Die soziale Fieberkurve von Corona

Am 25. Februar 2020 wird in Ăsterreich erstmals das SARS-CoV-2-Virus nachgewiesen. Zwei Tage spĂ€ter spricht sich die Regierung in der Plenarsitzung des Nationalrats noch gegen jede Panikmache aus. Doch die Zahlen der Infektionen steigen national und international exponentiell an und die WHO stuft die Krise am 11. MĂ€rz als Pandemie ein. Einen Tag spĂ€ter beklagt Ăsterreich seinen ersten Covid-19-Todesfall. Am 16. MĂ€rz verordnet die Bundesregierung den umfassenden Lockdown. Ăsterreich sperrt zu. HamsterkĂ€ufe vor der SchlieĂung des Handels geben dem auĂergewöhnlichen Geschehen eine skurrile Note. Eine Pressekonferenz jagt die nĂ€chste. Aufnahmen aus dem italienischen Bergamo zeigen dramatische Szenen: MilitĂ€rlaster transportieren im Konvoi mitten in der Nacht unzĂ€hlige SĂ€rge durch menschenleere StraĂen. Der Bundeskanzler befeuert dieses Bild und damit die Angst: âWir werden auch in Ăsterreich bald die Situation haben, dass jeder irgendjemanden kennt, der an Corona verstorben ist.â
Die österreichische Bevölkerung hĂ€lt sich weitgehend an die vorgeschriebenen BeschrĂ€nkungen und die Menschen geben sich gegenseitig Mut. Den braucht es auch angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs: Im Mai erreicht die Arbeitslosigkeit mit 12 Prozent den Rekordwert seit 1945 und jeder dritte BeschĂ€ftigte ist in Kurzarbeit. Die Bundesregierung startet eine omniprĂ€sente Kampagne: âSchau auf dich, bleib zu Hause. So schĂŒtzen wir uns.â Radio Wien spielt jeden Abend um 18 Uhr die inoffizielle Hymne âI am from Austriaâ von Rainhard Fendrich. Sogar die Wiener Polizei beteiligt sich und verstĂ€rkt das Lied durch die Lautsprecher ihrer Einsatzwagen. Man steht zusammen und applaudiert den sogenannten Systemerhalterinnen und Systemerhaltern im Gesundheitssystem, dem Lebensmittelhandel, dem Lieferservice und der MĂŒllabfuhr. Es ist eine Zeit der Angst, aber auch der Zuversicht auf ein baldiges Ende dieser Krise im Miteinander.
Krise als Chance
Der Zukunftsforscher Matthias Horx sieht in der Krise gar die Chance auf einen gesellschaftlichen Neubeginn. Manche hegen die Hoffnung, dass diese Pandemie eine Wende zu mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz einlĂ€uten könne. Und tatsĂ€chlich werden Effekte der gesellschaftlichen Vollbremsung sichtbar: Der bundesweite Gesamtverkehr sinkt um 23 Prozent, was sich auch messbar in verbesserter LuftqualitĂ€t niederschlĂ€gt. FĂŒr Mai zeigen Studien eine Reduktion der globalen CO2-Emissionen von 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahreswert. Die weitgehende Einstellung des Verkehrs von Kreuzfahrtschiffen und FĂ€hren verbessert vielerorts die WasserqualitĂ€t und im April 2020 wird aus Triest euphorisch gemeldet, dass sich seit vielen Jahren erstmals wieder Delfine im Hafenbecken tummeln. Schafft ein Virus das, was die unzĂ€hligen Warnungen der Klimaforschung bis dahin nicht geschafft haben?
