Die IWF-Generation: Entwicklungshilfe im Spiegel afrikanischer Literatur

Ganz Afrika steht in den Augen vieler EuropĂ€er:innen fĂŒr wenige Schlagworte: Kolonialismus, blutige Konflikte, BodenschĂ€tze, Hunger, Not und FlĂŒchtlinge. Ein Ă€uĂerst grobmaschiges Bild des zweitbevölkerungsreichsten Kontinents, der vier Klimazonen umfasst und aus 54 Staaten besteht, scheint sich verfestigt zu haben: Der riesige und vielfĂ€ltige Erdteil ist hilfsbedĂŒrftig. Nach dem Ende europĂ€ischer Kolonialregime in den 1960er-Jahren machten sich internationale Institutionen und NGOs daran, in Afrika âEntwicklungshilfeâ zu leisten. Neben eigenem Personal brachten sie ihre Ideen zu Entwicklung und einem guten Leben fĂŒr alle mit. Martina Kopf vom Institut fĂŒr Afrikawissenschaften der UniversitĂ€t Wien begibt sich, unterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF, auf die Suche nach einem âGegenentwurf und Perspektivenwechselâ zu den hartnĂ€ckigen Klischees. FĂŒndig wurde sie u. a. in der reichen kenianischen Literatur englischsprachiger Autor:innen. Dazu gehören der langjĂ€hrige Kandidat fĂŒr den Literaturnobelpreis Ngugi wa Thiong'o oder auch Binyavanga Wainaina (1971â2019), MitgrĂŒnder der kenianischen Literaturinitiative Kwani.
Lokale Perspektive in der Literatur
In fiktionaler und autobiografischer Literatur steht genau beschrieben, wie sich Jahrzehnte gut gemeinter Entwicklungszusammenarbeit und Strukturanpassungsprogramme des Internationalen WĂ€hrungsfonds (IWF) sowie der Weltbank auswirkten. Wie es sich anfĂŒhlte, als hilfs- und entwicklungsbedĂŒrftig qualifiziert zu werden. Wie passend Strukturen waren und welche Ideen von sozialem Wandel und gutem Leben es vor Ort gab und gibt. Die Afrika- und Literaturwissenschaftlerin Kopf bekennt sich zu ihrer transdisziplinĂ€ren Forschung. FĂŒr sie ist Literatur âein guter Ort, um einen Dialog darĂŒber zu fĂŒhren, was woanders gedacht und geschrieben wirdâ. Viele kenianische Autor:innen wĂŒrden ihr Schreiben als soziales Engagement verstehen. âEin Historiker an der Moi UniversitĂ€t in Eldoret erinnerte mich nach einer PrĂ€sentation und der von mir im Projekt verwendeten Literatur daran, dass sich die gesamte moderne kenianische Literatur um Entwicklung drehtâ, erzĂ€hlt die Wissenschaftlerin von einem ihrer Forschungsaufenthalte in Afrika.

Eine kurze Geschichte Kenias
âEs ist wichtig zu verstehen, dass bis zur kolonialen Eroberung und der willkĂŒrlich festgelegten Grenzen, aus der die heutigen Nationalstaaten hervorgegangen sind, souverĂ€ne Regierungssysteme existiertenâ, betont Kopf und ergĂ€nzt: âNeben einer reichen mĂŒndlichen Kultur in mehreren afrikanischen Sprachen gibt es in Kenia mit Swahili auch eine Sprache mit langer Schrifttradition. Es gab Gesundheits-, Religions-, Bildungs-, Handels- und politische Strukturen, die funktionierten.â Nach dem Abzug der Kolonialherren wurden â am Beispiel Kenias â die durch den Kolonialstaat geschaffenen Strukturen fortgesetzt. Gleichzeitig herrschte Aufbruchsstimmung und die Regierung investierte in Bildungs- und Sozialprogramme. Die Mittelschicht der Siebzigerjahre, in die auch Binyavanga Wainaina hineingeboren wurde, lebte Ă€hnlich wie Mittelschichten in Europa und den USA, eingebunden in eine englischsprachige Kultur mit der TV-Serie âDallasâ und der Musik von Boney M. FĂŒr viele Menschen in Europa und den USA hingegen wurde das Live-Aid-Konzert 1985, organisiert von Bob Geldof und Midge Ure, besonders prĂ€gend fĂŒr ihr Afrikabild. In Folge einer u. a. durch den Einbruch von Rohstoffpreisen und durch VerĂ€nderungen am globalen Kapitalmarkt verursachten Schuldenkrise erlegten dann der IWF und die Weltbank der kenianischen Regierung, wie auch anderen afrikanischen Staaten, bis in die 1990er-Jahre Sparprogramme auf, die die Aufbauarbeit der Menschen vor Ort aushebelten und die Kosten fĂŒr Bildung in die Höhe schnellen lieĂen. âMan ĂŒberlege sich nur, was in Europa los wĂ€re, wenn wĂ€hrend Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise statt Investitionen nur Sparprogramme gefahren wĂŒrdenâ, zieht Kopf einen aktuellen Vergleich.
