Der kenianische Autor Binyavanga Wainaina (1971–2019)
Der kenianische Autor Binyavanga Wainaina (1971–2019) prägte den Begriff „IWF-Generation“ als Ausdruck seiner kritischen Haltung zur postkolonialen Entwicklungshilfe. © Simon Maina/AFP/picturedesk.com

Ganz Afrika steht in den Augen vieler Europäer:innen für wenige Schlagworte: Kolonialismus, blutige Konflikte, Bodenschätze, Hunger, Not und Flüchtlinge. Ein äußerst grobmaschiges Bild des zweitbevölkerungsreichsten Kontinents, der vier Klimazonen umfasst und aus 54 Staaten besteht, scheint sich verfestigt zu haben: Der riesige und vielfältige Erdteil ist hilfsbedürftig. Nach dem Ende europäischer Kolonialregime in den 1960er-Jahren machten sich internationale Institutionen und NGOs daran, in Afrika „Entwicklungshilfe“ zu leisten. Neben eigenem Personal brachten sie ihre Ideen zu Entwicklung und einem guten Leben für alle mit. Martina Kopf vom Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien begibt sich, unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF, auf die Suche nach einem „Gegenentwurf und Perspektivenwechsel“ zu den hartnäckigen Klischees. Fündig wurde sie u. a. in der reichen kenianischen Literatur englischsprachiger Autor:innen. Dazu gehören der langjährige Kandidat für den Literaturnobelpreis Ngugi wa Thiong'o oder auch Binyavanga Wainaina (1971–2019), Mitgründer der kenianischen Literaturinitiative Kwani.

Lokale Perspektive in der Literatur

In fiktionaler und autobiografischer Literatur steht genau beschrieben, wie sich Jahrzehnte gut gemeinter Entwicklungszusammenarbeit und Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der Weltbank auswirkten. Wie es sich anfühlte, als hilfs- und entwicklungsbedürftig qualifiziert zu werden. Wie passend Strukturen waren und welche Ideen von sozialem Wandel und gutem Leben es vor Ort gab und gibt. Die Afrika- und Literaturwissenschaftlerin Kopf bekennt sich zu ihrer transdisziplinären Forschung. Für sie ist Literatur „ein guter Ort, um einen Dialog darüber zu führen, was woanders gedacht und geschrieben wird“. Viele kenianische Autor:innen würden ihr Schreiben als soziales Engagement verstehen. „Ein Historiker an der Moi Universität in Eldoret erinnerte mich nach einer Präsentation und der von mir im Projekt verwendeten Literatur daran, dass sich die gesamte moderne kenianische Literatur um Entwicklung dreht“, erzählt die Wissenschaftlerin von einem ihrer Forschungsaufenthalte in Afrika.

Ngugi wa Thiong’o
Ngugi wa Thiong’o zählt zu den bedeutendsten Schriftsteller:innen Ostafrikas. Der für den Nobelpreis nominierte Autor schreibt in seiner afrikanischen Sprache Kikuyu. Seine Werke lenken den Blick auf die Ungleichheiten in Kenias postkolonialer Gesellschaft. Hier: Ngugi wa Thiong‘o und Martina Kopf bei einer Lesung an der Universität Wien 2017. © E. Christiansen

Eine kurze Geschichte Kenias

„Es ist wichtig zu verstehen, dass bis zur kolonialen Eroberung und der willkürlich festgelegten Grenzen, aus der die heutigen Nationalstaaten hervorgegangen sind, souveräne Regierungssysteme existierten“, betont Kopf und ergänzt: „Neben einer reichen mündlichen Kultur in mehreren afrikanischen Sprachen gibt es in Kenia mit Swahili auch eine Sprache mit langer Schrifttradition. Es gab Gesundheits-, Religions-, Bildungs-, Handels- und politische Strukturen, die funktionierten.“ Nach dem Abzug der Kolonialherren wurden – am Beispiel Kenias – die durch den Kolonialstaat geschaffenen Strukturen fortgesetzt. Gleichzeitig herrschte Aufbruchsstimmung und die Regierung investierte in Bildungs- und Sozialprogramme. Die Mittelschicht der Siebzigerjahre, in die auch Binyavanga Wainaina hineingeboren wurde, lebte ähnlich wie Mittelschichten in Europa und den USA, eingebunden in eine englischsprachige Kultur mit der TV-Serie „Dallas“ und der Musik von Boney M. Für viele Menschen in Europa und den USA hingegen wurde das Live-Aid-Konzert 1985, organisiert von Bob Geldof und Midge Ure, besonders prägend für ihr Afrikabild. In Folge einer u. a. durch den Einbruch von Rohstoffpreisen und durch Veränderungen am globalen Kapitalmarkt verursachten Schuldenkrise erlegten dann der IWF und die Weltbank der kenianischen Regierung, wie auch anderen afrikanischen Staaten, bis in die 1990er-Jahre Sparprogramme auf, die die Aufbauarbeit der Menschen vor Ort aushebelten und die Kosten für Bildung in die Höhe schnellen ließen. „Man überlege sich nur, was in Europa los wäre, wenn während Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise statt Investitionen nur Sparprogramme gefahren würden“, zieht Kopf einen aktuellen Vergleich.