Die gesellschaftliche Spaltung hat zugenommen
Heute, neun Monate und zwei Lockdowns spĂ€ter, ist von dieser Aufbruchstimmung nicht mehr viel zu spĂŒren. âDie Hoffnungen haben sich zerschlagenâ, sagt Bernhard Kittel. âDas gesellschaftliche Auseinanderdriften, das wir seit Jahren beobachten, wurde durch die Krise beschleunigt. Die Spaltung der Gesellschaft hat zugenommen, die SolidaritĂ€t ist gesunken, ebenso das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und die Demokratieâ, lautet sein ernĂŒchternder Befund. Belegen kann er diesen mit umfangreichen Daten.
Monatlich werden 1.500 Menschen befragt
Der Sozialwissenschaftler der UniversitĂ€t Wien untersucht gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen Sylvia Kritzinger, Barbara Prainsack und Hajo Boomgaarden und einem multidisziplinĂ€ren Team Einstellungen, Verhalten und Reaktionen der in Ăsterreich lebenden Menschen auf die Corona-Krise. Das Austrian Corona Panel zĂ€hlt zu den gröĂten sozialwissenschaftlichen Corona-Studien in Ăsterreich â 1.500 Menschen werden monatlich befragt, um fundierte Daten zur Beantwortung vieler Fragen zu erhalten. Wie gehen Menschen mit der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bedrohung um? Wie denken sie ĂŒber die Pandemie und die MaĂnahmen zur Ăberwindung der Krise? Welche Gruppen sind besonders stark betroffen? Ăndert sich die Einstellung zu Demokratie und Rechtsstaat?
Dauer der Pandemie wurde unterschÀtzt
Mit der Bewilligung einer Akutförderung des FWF im Juli 2020 konnte die Studie, die mit einer Anschubfinanzierung des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds WWTF Ende MĂ€rz bereits begonnen hatte, fortgefĂŒhrt werden. Den Antrag auf die kurzfristige Ausschreibung des WWTF hat Kittel in einer Nacht geschrieben. âDann haben wir zu fĂŒnft ein Wochenende lang durchgearbeitet und den ersten Fragebogen entworfenâ, erinnert sich Kittel an den Anfang. Bereits zwei Wochen nach AnkĂŒndigung des ersten Lockdowns im MĂ€rz waren seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Feld. Die Dauer der Krise hatten allerdings auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschĂ€tzt. So lautete eine Frage in der ersten Erhebung, wie lange man dachte, dass die Krise dauere. Der höchste Wert zur Auswahl war âlĂ€nger als 6 Monateâ. Wenige Befragte schĂ€tzten die Dauer so lange ein.
Optimismus, dass es bald vorbei sein wird
In diesem Optimismus, dass es bald vorbei sein wĂŒrde, sieht Kittel einen der GrĂŒnde fĂŒr die hohe Zustimmung zu den RegierungsmaĂnahmen seitens der Bevölkerung in den ersten Wochen. Ein Augen-zu-und-durch. Auch das Schreckensszenario, das der Bundeskanzler zeichnete, und die Bilder aus Norditalien spielten hier eine entscheidende Rolle. âZudem erlebte unsere Generation etwas Neues, GeschichtstrĂ€chtigesâ, beschreibt der Soziologe das GefĂŒhl vieler im FrĂŒhjahr. Die Gefahr des Virus wurde ernst genommen und man hielt sich an die MaĂnahmen, wenn auch aus unterschiedlichen GrĂŒnden: um sich selbst zu schĂŒtzen, um andere zu schĂŒtzen, weil es eine klare soziale â aber auch gesetzliche â Norm ist.
Falsche Kommunikationsstrategie
Die Lockerungen zu Beginn des Sommers verbreiteten das GefĂŒhl, es nun durchgestanden zu haben â und das, obwohl alle Prognosen bereits im Mai darauf hindeuteten, dass sich die Lage im Herbst verschĂ€rfen wĂŒrde. Darin sieht Kittel eine verfehlte Kommunikationsstrategie: âIn den engen Beratungskreisen der Regierung war damals bereits bekannt, dass wir noch viele Monate in dieser Pandemie sein werden. Die Kommunikationsstrategie âWir haben es ĂŒberstandenâ hat den falschen Drall gegeben und schlieĂlich dazu beigetragen, dass die Infektionszahlen im September gestiegen und im Oktober explodiert sindâ, beschreibt Kittel die Dynamik.
