GebĂ€rdensprache verfĂŒgt, wie Lautsprache, ĂŒber eine komplexe Struktur. Ein österreichisches Forscherteam erarbeitet nun dessen Grammatik. © Xenia DĂŒrr/signnonmanuals

Es ist die Sprache, die Homo sapiens vom Tier unterscheidet. Ein komplex aufgebautes System, in welchem sich kleinere zu grĂ¶ĂŸeren Einheiten verbinden, zu SĂ€tzen, zu Aussagen. Sie wird gesprochen, sie wird geschrieben – und sie wird gebĂ€rdet. „In der GebĂ€rdensprache“, sagt Franz Dotter, „finden wir alle Erscheinungen, die wir aus gesprochenen Sprachen kennen, eben nur visuell ausgedrĂŒckt.“ Sie ist kein Hilfskonstrukt, vielmehr eine vollwertige Sprache, ein Mittel der Kommunikation. Und doch ist sie in manchen Bereichen schlichtweg terra incognita. Wie, zum Beispiel, wird in GebĂ€rde betont? Wie erfolgen Segmentierung und Strukturierung von Texten, wenn die Instrumente der Tonhöhe, des Stimmfalls, der LautstĂ€rke nicht zur VerfĂŒgung stehen? „Durch Pausen“, so Dotter, „durch Pausen und durch bewusste Hinweise (Anzeiger), wie Blinzeln, durch Haltung der HandflĂ€chen, durch BewegungsverĂ€nderungen, Blicke, Kopf- und Körperbewegungen.“

Gestik – der GebĂ€rdensprache evolutionĂ€rer Nachbar

Das ist der Kern des vom Wissenschaftsfonds FWF unterstĂŒtzten Projekts „Segmentation und Strukturierung von Texten in Österreichischer GebĂ€rdensprache (ÖGS)“, welches Franz Dotter  am Zentrum fĂŒr GebĂ€rdensprache und Hörbehindertenkommunikation der Alpen-Adria-UniversitĂ€t Klagenfurt leitet. Es bestimmt mithilfe zweier Methoden zur Ermittlung und Analyse manuelle und nicht-manuelle Elemente in gebĂ€rdeten Texten. „Wir haben ÖGS- Muttersprachlerinnen und Muttersprachler wie auch Personen ohne ÖGS-Kompetenz angewiesen, gebĂ€rdete Texte zu segmentieren und die Anzeiger anzugeben.“ Dabei zeigte sich, dass gerade Anzeiger, die mit der Hand vollfĂŒhrt werden und auch Pausen, von beiden Gruppen erkannt werden. Von Personen, die der GebĂ€rde nicht mĂ€chtig sind, immerhin zu 40 Prozent. Anders verhĂ€lt es sich bei nicht-manuellen Anzeigern, wie Blicken, Kopf- und Körperbewegung, die fast ausschließlich von der Gruppe der Muttersprachlerinnen und Muttersprachler verstanden werden. „GebĂ€rdensprachen sind immer schon ein Mittel der Kommunikation gewesen; sogar fĂŒr hörende Menschen“, so Dotter, „das wissen wir aus Australien wie aus Amerika, wo sie fĂŒr ein Tabu, fĂŒr etwas, das nicht in gesprochene Worte gefasst werden durfte, eingesetzt wurde, wie auch zur Kommunikation zwischen verschiedenen StĂ€mmen.“ Die Gestik, welche gesprochene Sprachen begleitet, ist in gewissem Sinn ein evolutionĂ€rer „Nachbar“ der GebĂ€rdensprachen: Ihre Hand- und Körperbewegungen sind wie die Mimik als sogenannte „Körpersprache“ allĂŒberall vorhanden. Die spazierenden Finger ĂŒber dem HandrĂŒcken, die dem GegenĂŒber unauffĂ€llig den baldigen Aufbruch andeuten, die Geste des Fingers an den Lippen, das Wischen und Wedeln, das Dirigieren, welches unbewusst mit dem Akt des Sprechens einhergeht.

GebĂ€rdensprache – kein Kunstprodukt

Wie die GebĂ€rdensprache gehörloser Menschen entstanden ist, das entzieht sich exakter Bestimmung, erklĂ€rt Dotter. „Sie wird wohl schon lange in Gehörlosengemeinschaften gebraucht worden sein. Ab etwa 1770 beginnt von Frankreich ausgehend die systematische Unterweisung von Gehörlosen in GebĂ€rdensprache. Der Unterricht in ihr ist ein Produkt der AufklĂ€rung – und damals schon mit dem Anspruch verbunden, dass wenn es eine GebĂ€rde aus der Gemeinschaft gibt, man keine neue erfinden braucht.“ GebĂ€rdensprache ist kein Kunstprodukt. 1880 indes erfolgt ein Bruch. Gehörlose sollen sprechen, nicht sich der GebĂ€rdensprache bedienen, fordern die „Oralisten“. Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren erlebt sie ihre Renaissance und wird als vollwertige Sprache anerkannt. Mit ein Grund dafĂŒr, dass sie in der Öffentlichkeit heute als ein neues PhĂ€nomen wahrgenommen wird – und damit auch erst seit relativ kurzer Zeit Gegenstand der Forschung ist. „Es ist hochinteressant, in die Entwicklung einer Sprache Einblick zu nehmen“, kommentiert Dotter diesen Umstand.