Die IWF-Generation – von der Elite zum Hilfeempfänger

Für eine gute Ausbildung schickten die Eltern Binyavanga Wainaina nach Südafrika, weil die Situation an kenianischen Universitäten in den 1990ern zu schwierig geworden war. In die Lücke im Sozialwesen, die der Staat hinterließ, schmiegten sich internationale NGOs. In Kenia verdreifachte sich ihre Zahl von 1978 bis 1988 auf 134. Wainaina, Jahrgang 1971, prägt in seinen Memoiren „One Day I Will Write About This Place“ den Begriff der „IWF-Generation“ für Veränderungen, die Kinder der Mittelschicht erlebten. Seine Generation war angetreten, um die Zukunft Kenias zu gestalten und zu bestimmen. Sprechend ist sein Beispiel von schwedischen Expats, die an der Schule in Nakuru eine Biogasanlage vorführen, die eine Glühbirne zum Leuchten bringt. Eine Lösung mit Kuhdung, die wohl in keinem schwedischen Haushalt je Anwendung fand. Die künftige Elite fühlte sich zurückgeworfen auf ein Image der Hilfsbedürftigkeit und die Tatsache, dass für passende Lösungen von außen kaum je lokale Expertise einbezogen wurde.

In Kopfs Elise-Richter-Projekt wird die transdisziplinäre Diskussion über wirtschaftliche und soziale Entwicklung – als Gedanke und in der Praxis – durch Literatur (wieder) angestoßen. Die Grundidee lautet: Was brauchen Gesellschaften, um ihr Potenzial zu entfalten und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen? Für die Wissenschaftlerin ist es offenkundig, dass gerade postkoloniale kenianische Autor:innen wichtige Themen literarisch aufgreifen und den nötigen Perspektivenwechsel ermöglichen über Themen wie: nationale Versöhnung im Vielvölkerstaat, Klassenfragen, Geschlechterverhältnisse, die eigene Geschichte oder anhaltende Rassentrennung in den Städten. Angesichts der Geringschätzung kenianischer Bildungsabschlüsse in Europa und ihres unternehmerischen Denkens, wie Kopf das auch in der Wiener Exil-Community beobachtet, hält die Wissenschaftlerin fest: „Wir leben in einer globalisierten Welt und arbeiten zusammen. Wir müssen also wissen, wer ‚die anderen‘ sind und was sie alles beitragen können.“


Zur Person

Martina Kopf ist Senior Lecturer für Afrikanische Literaturen an der Universität Wien. Sie beschäftigt sich mit Entwicklungstheorie und -kritik im Schreiben afrikanischer Autor:innen (Kenia) und mit der Ideengeschichte von Entwicklung in Afrika. Darüber hinaus arbeitet sie zu afro-feministischem und intersektionalem feministischem Denken sowie zu Fragen literarischer Zeugenschaft (Genozid in Ruanda und sexualisierte Gewalt). Sie war Fellow am Centre for Global Cooperation Research in Deutschland, Gastprofessorin am Institut für Internationale Entwicklung in Wien und hat Forschungserfahrung in Kenia, Senegal und Kamerun. Das Forschungsprojekt Konzepte von Entwicklung in Kenias postkolonialer Literatur wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit knapp 270.000 Euro finanziert.


Publikationen

Kopf, Martina: Binyavanga Wainaina’s Narrative of the IMF-Generation as Development Critique, in: Journal of African Cultural Studies, 34(3), 325–341, 2022

Kopf, Martina: African Cultural Imaginaries and (Post-)Development Thought, in: Journal of African Cultural Studies 34(3), 239–242, 2022

Kopf M. and Waldburger D. (Hg.): Special Section on Literature and Literary Studies in Kenya, in: Stichproben – Vienna Journal of African Studies Nr. 39, 2020

Kopf, Martina: At Home with Nairobi’s Working Poor: Reading Meja Mwangi’s Urban Novels, in: Martina Barker-Ciganikova et al. (Hg.): The Politics of Housing in (Post-)Colonial Africa, 98–120, De Gruyter Oldenbourg 2020