Der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik ist ein genauer Beobachter des politischen Lebens in Österreich. © FWF/Martin Lusser

FWF: Die Politikwissenschaften seien angesichts des Erstarkens von populistischen und anti-demokratischen Bewegungen mehr denn je gefragt, erklärte unlängst ein Kollege Ihres Fachs in einem Kommentar. Stimmen Sie dem zu? Laurenz Ennser-Jedenastik: Wir beobachten, dass es seitens der Medien tatsächlich eine wachsende Nachfrage nach Expertise gibt, natürlich insbesondere vor Wahlen. Es gibt aber auch die politischen Trends, die dazu beitragen, dass unser Fach an Bedeutung gewinnt, dem stimme ich zu. In Österreich kommt hinzu, dass die empirische Forschung seit rund zehn Jahren stark zugenommen hat und wir uns sozusagen im Aufwärtstrend befinden. Es gibt also auch das Angebot, das eine wachsende Nachfrage mitbefördert. FWF: Sie sprechen unter anderem die groß angelegten nationalen Wahlstudien im Rahmen von AUTNES an. Das Projekt konnte 2009 mit Unterstützung des FWF ins Leben gerufen werden.

„Wir sind heute eines der Länder, das die beste empirische Basis hat.“ Laurenz Ennser-Jedenastik

Ennser-Jedenastik: Seitdem hat sich enorm viel getan. Wir haben heute eine komplett andere Datengrundlage. AUTNES ist eine integrierte Wahlstudie, die zu jeder Nationalratswahl durchgeführt wird. Sie berücksichtigt das Zusammenspiel von Parteienverhalten, Wahlverhalten und Medien, um besser zu verstehen, wie Demokratie in Österreich funktioniert. In Bezug darauf sind wir mittlerweile eines der Länder in Europa, das die beste empirische Basis hat. Darüber hinaus sind wir heute in den Politikwissenschaften international gut vernetzt. FWF: Nach knapp 18 Jahren gestalten die Freiheitlichen als Regierungsmitglied die politische Landschaft in Österreich wieder maßgeblich mit. Unter anderem fordert die FPÖ mehr direkte Demokratie. Brauchen wir eine Demokratiereform? Ennser-Jedenastik: Das kommt sehr stark auf die Ausgestaltung an. Darüber wissen wir wissenschaftlich gesehen noch zu wenig. Interessanterweise gibt es unter den Politikwissenschaftern, mit denen ich spreche, aber eine hohe Skepsis gegenüber direkter Demokratie. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir die Komplexität politischer Entscheidungen relativ gut kennen und wissen, dass sich diese nicht in Ja-Nein-Fragen erschöpfen. FWF: Sie sagen, den viel zitierten Wählerwillen gibt es nicht, da die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler zu heterogen sind und am Ende Institutionen bestimmen, wie die Wünsche des Wahlvolks umgesetzt werden. Ennser-Jedenastik: Der Wählerwille ist eine Fiktion. Er wird jedes Mal neu erzeugt durch die Art und Weise, wie man eine Frage stellt. Denn wie ich Leute vor eine Entscheidung stelle, hat einen extrem starken Einfluss auf das Ergebnis. – Das hat man bei der Brexit-Abstimmung gesehen. Es ist nicht gesagt, dass die Leute, die den Austritt wollten, alle dieselben Ziele vor Augen hatten und es war zudem offen, wie dieser Ausstieg aus der Europäischen Union vonstattengehen soll. Ein Problem der direkten Demokratie ist, das sie Dinge auf lange Zeit einzementiert, obwohl noch weitere Entscheidungen getroffen werden müssen. Ich wäre daher skeptisch, ob durch die Ausweitung der direkten Demokratie dem sogenannten Wählerwillen stärker Rechnung getragen werden kann. FWF: Gibt es Untersuchungen, ob sich die Österreicherinnen und Österreicher mehr direkte Mitsprache wünschen? Ennser-Jedenastik: Es gibt ein paar Datenpunkte, die das nahelegen, aber aus diesen lässt sich nicht ablesen, was sich die Leute genau wünschen. Die Leute wollen insgesamt mehr mitreden. Es liegt jetzt an den politischen Eliten, diesen Wunsch in einen institutionellen Rahmen zu gießen, der sinnvoll ist. Dazu haben wir eine repräsentative Demokratie. Denn in vielen Dingen ist es unmöglich, direkt demokratisch zu entscheiden. Dafür braucht es Prozesse, in denen verschiedene Interessen berücksichtigen werden können. FWF: Woher rührt das sinkende Vertrauen in die politischen Institutionen? Ennser-Jedenastik: Das ist meines Erachtens eher ein Narrativ, das in der Öffentlichkeit herumgeistert. Die Trends sind seit 10 bis 15 Jahren relativ konstant. Im Vergleich mit anderen Ländern hat Österreich nach wie vor ein deutlich höheres Vertrauen in das Parlament, die Regierung und in Institutionen wie Justiz oder Polizei. Aber wenn man die aktuelle Situation betrachtet, dann gibt es schon auch ein großes Potenzial an Leuten, die nicht wahnsinnig zufrieden sind mit dem, wie das politische System funktioniert. FWF: Und deshalb wird das Wählerverhalten zunehmend wechselhaft? Ennser-Jedenastik: Ein wichtiger Faktor ist hier, dass junge Leute viel weniger stark in traditionelle Parteiumfelder eingebettet sind als noch ihre Eltern. Bei Personen ab 55 Jahren ist fast jede Fünfte Mitglied einer Partei. Bei den Jüngeren sind es zwei Prozent. Was wir in Österreich mit Blick auf die Bundesländer beobachten ist, dass sich heute die Parteien anderen politischen Organisationen gegenüber stärker öffnen. – Da ist die Zukunft vorweggenommen: Das Wahlverhalten wird noch volatiler werden, und Parteien halten sich nicht mehr so lange.