âWenn weniger als die HĂ€lfte der Bevölkerung mit der Regierungsarbeit zufrieden ist, ist das ein Alarmzeichen.â
Jeder Dritte ist unzufrieden
Was aus den Daten des Austrian Corona Panels klar hervorgeht: Die Zustimmung zu den Corona-MaĂnahmen hĂ€ngt stark davon ab, wie sehr man den politischen Institutionen vertraut. Je höher das Vertrauen in die Regierung, desto mehr ist jemand bereit, sich an die Verordnungen zu halten. Und hier liegt einer der GrĂŒnde, warum sich Lockdown zwei völlig anders anfĂŒhlt als Lockdown eins. Die gesundheitliche und die wirtschaftliche Gefahr werden zwar gleich hoch eingeschĂ€tzt wie am Anfang der Pandemie. Aber Ende MĂ€rz gab es nur zehn Prozent Unzufriedene, jetzt liegt der Wert bei 33 Prozent. Nur die HĂ€lfte der Befragten ist zufrieden mit der Regierungsarbeit, wobei der ĂŒberwiegende Anteil âeher zufriedenâ ist und nicht âsehr zufriedenâ. Sehr zufrieden sind gerade einmal 10 Prozent. âWenn weniger als die HĂ€lfte der Bevölkerung mit der Regierungsarbeit zufrieden ist, ist das ein Alarmzeichenâ, warnt Kittel und er verdeutlicht: âDas ist eine Verdreifachung innerhalb eines halben Jahres.â
SolidaritÀt sinkt und Kurzarbeit hilft
Eine andere Entwicklung, die der Sozialwissenschaftler anhand seiner Daten ebenfalls deutlich sehen kann, ist die Abnahme der SolidaritĂ€t. Wenn noch im MĂ€rz 62 Prozent der Befragten angaben, sie seien der Ansicht, der Zusammenhalt in der Gesellschaft habe sich mit der Krise erhöht, so ist dieser Wert von Erhebungswelle zu Erhebungswelle stetig gesunken und liegt aktuell bei 14 Prozent. Besonders stark trifft die Krise jene, die es schon vorher schwer hatten: Alleinerziehende, die fast ausschlieĂlich Frauen sind, kleine SelbstĂ€ndige wie freie Dienstnehmer und sozial schwache SchĂŒlerinnen und SchĂŒler. Stark betroffen sind auch all jene, die in der Krise ihre Arbeit verloren haben.
âDie Kurzarbeit hat viele Menschen vor psychischen Problemen gerettet.â
Was die psychische Belastung der Arbeitslosen anbelangt, sieht man anhand der Daten deutlich, dass die Neigung zu Depressionen mit dem Jobverlust sprunghaft angestiegen ist. Dieser Zusammenhang zwischen Arbeit und Depressionsneigung wird allerdings auch umgekehrt deutlich: Jenen, die wĂ€hrend der Krise einen Job bekommen haben â vor allem in den seit dem Lockdown boomenden Branchen wie der Paketzustellung â, ging es psychisch sprunghaft besser. Die Menschen, die im ersten Lockdown in Kurzarbeit waren â immerhin jeder vierte BeschĂ€ftigte â, blieben vergleichsweise psychisch stabil. âDie Kurzarbeit hat viele Menschen vor psychischen Problemen gerettetâ, sagt der Wissenschaftler.