Die IWF-Generation â von der Elite zum HilfeempfĂ€nger
FĂŒr eine gute Ausbildung schickten die Eltern Binyavanga Wainaina nach SĂŒdafrika, weil die Situation an kenianischen UniversitĂ€ten in den 1990ern zu schwierig geworden war. In die LĂŒcke im Sozialwesen, die der Staat hinterlieĂ, schmiegten sich internationale NGOs. In Kenia verdreifachte sich ihre Zahl von 1978 bis 1988 auf 134. Wainaina, Jahrgang 1971, prĂ€gt in seinen Memoiren âOne Day I Will Write About This Placeâ den Begriff der âIWF-Generationâ fĂŒr VerĂ€nderungen, die Kinder der Mittelschicht erlebten. Seine Generation war angetreten, um die Zukunft Kenias zu gestalten und zu bestimmen. Sprechend ist sein Beispiel von schwedischen Expats, die an der Schule in Nakuru eine Biogasanlage vorfĂŒhren, die eine GlĂŒhbirne zum Leuchten bringt. Eine Lösung mit Kuhdung, die wohl in keinem schwedischen Haushalt je Anwendung fand. Die kĂŒnftige Elite fĂŒhlte sich zurĂŒckgeworfen auf ein Image der HilfsbedĂŒrftigkeit und die Tatsache, dass fĂŒr passende Lösungen von auĂen kaum je lokale Expertise einbezogen wurde.
In Kopfs Elise-Richter-Projekt wird die transdisziplinĂ€re Diskussion ĂŒber wirtschaftliche und soziale Entwicklung â als Gedanke und in der Praxis â durch Literatur (wieder) angestoĂen. Die Grundidee lautet: Was brauchen Gesellschaften, um ihr Potenzial zu entfalten und ein gutes Leben fĂŒr alle zu ermöglichen? FĂŒr die Wissenschaftlerin ist es offenkundig, dass gerade postkoloniale kenianische Autor:innen wichtige Themen literarisch aufgreifen und den nötigen Perspektivenwechsel ermöglichen ĂŒber Themen wie: nationale Versöhnung im Vielvölkerstaat, Klassenfragen, GeschlechterverhĂ€ltnisse, die eigene Geschichte oder anhaltende Rassentrennung in den StĂ€dten. Angesichts der GeringschĂ€tzung kenianischer BildungsabschlĂŒsse in Europa und ihres unternehmerischen Denkens, wie Kopf das auch in der Wiener Exil-Community beobachtet, hĂ€lt die Wissenschaftlerin fest: âWir leben in einer globalisierten Welt und arbeiten zusammen. Wir mĂŒssen also wissen, wer âdie anderenâ sind und was sie alles beitragen können.â
Zur Person
Martina Kopf ist Senior Lecturer fĂŒr Afrikanische Literaturen an der UniversitĂ€t Wien. Sie beschĂ€ftigt sich mit Entwicklungstheorie und -kritik im Schreiben afrikanischer Autor:innen (Kenia) und mit der Ideengeschichte von Entwicklung in Afrika. DarĂŒber hinaus arbeitet sie zu afro-feministischem und intersektionalem feministischem Denken sowie zu Fragen literarischer Zeugenschaft (Genozid in Ruanda und sexualisierte Gewalt). Sie war Fellow am Centre for Global Cooperation Research in Deutschland, Gastprofessorin am Institut fĂŒr Internationale Entwicklung in Wien und hat Forschungserfahrung in Kenia, Senegal und Kamerun. Das Forschungsprojekt Konzepte von Entwicklung in Kenias postkolonialer Literatur wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit knapp 270.000 Euro finanziert.
Publikationen
Kopf, Martina: Binyavanga Wainainaâs Narrative of the IMF-Generation as Development Critique, in: Journal of African Cultural Studies, 34(3), 325â341, 2022
Kopf, Martina: African Cultural Imaginaries and (Post-)Development Thought, in: Journal of African Cultural Studies 34(3), 239â242, 2022
Kopf M. and Waldburger D. (Hg.): Special Section on Literature and Literary Studies in Kenya, in: Stichproben â Vienna Journal of African Studies Nr. 39, 2020
Kopf, Martina: At Home with Nairobiâs Working Poor: Reading Meja Mwangiâs Urban Novels, in: Martina Barker-Ciganikova et al. (Hg.): The Politics of Housing in (Post-)Colonial Africa, 98â120, De Gruyter Oldenbourg 2020