„Es ist nicht so, dass politische Inhalte keine Rolle mehr spielen. “ Laurenz Ennser-Jedenastik

Unzufriedenheit allgemein scheint mir aber ein überschätzter Faktor zu sein. – Zur Erinnerung: Die vergangene SPÖ-ÖVP-Regierung ist nicht abgewählt worden, beide Parteien haben Stimmen gewonnen. Ich glaube nicht, dass es einen allgemeinen Frust mit der Regierung gab, sondern eine Unzufriedenheit damit, dass wenig weitergebracht wurde. Unzufriedenheit hat jedoch immer unterschiedliche Ursachen. Nicht alle, die den Reformstau bemängeln, haben dieselben Sachen im Sinn. Es ist also nicht so, dass politische Inhalte keine Rolle mehr spielen. Die Unzufriedenheit per se wird nicht zur alleinigen wahlentscheidenden Komponente. FWF: Sie haben bereits erwähnt, dass die österreichische Wahlforschung auch das Verhalten der Medien berücksichtigt. Wie beurteilen Sie die Qualität der politischen Berichterstattung im wachsenden Wettbewerb um Quoten? Ennser-Jedenastik: Wählerinnen und Wähler, die sich über relevante Themen informieren wollen, haben sicherlich die Möglichkeit dazu, wenngleich ein Großteil der Berichterstattung von Dingen handelt, die wenig bedeutend sind. – Aber das ist kein Österreich-Spezifikum, die Zahl der TV-Shows rund um Wahlkämpfe hingegen schon. Aus ökonomischer Sicht macht das für die Medien Sinn, aber es hat kaum einen Effekt auf das Wahlverhalten.  Das zeigt das Beispiel der vorgezogenen Nationalratswahlen 2017: Im Mai erfolgte der Wechsel an der ÖVP-Spitze und dann kam die Abspaltung der Liste Pilz von den Grünen. Ab diesem Zeitpunkt ist in den Umfragen nichts mehr passiert, obwohl bis zur Wahl der Silberstein-Skandal hinzukam, die SPÖ insgesamt eine eher verkorkste und die ÖVP eine gut laufende Kampagne hinlegte.

Die Politikwissenschaft befinde sich im Aufwärtstrend, sagt Laurenz Ennser-Jedenastik. Österreich zieht internationale Wissenschafterinnen und Wissenschafter an. © FWF/Martin Lusser