Die Krise verdeutlicht die Schulmisere
Die Pandemie hat laut Kittel eine Entwicklung verschĂ€rft und beschleunigt, die er bereits seit Jahren beobachtet, nĂ€mlich die Zunahme der Spaltung der Gesellschaft nach Bildung und Arbeitsmarktchancen: âSie verdeutlicht die Misere, die in unseren Schulen seit Jahrzehnten offenkundig ist, herbeigefĂŒhrt durch die gegenseitige Blockade der groĂen politischen Lager in der Zweiten Republik.â Und er nennt ein Beispiel: âIn Wiener Volksschulen ist die Differenz zwischen den besten und den schlechtesten SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mehrere Jahre Lernleistung. Da lĂ€uft etwas ganz Grundlegendes falsch. Das verhindert Entwicklungschancen und fĂŒhrt zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft.â
Es brÀuchte eine massive Förderung
Was es brĂ€uchte, sei eine massive Förderung der sozial schwachen SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, die bereits vor der Krise vernachlĂ€ssigt worden sind. Gefragt seien hier Bildungs- und Sozialpolitik. Angesichts des rigorosen Sparkurses, der die österreichische Bevölkerung erwarten wird, fĂŒrchtet Kittel jedoch, dass diese Probleme nicht PrioritĂ€t haben werden. âWas es bedeutet, dass hier eine Generation heranwĂ€chst, in der die Chancen noch stĂ€rker auseinanderdriften, wo viele abgehĂ€ngt werden, diese Probleme wird man erst in den nĂ€chsten Monaten und Jahren richtig sehen.â
âIn Wiener Volksschulen ist die Differenz zwischen den besten und den schlechtesten SchĂŒlern mehrere Jahre Lernleistung.â
Verlust des Gemeinsamen in Rekordtempo
Eine Entwicklung, die der Sozialwissenschaftler ebenfalls mit Sorge beobachtet, ist die Zunahme der Skepsis gegenĂŒber der Demokratie. Auch hier habe sich durch die Corona-Pandemie eine Entwicklung beschleunigt: âVon MĂ€rz bis November sehen wir hier VerĂ€nderungen in einem AusmaĂ, wie man sie sonst vielleicht in einem Zeitraum von fĂŒnf bis zehn Jahren beobachten kann.â Bereits in den vergangenen 30 Jahren sei mit der Liberalisierung der FinanzmĂ€rkte eine Spreizung der Einkommen und Vermögen zu beobachten, damit einhergehend eine Abkopplung von Gruppen an der gesellschaftlichen Teilhabe und eine Radikalisierung nicht unbetrĂ€chtlicher Teile der Bevölkerung. âDas fĂŒhrt zusehends in eine Situation, die das Gemeinsame â die gesellschaftliche SolidaritĂ€t und Integration â verliertâ, warnt Kittel.

Nur jeder Dritte will sich impfen lassen
Seit Beginn der Corona-Pandemie forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit unter Hochdruck an einem Impfstoff, der uns eine RĂŒckkehr zum alten Leben ermöglichen soll. Es ist Licht am Horizont und Ende 2020 soll in Ăsterreich mit der ersten Impfphase begonnen werden. Doch Kittels Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Die Impfbereitschaft hat von Mai bis Oktober 2020 stark abgenommen: Wollten sich im Mai 2020 noch etwa die HĂ€lfte der Bevölkerung ehestmöglich impfen lassen, so ist dieser Anteil bis Oktober 2020 auf ein Drittel gesunken. Unter den Impfgegnern hat sich die Skepsis noch verfestigt. Wobei die Impfbereitschaft nicht nur mit der Wahrnehmung der persönlichen GefĂ€hrdung, dem Alter und dem Geschlecht zusammenhĂ€ngt, sondern auch mit der Zufriedenheit mit der Regierungspolitik.