Nicht-manuelle Signale wie Mimik oder Körperhaltung spielen eine zentrale Rolle in der GebĂ€rdensprache. © Andrea Lackner/signnonmanuals

Nicht-manuelle Elemente – Kennzeichnung spezieller Informationen

Im Zuge des Projekts kamen Dialoge und Monologe, Kurzgeschichten, Witze, freie ErzĂ€hlungen, GedankengĂ€nge und LebenslĂ€ufe zum Einsatz. WĂ€hrend manuelle Zeichen auch fĂŒr Sprecherinnen und Sprecher in weiten Bereichen erkenn- und zuordenbar sind, verhĂ€lt es sich bei nicht-manuellen Grenzsignalen der Sprache deutlich anders. Hier kommen Kopfbewegungen wie Nicken, KopfschĂŒtteln oder Kopfbewegungen nach oben, unten oder seitlich, Bewegungen des Oberkörpers bis hin zu Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere, Bewegungen der Augenbrauen, der Wechsel der Blickrichtung und Blinzeln zum Tragen. Damit können Negation, KonditionalitĂ€t, hypothetische Gedanken oder Alternativen, temporale oder kausale Beziehungen ausgedrĂŒckt werden. Also Bereiche, die in der gesprochen Sprache vor allem durch die Intonation, durch LautstĂ€rke und Stimmlage Betonung (im Sinne des Wortes) erfahren.

Blickrichtung – der GebĂ€rdensprache Grammatik

„Das Team um Projektmitarbeiterin Andrea Lackner hat die nicht-manuellen Elemente untersucht“, fĂŒhrt Dotter aus, „dazu mussten zum Beispiel erst alle Blickrichtungswechsel verzeichnet werden bevor sie ĂŒberprĂŒft werden konnten.“ Wo bei Sprecherninnen und Sprechern der Blick bisweilen schweifen kann, ohne dass dem Bedeutung zukommt, kommt dem Blick in der GebĂ€rdensprache die Funktion eines Ankers zu. „Wenn ich eine abwesende Person zuerst mit einem Index (hinweisendes Zeigewort, Anm.) im Raum verorte und spĂ€ter in der Unterhaltung dorthin schaue, dann wissen meine Partnerinnen und Partner immer, dass ich ĂŒber diese Person spreche“, verdeutlicht Dotter. „Bei Sprecherninnen und Sprechern kann der Blick ein Signal sein, in der GebĂ€rdensprache ist er Bestandteil der Grammatik.“ Die Resultate des Projekts sind essenziell fĂŒr GebĂ€rdensprachgrammatiken und den typologischen Vergleich zwischen Laut- und GebĂ€rdensprachen. FĂŒr den Unterricht in ÖGS stellen die Ergebnisse des Projekts somit einen wesentlichen Beitrag dar. Schlusspunkt ist damit noch keiner erreicht. Dotter: „In GebĂ€rdensprachen ist alles drin. Von alltĂ€glichen GesprĂ€chen und konkreten Begriffen bis hin zu Metaphern, Abstraktionen und akademischem Spezialvokabular.“ – Ein weites Feld.


Zu den Personen Franz Dotter ist außerordentlicher Professor emeritus an der FakultĂ€t fĂŒr Kulturwissenschaften an der Alpen-Adria-UniversitĂ€t Klagenfurt. Von 1996 bis 2013 hat er das Zentrum fĂŒr GebĂ€rdensprache und Hörbehindertenkommunikation an der Alpen-Adria-UniversitĂ€t geleitet. Andrea Lackner ist freiberufliche Wissenschafterin und hatte die Projektkoordination sowie die Leitung der linguistischen Forschungsarbeit des FWF-Projekts inne.


Projektwebsite: http://signnonmanuals.aau.at/ Publikationen und BeitrÀge

Dotter, Franz & Kellett Bidoli, Cynthia J.: "The Historical Relationship between Triestine and Austrian Sign Language." In: Sign Language Studies, Gallaudet University Press 2017 (in Druck)
Dotter, Franz & Pabsch, Annika: "UN Declaration on the rights of persons belonging to national or ethnic, religious and linguistic minorities." In: Gertz, Genie & Boudreault, Patrick: The SAGE  Deaf Studies encyclopedia. Los Angeles etc.: SAGE 2016, Vol. 3, 991-995
Dotter, Franz:  "GebĂ€rdensprachen und Sprachtypologie oder Warum wir charakteristische Elemente gebĂ€rdensprachlicher Texte nicht 'gestisch-nicht sprachlich' nennen sollten." (Teil 1 und 2). In: Das Zeichen 30 (2016), 302-315 und 444-457 (pdf)
Dotter, Franz:  "What language development in deaf and hard of hearing children should look like." In: DomagaƂa-Zysk (ed.): English as a foreign language for deaf and hard of hearing persons in Europe. Lublin: Wydawnictwo KUL 2013, 27-44 (pdf)