FWF: Sie selbst machen sich als Wissenschafter die digitalen Medien zunutze. Sie bloggen in einem österreichischen Qualitätsmedium und sind auch auf Twitter sehr aktiv. Was motiviert Sie zu diesen zusätzlichen Aufgaben? Ennser-Jedenastik: Wir leben von öffentlichen Geldern und haben daher auch eine entsprechende Verantwortung, das, was wir forschen, in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich sehe es daher als Teil meiner Aufgabe als Wissenschafter. Zudem gibt es eben auch ein gewisses öffentliches Interesse an politikwissenschaftlicher Forschung und damit eine Öffentlichkeit, die man bedienen kann. Viel von dem, was wir in der politischen Diskussion sehen, ist stark von Meinung und nicht von Evidenz getrieben. Wenn ich einen Beitrag dazu leisten kann, dass sich das verschiebt, ist viel gewonnen. FWF: Vor Kurzem wurde AUSSDA – The Austrian Social Science Data Archive – ins Leben gerufen, eine digitale Plattform, die sozialwissenschaftliche Daten zugänglich macht. Auch die Analysen und Statistiken aus der Wahlforschung sind hier öffentlich abrufbar. Welche Rolle kommt dem offenen Zugang zu Publikationen und Forschungsdaten in den Sozialwissenschaften zu?  Ennser-Jedenastik: Der Weg muss sicherlich in Richtung Öffnung gehen, denn der derzeitige Zustand ist völlig unbefriedigend. Dass Wissenschafter gratis Publikationen bereitstellen, die dann von Verlagen gegen viel Geld veröffentlicht werden, ist kein tragfähiges System. Die Digitalisierung eröffnet nun Möglichkeiten, uns davon stückweise zu emanzipieren, auch wenn der Weg noch nicht ganz klar ist. Ich erachte es als wesentlich, dass wir uns in den Sozialwissenschaften kollektiv organisieren, um nachhaltige Lösungen durchzusetzen.

„Der derzeitige Zustand ist völlig unbefriedigend. “ Laurenz Ennser-Jedenastik

FWF: Die Digitalisierung der Arbeitswelt erfordert auch in den akademischen Berufen neue Arbeitsweisen und Qualifikationen. Welche Anforderungen werden heute an angehende Sozialwissenschafterinnen und Sozialwissenschafter gestellt? Ennser-Jedenastik: Wir müssen in Österreich die Methodenausbildung stärken, sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Bereich. Das liegt nicht per se an der Digitalisierung, ist aber ein Trend, der das mitbefördert. Wichtig ist es daher heute, dem Nachwuchs die richtigen Werkzeuge in die Hand zu geben. FWF: Bis vor einigen Jahren hatten die Sozialwissenschaften mit die geringsten Bewilligungsquoten beim FWF. Das hat sich in den vergangenen Jahren schrittweise verbessert. Worin sehen Sie die Ursachen und wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial? Ennser-Jedenastik: Wir sind in einem Wandlungsprozess, der die Sozialwissenschaften verändern wird. Die Politikwissenschaft etwa ist heute deutlich stärker internationalisiert und gut vernetzt. Da hat sich in relativ kurzer Zeit sehr viel getan. So steigt sowohl das Level als auch der Wettbewerb. Wir müssen daher jungen Leuten die Fähigkeiten geben, sich in einem kompetitiven Umfeld zu bewähren. Dazu braucht es ein attraktives Forschungs- und Förderungsumfeld sowie eine entsprechende Ausstattung der Universitäten. Hier sehe ich momentan die größte Baustelle. FWF: Welche konkreten Maßnahmen für die Wissenschaft wünschen Sie sich von der neuen Regierung? Ennser-Jedenastik: Wenn die Aufstockung des FWF-Budgets tatsächlich so kommt, wie vorgesehen, wäre das sicherlich ein großer Fortschritt. Wenn noch dazu in der Universitätspolitik dazu übergegangen wird, den Zugang zum Studium rationaler zu organisieren, die Universitäten besser auszustatten und Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter denen wir besser betreuen können, dann wäre schon einiges passiert. FWF: Sie haben auch ein Studium in Komposition und Musiktheorie abgeschlossen. Warum haben Sie sich für die Politikwissenschaft entschieden, und hat die Musik Einfluss auf Ihre jetzige Tätigkeit? Ennser-Jedenastik: Das Interesse für die Politikwissenschaft hatte ich immer schon und somit habe ich den Fokus schließlich auf das „solide“ Fach gelegt. Das Musikstudium ist aber eine extrem interessante Ausbildung, die den Blick für viele verschiedene Dinge öffnet. Man lernt auf eine andere Art zuzuhören und nachzudenken, das ist für meinen jetzigen Beruf sicher nicht von Nachteil.


Laurenz Ennser-Jedenastik hat Komposition und Musiktheorie sowie Politikwissenschaft in Wien studiert. In seiner Dissertation befasste er sich mit der Postenvergabe bei staatsnahen Unternehmen. Im Rahmen eines Erwin-Schrödinger-Stipendiums des FWF forschte Ennser-Jedenastik 2013 an der Universität Leiden in den Niederlanden. Seine Forschungsinteressen fokussieren auf politische Parteien, Wahlverhalten, politische und administrative Eliten und staatliche Institutionen. Ennser-Jedenastik ist Universitätsassistent am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.


Mehr zum Thema

> Wahlforschungsprojekt AUTNES
> Datenarchiv AUSSDA
> FWF-Projekt: Regulierungsbehörden mögen Parteibücher
> Blog: Standardabweichung