Es sind eher Ăltere, MĂ€nner, höher Gebildete und politisch eher links Positionierte, die bereit sind, sich impfen zu lassen. Frauen, die durch die Mehrbelastung in der Krise durch Pflege, Familienarbeit und Homeschooling wesentlich stĂ€rker getroffen sind, sind insgesamt unzufriedener und tendenziell weniger bereit, sich impfen zu lassen. Auch Menschen mit Lehrabschluss â stĂ€rker von Arbeitslosigkeit betroffen â sind unzufriedener und lehnen eine Impfung eher ab. Die gröĂten Impfgegnerinnen und Impfgegner aber findet man unter den erklĂ€rten NichtwĂ€hlerinnen und NichtwĂ€hlern. âDas sind Leute, die sehen sich nicht mehr als Teil der Gesellschaftâ, verdeutlicht Kittel.
Facebook statt seriöser Medien
Die Bereitschaft, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, hĂ€ngt auch davon ab, wo und wie man sich informiert und welche Medien man fĂŒr relevant erachtet. Die Studienergebnisse dazu nennt Kittel âschockierendâ: âEs gibt eine knallharte Differenzierung nach Bildungsstand, ob jemand seriöse Medien zu Rate zieht oder nur Facebook-EintrĂ€ge und Instagram-Posts.â Dass die MaĂnahmen zur BekĂ€mpfung der Pandemie die Bevölkerung spalten und gleichzeitig die Bereitschaft zu einer Impfung, mit der man sich selbst schĂŒtzt und die zur Ăberwindung der Krise beitrĂ€gt, abnimmt, ist paradox und eine beunruhigende Fehlentwicklung. Was also tun?
âEs braucht eine breite gesellschaftliche Diskussion ĂŒber die Impfung.â
Gesellschaftliche Diskussion statt Message-Control
âEs braucht eine breite gesellschaftliche Diskussionâ, sagt Kittel. Viele Menschen seien verunsichert, weil man noch wenig ĂŒber die in Rekordtempo erzeugten Impfstoffe weiĂ. In sozialen Netzwerken kursieren GerĂŒchte wie jenes, die neuartige RNA-Impfung verursache Krebs. DarĂŒber mĂŒsse man diskutieren. Kittel ortet hier ein VersĂ€umnis in der Kommunikation der Regierung: âDer Diskurs hat sich in die sozialen Medien verlegt, wo Verschwörungstheorien, unfundierte Meinungen und âalternative Faktenâ denselben Stellenwert bekommen wie wissenschaftlich geprĂŒfte Aussagen. Das sind die desaströsen Folgen einer Kommunikation, die auf Message-Control setzt, statt eine gesellschaftliche Diskussion anzuregen und sich dieser auf Augenhöhe zu stellen.â

Den gesellschaftlichen Konsens finden
Eine mögliche Strategie wĂ€re, eine sogenannte âDeliberative Pollâ durchzufĂŒhren. Das ist eine Methode, die besonders bei gesellschaftlich hoch kontroversiellen Themen zu nachhaltigen Lösungen fĂŒhren kann, da diese von einem GroĂteil der Bevölkerung getragen werden. Basis ist ein Pool aus einer reprĂ€sentativen Stichprobe der Bevölkerung, die gemeinsam mit verschiedenen Expertinnen und Experten diskutieren. Aus der Vielzahl divergierender Meinungen werden in einem diskursiven Prozess, der transparent ist und medial unterstĂŒtzt wird, Antworten auf die Frage erarbeitet, wie man als Gesellschaft mit der Krise umgehen soll. Der Vorteil: Jeder sieht sich mit seinen Interessen in diesem Stichproben-Pool vertreten und damit hat die Lösung eine breite Basis in der Bevölkerung. Der berĂŒhmteste Fall, wo diese Methode zu einem gesellschaftlichen Konsens gefĂŒhrt hat, war die Frage der Abtreibung in Irland, ein hoch kontroversielles Thema in diesem streng katholischen Land. Im Anschluss zu diesem Prozess stimmte das irische Volk am 25. Mai 2018 fĂŒr die Aufhebung des Abtreibungsverbotes. âAuch wenn es noch ein paar Gegnerinnen und Gegner gibt, aber die Gesellschaft hat sich in diesem Prozess geeinigtâ, berichtet Kittel von diesem demokratiepolitischen Erfolg.
