersucht wird die Hypothese, dass abweichende Beiträge nur von Personen akzeptiert werden, die eine klare Absicht erkennen lassen, zum Wohle der Gruppe zu handeln. Dazu werden Versuchspersonen mit Aufgaben konfrontiert und die Gruppendynamik wird aus mehreren Perspektiven erfasst. Die Daten werden unter Anwendung von künstlicher Intelligenz ausgewertet und sollen Aufschluss über die Feinheiten von Teamwork geben.


Der FWF-START-Preis

Das Karriereprogramm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Der FWF-START-Preis ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem FWF-Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.