âEs ist nie zu spĂ€t zu diskutierenâ
Der Sozialwissenschaftler ist ĂŒberzeugt, hĂ€tte man diesen Prozess in Ăsterreich in den Sommermonaten durchgefĂŒhrt, wĂ€re es möglich gewesen, bis September einen gesellschaftlichen Konsens ĂŒber viele Fragen zu finden. Warum dieser Weg nicht eingeschlagen wurde? âDiesen Prozess hĂ€tte man finanzieren und die Kontrolle abgeben mĂŒssen. Das entspricht nicht der Strategie unserer Regierungâ, stellt Kittel fest. Was aber muss die Politik tun, um das Vertrauen der Bevölkerung wieder zu gewinnen? âEs ist nie zu spĂ€t zu diskutierenâ, postuliert Bernhard Kittel. âIn dieser Situation mĂŒssten alle die parteipolitische Brille ablegen, ihre KonkurrenzkĂ€mpfe niederlegen und sich auf Lösungen konzentrieren.â
Hoffnung fĂŒr die Umwelt?
Mit der bevorstehenden Zulassung mehrerer Impfstoffe gibt es Hoffnung auf ein Ende der Pandemie â sofern sich ausreichend Menschen impfen lassen. Und wie steht es um die Hoffnung auf ein Umdenken fĂŒr den Klimaschutz? In Brasilien wird im Schatten der Pandemie der Regenwald in einem Tempo abgeholzt wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Pro Minute verschwinden drei FuĂballfelder Urwald. Satellitenbilder der brasilianischen Weltraumbehörde INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais) zeigen eine Zunahme der Rodungen im Juni 2020 um knappe 11 Prozent zum Vergleichszeitraum 2019. Zwischen August 2019 und Juli 2020 haben Rodungsfirmen insgesamt 11.000 Quadratkilometer Wald zerstört. Diese Zahlen sprechen fĂŒr sich. Aber auch Tatsachen wie jene, dass im Oktober die Heizschwammerl in den heimischen GastgĂ€rten aus dem Boden geschossen sind â ein Trend, der durch das Gebot des Abstandhaltens noch befeuert wird. FĂŒr konsequente Nachhaltigkeit braucht es wohl doch mehr als ein Virus.
Zur Person
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Bernhard Kittel erhielt im August 2020 als einer der Ersten eine Akutförderung des FWF, womit die Finanzierung seines Austrian Corona Panel weiter gesichert war. Mit der Arbeit an dieser gröĂten sozialwissenschaftlichen Corona-Studie in Ăsterreich begann er bereits Ende MĂ€rz. Seitdem werden monatlich 1.500 Menschen â eine fĂŒr das Land reprĂ€sentative Stichprobe â befragt und liefern Daten zu wichtigen Fragen ĂŒber den Umgang mit der Krise.
Der 53-jĂ€hrige in der Schweiz und den Niederlanden aufgewachsene Wiener studierte Politikwissenschaften an der UniversitĂ€t Wien und erhielt nach der Promotion einen Master in Social Science Data Analysis der University of Essex, GroĂbritannien. Er forschte am Max-Planck-Institut fĂŒr Gesellschaftsforschung in Köln, war Juniorprofessor fĂŒr Sozialpolitik an der UniversitĂ€t Bremen, Professor fĂŒr Soziologie an der UniversitĂ€t Amsterdam und Professor fĂŒr Methoden der empirischen Sozialforschung an der UniversitĂ€t Oldenburg, wo er von 2008 bis 2010 GrĂŒndungsdekan der FakultĂ€t fĂŒr Bildungs- und Sozialwissenschaften war. Seit MĂ€rz 2012 ist Bernhard Kittel Professor am Institut fĂŒr Wirtschaftssoziologie der UniversitĂ€t Wien.